Erstes Kapitel
Das Glashaus des Professors Ignaz Helms. Der junge Student Eugenius. Gretchen und die alte Professorin. Kampf und Entschluß.

[551] In dem Glashause des Professors Ignaz Helms stand der junge Student Eugenius und betrachtete die schönen hochroten Blüten, die die königliche Amaryllis (Amaryllis reginae) eben zur Morgenzeit entfaltet.

Es war der erste milde Februarstag. Hell und freundlich leuchtete das reine Azur des wolkenlosen Himmels, strahlte die Sonne hinein durch die hohen Glasfenster. Die Blumen, die noch in grüner Wiege schlummerten, rührten sich wie im ahnenden Traum und trieben die saftigen Blätter empor, aber der Jasmin, die Reseda, die immerblühende Rose, der Schneeball, das Veilchen erfüllten, ins neue blühende Leben erwacht, das Haus mit den süßesten, lieblichsten Düften, und hin und wieder flatterten schon Vögelein, die sich schüchtern hervorgewagt, aus dem warmen Nest, hinan und pickten an die Scheiben, als wollten sie sehnsüchtig den schönen bunten Frühling herauslocken, der in dem Hause verschlossen.

»Armer Helms,« sprach Eugenius mit tiefer Wehmut, »armer alter Helms, alle diese Pracht, alle diese Herrlichkeit schaust du nicht mehr! – Deine Augen schlossen sich für immer, du ruhst in kalter Erde! – Doch nein, nein! ich weiß es ja, du bist unter all deinen lieben Kindern, die du so treulich hegtest und pflegtest, und keines, dessen frühen Tod du beklagtest, ist gestorben, und nun[551] erst verstehest du ganz ihr Leben und ihre Liebe, die du nur zu ahnen vermochtest.« –

In dem Augenblick klapperte und hantierte das kleine Gretchen mit der Gießkanne gar sehr unter den Blumen und Pflanzen umher. –

»Gretchen, Gretchen!« rief Eugenius, »was machst du denn? ich glaube beinahe, du begießest schon wieder die Pflanzen ganz und gar zu unrechter Zeit und verdirbst, was ich sorglich gepflegt.« – Dem armen Gretchen wäre beinahe die gefüllte Gießkanne aus den Händen gefallen.

»Ach, lieber Herr Eugenius,« sprach sie, indem ihr die hellen Tränen in die Augen traten, »schelten Sie doch nur nicht, sein Sie doch nur nicht böse. Sie wissen ja, ich bin ein dummes, einfältiges Ding, ich denke immer, die armen Stauden und Sträucher, die hier im Hause kein Tau, kein Regen erquickt, schauten mich verschmachtend an, und ich müsse ihnen Speis' und Trank reichen.« – »Naschwerk,« fiel ihr Eugenius in die Rede, »Naschwerk, Gretchen, verderbliches Naschwerk ist ihnen das jetzt, woran sie erkranken und sterben. Überhaupt, du meinst es gut mit den Blumen, ich weiß es, aber es fehlt dir ganz an botanischer Kenntnis, und du gibst dir, meines sorgsamen Unterrichts unerachtet, gar keine Mühe mit dieser Wissenschaft, die doch jedem Frauenzimmer wohl ansteht, ja unentbehrlich ist, denn sonst weiß ein Mädchen ja nicht einmal, zu welcher Klasse und Ordnung die schön duftende Rose gehört, mit der es sich schmückt, und das ist doch sehr schlimm. Sag' einmal, Gretchen, was sind das für Pflanzen dort in jenen Töpfen, die nun bald blühen werden?« »Ja!« rief Gretchen freudig, »das sind ja meine lieben Schneeglöckchen!« »Siehst du,« sprach Eugenius weiter, »siehst du nun wohl, Gretchen, daß du nicht einmal deine Lieblingsblumen richtig zu benennen weißt! Galanthus nivalis mußt du sagen.« –

»Galanthus nivalis,« sprach Gretchen leise nach, wie in scheuer Ehrfurcht. – »Ach, lieber Herr Eugenius!«[552] rief sie dann aber, »das klingt sehr schön und vornehm, aber es ist mir so, als wenn das gar nicht mein liebes Schneeglöckchen sein könne. Sie wissen ja, wie ich sonst, da ich noch ein Kind« – »Bist du es nicht mehr, Gretchen?« fiel ihr Eugenius in die Rede. »Ei nun,« erwiderte Gretchen, bis unter die Augen errötend, »wenn man in das vierzehnte Jahr getreten, rechnet man sich doch wohl nicht mehr zu den Kindern.« – »Und doch,« sprach Eugenius lächelnd, »und doch ist es nicht so lange her, daß die große neue Puppe –«

Schnell wandte sich Gretchen ab, sprang auf die Seite und machte sich mit den Töpfen zu schaffen, die dort auf dem Fußboden standen, sich zu ihnen niederkauernd. –

»Sei nicht böse, Gretchen,« fuhr Eugenius sanft fort; »bleibe immer das gute, fromme liebe Kind, das Vater Helms der bösen Verwandtin entriß und dann samt seiner edlen Frau so hielt, als wär's die eigne Tochter. – Doch du wolltest mir etwas erzählen!«

»Ach,« erwiderte Gretchen kleinlaut, »ach, lieber Herr Eugenius, das ist wohl wieder albernes Zeug, was mir in den Kopf gekommen, aber da Sie es wünschen, will ich nur alles ganz ehrlich gestehen. Wie Sie meine Alpenglöckchen so vornehm nannten, da fiel mir Fräulein Röschen ein. Ich und sie, nun, Sie wissen es ja, Herr Eugenius, wir waren sonst ein Herz und eine Seele und spielten, als wir – noch Kinder, gar zu gerne miteinander. Aber eines Tages, es mag wohl jetzt ein Jahr her sein – war Röschen so ernst, so sonderbar gegen mich in ihrem ganzen Betragen und sagte, ich sollte sie nicht mehr Röschen nennen, sondern Fräulein Rosalinda. – Ich tat das, aber seit dem Augenblicke wurde sie mir immer fremder und fremder – ich hatte mein liebes Röschen verloren. So, denk' ich, wird es mir auch mit meinen lieben Blumen gehen, wenn ich sie plötzlich mit fremden stolzen Namen anreden sollte.«

»Hm,« sprach Eugenius, »es ist zuweilen etwas in deinen[553] Worten, Gretchen, was ganz seltsam und sonderbar klingt. Man weiß ganz genau, was du sagen willst, und versteht doch eigentlich nicht, was du gesprochen. Aber das tut der herrlichen botanischen Wissenschaft nicht den mindesten Abbruch, und wenn auch dein Röschen jetzt Fräulein Rosalinda geworden, darfst du doch dich wohl um die Namen deiner Lieblinge, wie sie in der vornehmen, studierten Welt genannt werden, ein wenig bekümmern. – Nütze meinen Unterricht! – Für jetzt, mein gutes, liebes Mädchen, sieh aber nach den Hyazinthen. Schiebe den Og roi de Buzan und die Gloria solis mehr ins Sonnenlicht. Aus der Péruque quarrée scheint nicht viel werden zu wollen. Der Emilius Graf Bühren, der im Dezember so stolz blühte, ist schon zur Ruhe gegangen, der hält's nicht lange aus; aber der Pastor fido läßt sich hübsch an. Den Hugo Grotius, den magst du tapfer begießen, der muß noch tüchtig ins Wachstum.« –

Indem Gretchen, die aufs neue hoch errötet, als Eugenius sie sein gutes, liebes Mädchen nannte, ganz Freude und Lust, zu tun begann, was ihr geheißen, trat die Professorin Helms in das Glashaus. Eugenius machte sie darauf aufmerksam, wie herrlich schon der Frühlingsflor beginne, und rühmte vorzüglich die blühende Amaryllis reginae, die der selige Herr Professor beinahe noch höher geschätzt als die Amaryllis formosissima, weshalb er sie dann auch ganz besonders hege und pflege, seinem teuern Lehrer und Freunde zum steten Andenken.

»Sie haben,« sprach die Professorin gerührt, »Sie haben ein herzlich gutes kindliches Gemüt, lieber Herr Eugenius, und keinen von allen seinen Schülern, die denn so nach und nach ins Haus gekommen sind, hat mein verstorbener Mann so geschätzt, so väterlich geliebt als Sie. Aber keiner hat meinen Helms auch so verstanden, keiner ist seinem Innersten so verwandt gewesen, keiner so in das recht Wahre und Eigentümliche seiner Wissenschaft eingedrungen als Sie. ›Der junge Eugenius‹, pflegte er oft[554] zu sagen, ›ist ein treuer, frommer Jüngling, deshalb lieben ihn die Gewächse, Pflanzen, Bäume und gedeihen fröhlich unter seiner Pflege. Ein feindliches, störrisches, ruchloses Gemüt, das ist der Satan, der das Unkraut säet, welches wild aufwuchert und vor dessen giftigem Hauch die Gotteskinder absterben.‹ – Gotteskinder nannte er ja seine Blumen.«

Dem Eugenius standen die Tränen in den Augen. »Ja, liebe hochverehrte Frau Professorin,« sprach er, »diese fromme Liebe will ich treu bewahren, und fortblühen in herrlichem Gedeihen soll dieser schöne Tempel meines Lehrers, meines Vaters, solange noch ein Hauch des Lebens in mir ist. – Wenn Sie es erlauben, Frau Professorin, so will ich jetzt, wie es der Herr Professor zu tun pflegte, hier das kleine Stübchen neben dem Glashause beziehen, dann hab' ich alles besser im Auge.« –

»Eben,« erwiderte die Professorin, »eben fiel es mir recht schwer aufs Herz, daß nun es wohl bald mit der Herrlichkeit dieser Blumenpracht ein Ende haben wird. Ich verstehe mich wohl auch recht gut auf die Pflege der Gewächse und Pflanzen und bin, wie Sie wissen, in der Wissenschaft meines Mannes nicht unerfahren. Aber du lieber Gott, eine alte Frau wie ich, mag die so rührig sein, alles in Obhut zu halten wie ein junger rüstiger Mensch, fehlt es ihr auch gar nicht an Liebe dafür? – Und da wir uns nun trennen müssen, lieber Herr Eugenius –«

»Wie!« rief Eugenius voller Schreck, »wie, Sie wollen mich verstoßen, Frau Professorin?« –

»Geh,« sprach die Professorin zu Gretchen, »geh, liebes Gretchen, ins Haus und hole mir einmal das große Umschlagetuch, es ist doch noch recht kühl.«

Als Gretchen fort war, begann die Professorin sehr ernst: »Wohl Ihnen, lieber Herr Eugenius, daß Sie ein viel zu unbefangener, weltunerfahrner, ein viel zu edler Jüngling sind, um vielleicht das einmal ganz zu verstehen, was ich Ihnen jetzt zu sagen genötigt bin. Ich trete nun[555] bald in mein sechzigstes Jahr, Sie haben kaum das vierundzwanzigste erreicht, ich könnte füglich Ihre Großmutter sein, und ich meine, daß dies Verhältnis unser Beisammensein heiligen müsse. Aber der giftige Pfeil boshafter Verleumdung schont auch nicht die Matrone, deren Leben vorwurfsfrei war, und es dürfte nicht an arglistigen Menschen fehlen, die, so lächerlich es auch klingen möchte, Ihren Aufenthalt in meinem Hause der bösen Nachrede, hämischer Neckerei bloßstellen würden. Mehr noch als mich selbst würde Sie die Bosheit treffen, darum ist es nötig, lieber Eugenius, daß Sie mein Haus verlassen. Übrigens werde ich Sie in Ihrer Laufbahn unterstützen wie meinen Sohn und würde dies auch getan haben, hätte mein Helms mir auch dazu nicht ausdrücklich die Verpflichtung auferlegt. – Sie und Gretchen, das sind und bleiben meine Kinder.«

Eugenius stand da ganz stumm und starr. Er konnte in der Tat nicht begreifen, wie sein fernerer Aufenthalt bei der Professorin irgend etwas Anstößiges haben, wie dies Stoff zur übeln Nachrede geben könne. Aber der bestimmte Wille der Professorin, daß er das Haus, das ihm für den Kreis seines ganzen Lebens galt, in dem alle seine Freuden wohnten, verlassen, der Gedanke, daß er nun von seinen Lieblingen, die er gehegt und gepflegt, scheiden solle, faßte ihn mit aller Macht und Stärke.

Eugenius gehörte zu den einfachen Menschen, denen ein kleiner Kreis, in dem sie sich froh und frei bewegen, vollkommen genügt, die in der Wissenschaft oder der Kunst, welche das Eigentum ihres Geistes worden, den schönsten und einzigen Zweck ihres Treibens und Strebens suchen und finden; denen das kleine Reich, worin sie heimatlich sind, die fruchtbare Oasis in der großen, unwirtbaren, freudenleeren Wüste scheint, für die sie das übrige Leben halten, das ihnen eben deshalb fremd bleibt, weil sie sich nicht ohne Gefahr hinauswagen zu können glauben. Man weiß, daß dergleichen Menschen eben ihrer[556] Gesinnung halber in gewisser Art immerdar Kinder bleiben, daß sie ungeschickt, linkisch, ja in dem steifen Gewande einer gewissen kleinlichen Pedanterie, in das ihre Wissenschaft sie einhüllt, engherzig und seelenlos sich darstellen. Es fehlt dann nicht an mancher Verspottung, die der Unverstand, des leichten Sieges gewiß, sich erlaubt. Aber in dem Innersten eben solcher Menschen brennt oft die heilige Naphthaflamme höherer Erkenntnis. Fremd geblieben dem wirren Treiben des bunten Weltlebens, ist das Werk, dem sie sich einzig ergeben mit aller Liebe und Treue, der Mittler zwischen ihnen und der ewigen Macht alles Seins, und ihr stilles, harmloses Leben ein steter Gottesdienst im ewigen Tempel des Weltgeistes. – So war Eugenius! –

Als Eugenius sich von seiner Bestürzung erholt und zu Worten kommen konnte, versicherte er mit einer Heftigkeit, die ihm sonst gar nicht eigen, daß, wenn er das Haus der Professorin verlassen müsse, er seine Laufbahn hienieden für geendet ansehe; denn nimmermehr werde er, ausgestoßen aus seiner Heimat, zur Ruhe und Zufriedenheit gelangen können. Er beschwor die Professorin in den rührendsten Ausdrücken, den, den sie doch als ihren Sohn angenommen, doch nicht fortzujagen in die trostlose Einöde, denn dafür müsse er jeden andern Ort halten, welcher er auch sei.

Die Professorin schien mit Mühe nach einem Entschluß zu ringen.

»Eugenius,« sprach sie endlich, »es gibt ein Mittel, Sie mir im Hause, in denselben Verhältnissen, wie sie bis jetzt bestanden, zu erhalten. – Werden Sie mein Mann!« –

»Es ist,« fuhr sie fort, als Eugenius sie verwundert anblickte, »es ist gar nicht möglich, daß ein Gemüt wie das Ihrige auch nur das mindeste Mißverständnis hegen kann, deshalb nehme ich auch gar keinen Anstand, Ihnen zu gestehen, daß der Vorschlag, den ich Ihnen soeben machte, keineswegs ein augenblicklicher Einfall, sondern das Erzeugnis[557] reiflicher Überlegung ist. – Sie sind mit den Verhältnissen des Lebens unbekannt und werden sich nicht sobald, vielleicht nie darin zu schicken lernen. Sie brauchen selbst in dem engsten Kreise des Lebens jemanden, der Ihnen die Bürde des alltäglichen Bedürfnisses abnimmt, der für Sie bis in das kleinste hinein sorgt, damit Sie frei in voller Gemütlichkeit ganz sich selbst und der Wissenschaft leben können. Das aber vermag niemand besser als eine zärtliche, liebende Mutter, und die will ich sein und bleiben im strengsten Sinn des Worts, heiße ich auch vor der Welt Ihre Frau! – Gewiß ist Ihnen noch nie der Gedanke an Heirat und Ehe in den Sinn gekommen, lieber Eugenius, Sie dürfen auch eben nicht weiter darüber nachdenken, da, hat der Segen des Priesters uns auch verbunden, in keiner Hinsicht sich in unserm Beisammensein etwas ändern wird, es sei denn, daß jener Segen mich an heiliger Stätte erst in aller Frömmigkeit zu Ihrer Mutter weiht, wie Sie zu meinem Sohn. Mit desto größerer Ruhe durfte ich Ihnen, lieber Eugenius, den Vorschlag, der manchem Weltling gar seltsam und sonderbar bedünken möchte, wohl machen, da ich überzeugt bin, daß, gehen Sie ihn ein, nichts dadurch zerstört wird. Alles das, was weltliche Verhältnisse verlangen, um eine Frau glücklich zu machen, wird und muß Ihnen fremd bleiben, ja der Zwang des Lebens, der Druck, die Unbehaglichkeit so vieler Anforderungen, mit denen Sie gequält werden würden, dürfte gar leicht jede etwanige Täuschung vernichten und Ihnen desto lebhafter allen Harm, alle Not der unbequemen Wirklichkeit fühlen lassen. Deshalb kann und darf die Mutter in die Stelle der Frau treten.«

Gretchen kam hinein mit dem Umschlagetuch, das sie der Professorin darreichte.

»Ich will,« sprach die Professorin, »ich will durchaus keinen raschen Entschluß, lieber Freund! – entscheiden Sie sich erst dann, wenn Sie sich alles recht reiflich überlegt.[558] – Für heute kein Wort, es ist eine gute alte Regel, daß man jede Sache, ehe man sich entschließt, beschlafen müsse.«

Damit verließ die Professorin das Glashaus und nahm Gretchen mit sich fort.

Die Professorin hatte ganz recht, noch niemals war dem Eugenius etwas von Heirat und Ehe in den Sinn gekommen, und eben nur deshalb hatte ihn der Antrag der Professorin bestürzt gemacht, weil plötzlich ein ganz neues Bild des Lebens ihm vor Augen zu stehen schien. Als er die Sache nun aber recht überlegte, so fand er nichts Herrlicheres, Wohltuenderes, als daß die Kirche einen Bund segne, der ihm eine gute Mutter und die heiligen Rechte des Sohnes erworben.

Gern hätte er der alten Frau sogleich seinen Entschluß kundgetan; da sie ihm aber bis zum andern Morgen zu schweigen geboten, so mußte er wohl an sich halten, unerachtet sein Blick, sein ganzes Wesen, das ganz stilles frommes Entzücken war, der Alten verraten mochte, was in seinem Innern vorging.

Als er nun sich aber anschickte, dem Rat der Professorin gemäß die Sache zu beschlafen, gerade in dem Delirieren des Einschlummerns ging ihm ein heller Schimmer, ein Traumbild auf, dessen Gestalten aus seinem Andenken sonst ganz entschwunden geschienen. Zu der Zeit, da er als Amanuensis des Professors Helms die Wohnung bei ihm genommen, kam öfters eine junge Großnichte ins Haus – ein ganz hübsches, artiges Mädchen – die aber seine Aufmerksamkeit so wenig erregte, daß er, als sie einige Zeit weggeblieben und es bald darauf hieß, sie werde zurückkommen und einen jungen Doktor am Orte heiraten, sich gar nicht mehr auf sie besinnen konnte. Als sie nun wirklich zurückkam und ihre Hochzeit mit dem jungen Doktor gefeiert werden sollte, war der alte Helms krank und konnte das Zimmer nicht verlassen. Da sprach aber das fromme Kind, daß es gleich nach der Trauung[559] mit dem Bräutigam ins Haus kommen und von dem ehrwürdigen Paar den Glück und Heil bringenden Segen erflehen wolle. – Nun geschah es, daß Eugenius gerade in dem Augenblick in das Zimmer trat, als das Brautpaar vor den Alten kniete.

Gar nicht jenes Mädchen, jene Großnichte, die er sonst so oft im Hause gesehen, ein ganz anderes, höheres Wesen schien ihm die engelsschöne Braut. Sie war in weißen Atlas gekleidet. Eng umspannte das reiche Gewand den schlanken Leib und floß dann herab in breiten Falten. Durch kostbare Spitzen schimmerte der blendende Busen, das kastanienbraune, zierlich aufgeflochtene Haar schmückte reizend der bedeutsame Myrtenkranz. Eine süße fromme Begeisterung strahlte auf dem Antlitz der Holden, alle Anmut des Himmels schien über sie hingegossen. Der alte Helms schloß die Braut in seine Arme, dann tat die Professorin ein Gleiches und führte sie dem Bräutigam zu, der mit der Inbrunst des höchsten Entzückens das Engelskind stürmisch an seine Brust drückte.

Eugenius, den niemand bemerkte, um den sich niemand kümmerte, wußte nicht, wie ihm geschah. Eiskalt und dann glühendheiß fuhr es ihm durch alle Glieder, ein unnennbares Weh durchschnitt seine Brust, und doch dünkte ihm, es sei ihm nie wohler gewesen. – »Wie, wenn nun die Braut sich dir nahte, wenn du sie auch an deine Brust drücktest?« – Dieser Gedanke, der ihn plötzlich traf wie ein elektrischer Schlag, schien ihm ein ungeheurer Frevel, aber die namenlose Angst, die ihn erdrücken wollte, war ja selbst die glühendste Sehnsucht, das dürstendste Verlangen, es möge sich das begeben, was sein ganzes Ich auflösen mußte in vernichtender Schmerzeslust.

Jetzt bemerkte ihn der Professor und sprach ihn an: »Nun, Herr Eugenius, da haben wir unser junges glückliches Ehepaar – Sie mögen auch immer der Frau Doktorin Glück wünschen, das ist wohl ziemlich.« – Eugenius[560] war keines Wortes mächtig, doch die holde Braut nahte sich, reichte ihm mit der anmutigsten Freundlichkeit die Hand, die Eugenius, ohne zu wissen, was er tat, an die Lippen drückte. Aber nun schwanden ihm auch die Sinne, er hielt sich mit Mühe aufrecht, er vernahm nichts davon, was die Braut zu ihm sprach, er fand sich erst wieder, als das junge Paar längst das Zimmer verlassen und der Professor Helms ihn ein wenig ausschalt wegen seiner unbegreiflichen Schüchternheit, in der er verstumme und wie ein lebloses Wesen erscheine ohne Teilnahme, ohne Empfindung. – Seltsam genug war es wohl, daß, nachdem Eugenius ein paar Tage durch und durch erschüttert, wie im Traum umhergegangen, die ganze Begebenheit in seinem Innern zerfloß zum wirren Traum. –

Die Gestalt der holden engelsschönen Braut, wie er sie damals in dem Zimmer des Professors Helms geschaut, war es nun, die ihm plötzlich in regem, glühendem Leben vor Augen stand, und alles namenlose Weh jenes Augenblicks preßte aufs neue seine Brust zusammen. Aber es schien ihm, als sei er selbst der Bräutigam, und die Schönste breite die Arme aus, daß er sie umfange und an seine Brust drücke. Und da er im Übermaß des höchsten Entzückens auf sie losstürzen wolle, fühle er sich festgekettet, und eine Stimme riefe ihm zu: »Tor, was willst du beginnen, du gehörst nicht mehr dir selbst an, du hast deine Jugend verkauft, kein Frühling der Liebe und Lust blüht dir mehr auf, denn in den Armen des eisigen Winters bist du erstarrt zum Greise.« – Mit einem Schrei des Entsetzens erwachte er aus dem Traum, aber noch war es ihm, als sähe er die Braut, und hinter ihm stehe die Professorin und bemühe sich mit eiskalten Fingern ihm die Augen zuzudrücken, damit er die geschmückte schöne Braut nicht schauen möge. – »Hinweg,« rief er, »hinweg, noch ist meine Jugend nicht verkauft, noch bin ich nicht erstarrt in den Armen des eisigen Winters!« –

Mit der glühendsten Sehnsucht flammte ein tiefer Abscheu[561] auf gegen die Verbindung mit der alten sechzigjährigen Professorsfrau. –

Eugenius mochte wohl am andern Morgen etwas verstört aussehen; die Professorin erkundigte sich sogleich nach seinem Befinden, bereitete ihm selbst, da er über Kopfweh und Mattigkeit klagte, einen stärkenden Trank und pflegte und hätschelte ihn wie ein verzärteltes krankes Kind.

»Und,« sprach Eugenius zu sich selbst, »und all diese mütterliche Liebe und Treue sollte ich lohnen mit dem schwärzesten Undank, in wahnsinniger Betörtheit mich losreißen von ihr, von allen meinen Freuden, von meinem Leben? Und das eines Traumbilds halber, das nie für mich aufleben kann, das, vielleicht Verlockung des Satans, mich von schnöder Sinneslust Verblendeten stürzen sollte ins Verderben? – Gibt es da noch zu denken, zu überlegen? Fest, unwandelbar fest steht mein Entschluß!« –

Noch an demselben Abend wurde die alte, beinahe sechzigjährige Professorin die Braut des jungen Herrn Eugenius, der zur Zeit noch zu den Studenten zu rechnen.

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 551-562.
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