Erste Szene

[597] In einem Schiffe auf der See. Ein Ungewitter mit Donner und Blitz.


Ein Schiffspatron und ein Bootsmann.


SCHIFFSPATRON. Bootsmann –

BOOTSMANN. Hier, Patron! Was gibt's?

SCHIFFSPATRON. Gut! Sprecht mit den Matrosen! Greift frisch an, oder wir treiben auf den Strand. Rührt euch! rührt euch! Ab.

Matrosen kommen.


BOOTSMANN. Heisa, Kinder! Lustig, lustig, Kinder! Frisch daran! Zieht das Bramsegel ein! Paßt auf des Patrons Pfeife! – Ei so blase, daß du bersten möchtest, wenn Platz genug da ist!


Alonso, Sebastian, Antonio, Ferdinand, Gonzalo und andre kommen.


ALONSO. Guter Bootsmann, trage Sorge! Wo ist der Patron? Haltet euch brav!

BOOTSMANN. Ich bitte Euch, bleibt unten!

ANTONIO. Wo ist der Patron, Bootsmann?

BOOTSMANN. Hört Ihr ihn nicht? Ihr seid uns im Wege; bleibt in der Kajüte! Ihr steht dem Sturme bei!

GONZALO. Freund, seid doch ruhig!

BOOTSMANN. Wenn's die See ist. Fort! Was fragen die Brausewinde nach dem Namen König? In die Kajüte! Still! Stört uns nicht!

GONZALO. Gut, aber bedenk', wen du am Bord hast!

BOOTSMANN. Niemand, den ich lieber habe als mich selbst. Ihr seid Rat; könnt Ihr diesen Elementen Stillschweigen gebieten und auf der Stelle Frieden stiften, so wollen wir kein[597] Tau mehr anrühren: gebraucht nur Euer Ansehen! Wo nicht, so dankt Gott, daß Ihr so lange gelebt habt, und bereitet Euch in der Kajüte auf Euer Stündlein, wenn es schlagen sollte. – Lustig, liebe Kinder! – Aus dem Wege, sag' ich! Ab.

GONZALO. Der Kerl gereicht mir zu großem Trost; mir deucht, er sieht nicht nach dem Ersaufen aus: er hat ein echtes Galgengesicht. Gutes Schicksal, bestehe drauf, ihn zu hängen! Mach' den Strick seines Verhängnisses zu unserm Ankertau, denn unsres hilft nicht viel. Wenn er nicht zum Hängen geboren ist, so steht es kläglich mit uns.


Alle ab.


Der Bootsmann kommt wieder.


BOOTSMANN. Herunter mit der Bramstange! Frisch! Tiefer! Tiefer! Versucht mit dem Schönfahrsegel zu treiben!


Ein Geschrei drinnen.


Hol' der Henker das Heulen! Sie überschreien das Ungewitter und unsre Verrichtungen. –


Sebastian, Antonio und Gonzalo kommen zurück.


Doch wieder da? Was wollt ihr hier? Sollen wir's aufgeben und ersaufen? Habt ihr Lust, zu sinken?

SEBASTIAN. Die Pest fahr' Euch in den Hals, bellender, gotteslästerlicher ‹,unchristlicher› Hund, der Ihr seid!

BOOTSMANN. Arbeitet Ihr denn!

ANTONIO. An den Galgen, du Hund! Du hundsföttischer, unverschämter Lärmer, wir fürchten uns weniger zu ersaufen als du.

GONZALO. Ich stehe ihm fürs Ersaufen, wenn das Schiff auch so dünne wie eine Nußschale wäre und so leck wie eine lockre Dirne.

BOOTSMANN. Legt das Schiff hart an den Wind! Setzt zwei Segel auf! Wieder in See! Legt ein!


Matrosen mit durchnäßten Kleidern kommen.


MATROSEN.

Wir sind verloren! Betet! sind verloren!

BOOTSMANN.

Was? Müssen wir ins kalte Bad?[598]

GONZALO.

Der Prinz und König beten: tun wir's auch;

Wir sind in gleichem Fall.

SEBASTIAN.

Ich bin ganz wütend.

ANTONIO.

So prellen Säufer uns um unser Leben.

Der weitgemaulte Schurk'! – Lägst du ersaufend,

Zehn Fluten lang durchweicht!

GONZALO.

Er wird doch hängen,

Schwür' jeder Tropfe Wassers auch dawider

Und gähnt', ihn zu verschlingen!


Ein verworrner Lärm im Schiffsraum; »Gott sei uns gnädig! – Wir scheitern! wir scheitern! – Lebt wohl, Weib und Kinder! – Leb wohl, Bruder! – Wir scheitern! wir scheitern! wir scheitern!«


ANTONIO. So laßt uns alle mit dem König sinken! Ab.

SEBASTIAN. Laßt uns Abschied von ihm nehmen! Ab.

GONZALO. Jetzt gäb' ich tausend Hufen See für einen Morgen dürren Landes: hohe Heide, braune Geniste, was es auch wäre. Der Wille droben geschehe, aber ich stürbe gern eines trocknen Todes! Ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 597-599.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sturm
Der Sturm
The Tempest/ Der Sturm [Zweisprachig]
Cymbeline. Das Wintermärchen. Der Sturm.
Der Sturm
Der Sturm: Zweisprachige Ausgabe

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon