Der Gemsen-Jäger und die Sennerin

[231] Nimm mich verirrten Jäger,

Du gute Sennerin, auf;

Es lockte mich über die Gletscher

Die Gemse mit flüchtigem Lauf.


Bin fremd auf dieser Alpe,

Verlassen für und für;

In rauher Nacht verschließe

Nicht hart mir deine Tür. –


Muß, Jäger, wohl sie verschließen,

Ich bin ja ganz allein,

Gar eng ist meine Hütte,

Für dich kein Lager darein. –


Nur Schutz an deinem Herde,

Ein Lager begehr ich nicht;[231]

Ich scheide, sobald die Gletscher

Sich färben mit rötlichem Licht. –


Und wenn ich ein dich ließe...,

O Jäger, laß mich in Ruh,

Nachrede gäb's und Geschichten;

Was sagte der Hirt dazu? –


Der Hirt soll mich nicht hören,

Das, Gute, versprech ich dir:

Ich halte mich friedlich und stille,

Befürchte doch nichts von mir. –


Und willst du dich halten, o Jäger,

Ein stiller und friedlicher Gast,

So werd ich herein dich lassen;

Die Nacht ist zu grausig doch fast.


Sie öffnete leise die Türe

Und ließ den Jäger herein;

Es loderte gastlich vom Herde

Die Flamme mit freundlichem Schein.


Und bei dem Scheine sahen

Die beiden sich staunend an –

Die Nacht ist ihnen vergangen,

Der Morgen zu dämmern begann.


Wie ließ ich dich ein, o Jäger,

Ich weiß nicht, wie es kam;

Nun rötet der Morgen die Gletscher

Und meine Wangen die Scham.


O lieber, lieber Jäger,

So schnell vergangen die Nacht!

Auf, auf! du mußt nun scheiden,

Bevor der Hirt noch erwacht.


Und muß für heut ich scheiden,

So bleibe, du Gute, mir hold;[232]

Hast keinen Grund zu weinen,

Nimm diesen Ring von Gold.


Ein Haus, das mir gehöret,

Dort drüben im anderen Tal,

Mein Stutzer, auf Gletscher und Felsen

Die flüchtigen Gemsen zumal:


Ich kann dich ehrlich ernähren,

Du liebe Sennerin mein;

Und steiget zu Tal der Winter,

Soll unsere Hochzeit sein.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 231-233.
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