XI. Enzyklopädische Introduktion der Kritik der Urteilskraft in das System der Kritik der reinen Vernunft

[56] Alle Einleitung eines Vortrages ist entweder die in eine vorhabende Lehre oder der Lehre selbst in ein System, wohin sie als ein Teil gehört. Die erstere geht vor der Lehre vorher, die letztere sollte billig nur den Schluß derselben ausmachen, um ihr ihre Stelle in dem Inbegriffe der Lehren, mit welchen sie durch gemeinschaftliche Prinzipien zusammenhängt, nach Grundsätzen anzuweisen. Jene ist eine propädeutische, diese kann eine enzyklopädische Introduktion heißen.[56]

Die propädeutischen Einleitungen sind die gewöhnlichen, als welche zu einer vorzutragenden Lehre vorbereiten, indem sie die dazu nötige Vorerkenntnis aus andern schon vorhandenen Lehren oder Wissenschaften anführen, um den Übergang möglich zu machen. Wenn man sie darauf richtet, um die der neu auftretenden Lehre eigene Prinzipien (domestica), von denen, welche einer andern angehören (peregrinis), sorgfältig zu unterscheiden, so dienen sie zur Grenzbestimmung der Wissenschaften, einer Vorsicht, die nie zu viel empfohlen werden kann, weil ohne sie keine Gründlichkeit, vornehmlich im philosophischen Erkenntnisse zu hoffen ist.

Eine enzyklopädische Einleitung aber setzt nicht etwa eine verwandte und zu der sich neu ankündigenden vorbereitende Lehre, sondern die Idee eines Systems voraus, welches durch jene allererst vollständig wird. Da nun ein solches nicht durch Aufraffen und Zusammenlesen des Mannigfaltigen, welches man auf dem Wege der Nachforschung gefunden hat, sondern nur alsdann, wenn man die subjektiven oder objektiven Quellen einer gewissen Art von Erkenntnissen vollständig anzugeben im Stande ist, durch den formalen Begriff eines Ganzen, der zugleich das Prinzip einer vollständigen Einteilung a priori in sich enthält, möglich ist, so kann man leicht begreifen, woher enzyklopädische Einleitungen, so nützlich sie auch wären, doch so wenig gewöhnlich sind.

Da dasjenige Vermögen, wovon hier das eigentümliche Prinzip aufgesucht und erörtert werden soll (die Urteilskraft), von so besonderer Art ist, daß es für sich gar kein Erkenntnis (weder theoretisches noch praktisches) hervorbringt und, unerachtet ihres Prinzips a priori dennoch keinen Teil zur Transzendentalphilosophie, als objektiver Lehre, liefert, sondern nur den Verband zweier anderer obern Erkenntnisvermögen (des Verstandes und der Vernunft ausmacht): so kann es mir erlaubt sein, in der Bestimmung der Prinzipien eines solchen Vermögens, das keiner Doktrin, sondern bloß einer Kritik fähig ist, von der sonst überall notwendigen[57] Ordnung abzugehen und eine kurze enzyklopädische Introduktion derselben und zwar nicht in das System der Wissenschaften der reinen Vernunft, sondern bloß in die Kritik aller a priori bestimmbaren Vermögen des Gemüts, so fern sie unter sich ein System im Gemüte ausmachen, voranzuschicken und auf solche Art die propädeutische Einleitung mit der enzyklopädischen zu vereinigen.

Die Introduktion der Urteilskraft in das System der reinen Erkenntnisvermögen durch Begriffe beruhet gänzlich auf ihrem transzendentalen ihr eigentümlichen Prinzip: daß die Natur der Spezifikation der transzendentalen Verstandesgesetze (Prinzipien ihrer Möglichkeit als Natur überhaupt), d.i. in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze der Idee eines Systems der Einteilung derselben zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung als empirischen Systems verfahre. – Dieses gibt zuerst den Begriff einer objektiv zufälligen, subjektiv aber (für unser Erkenntnisvermögen) notwendigen Gesetzmäßigkeit, d.i. einer Zweckmäßigkeit der Natur, und zwar a priori, an die Hand. Ob nun zwar dieses Prinzip nichts in Ansehung der besondern Naturformen bestimmt, sondern die Zweckmäßigkeit der letztern jederzeit empirisch gegeben werden muß, so gewinnt doch das Urteil über diese Formen einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, als bloß reflektierendes Urteil, durch die Beziehung der subjektiven Zweckmäßigkeit der gegebenen Vorstellung für die Urteilskraft auf jenes Prinzip der Urteilskraft a priori, von der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer empirischen Gesetzmäßigkeit überhaupt, und so wird ein ästhetisches reflektierendes Urteil auf einem Prinzip a priori beruhend angesehen werden können (ob es gleich nicht bestimmend ist) und die Urteilskraft in demselben sich zu einer Stelle in der Kritik der oberen reinen Erkenntnisvermögen berechtigt finden.

Da aber der Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur (als einer technischen Zweckmäßigkeit, die von der praktischen wesentlich unterschieden ist), wenn er nicht bloße Erschleichung dessen, was wir aus ihr machen, für das was sie[58] ist, sein soll, ein vor aller dogmatischen Philosophie (der theoretischen so wohl als praktischen) abgesonderter Begriff ist, der sich lediglich auf jenem Prinzip der Urteilskraft gründet, das vor den empirischen Gesetzen vorhergeht und ihre Zusammenstimmung zur Einheit eines Systems derselben allererst möglich macht, so ist daraus zu ersehen, daß von den zwei Arten des Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft (der ästhetischen und teleologischen) dasjenige Urteil, welches vor allem Begriffe vom Objekte vorhergeht, mithin das ästhetische reflektierende Urteil, ganz allein seinen Bestimmungsgrund der Urteilskraft, unvermengt mit einem andern Erkenntnisvermögen, habe, dagegen das teleologische Urteil den Begriff eines Naturzwecks, ob er gleich in dem Urteile selbst nur als Prinzip der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft gebraucht wird, doch nicht anders als durch Verbindung der Vernunft mit empirischen Begriffen gefället werden kann. Die Möglichkeit eines teleologischen Urteils über die Natur läßt sich daher leicht zeigen, ohne ihm ein besonderes Prinzip der Urteilskraft zum Grunde legen zu dürfen, denn diese folgt bloß dem Prinzip der Vernunft. Dagegen die Möglichkeit eines ästhetischen und doch auf einem Prinzip a priori gegründeten Urteils der bloßen Reflexion, d.i. eines Geschmacksurteils, wenn bewiesen werden kann, daß dieses wirklich zum Anspruche auf Allgemeingültigkeit berechtigt sei, einer Kritik der Urteilskraft als eines Vermögens eigentümlicher transzendentaler Prinzipien (gleich dem Verstande und der Vernunft) durchaus bedarf, und sich dadurch allein qualifiziert, in das System der reinen Erkenntnisvermögen aufgenommen zu werden; wovon der Grund ist, daß das ästhetische Urteil, ohne einen Begriff von seinem Gegenstande vorauszusetzen, dennoch ihm Zweckmäßigkeit und zwar allgemeingültig beilegt, wozu also das Prinzip in der Urteilskraft selbst liegen muß, da hingegen das teleologische Urteil einen Begriff vom Objekte, den die Vernunft unter das Prinzip der Zweckverbindung bringt, voraussetzt, nur daß dieser Begriff eines Naturzwecks von der Urteilskraft bloß im reflektierenden, nicht bestimmenden Urteile gebraucht werde.[59]

Es ist also eigentlich nur der Geschmack und zwar in Ansehung der Gegenstände der Natur, in welchem allein sich die Urteilskraft als ein Vermögen offenbart, welches sein eigentümliches Prinzip hat und dadurch auf eine Stelle in der allgemeinen Kritik der obern Erkenntnisvermögen gegründeten Anspruch macht, den man ihr vielleicht nicht zugetrauet hätte. Ist aber das Vermögen der Urteilskraft, sich a priori Prinzipien zu setzen, einmal gegeben, so ist es auch notwendig, den Umfang desselben zu bestimmen, und zu dieser Vollständigkeit der Kritik wird erfordert, daß ihr ästhetisches Vermögen, mit dem teleologischen zusammen, als in einem Vermögen enthalten und auf demselben Prinzip beruhend, erkannt werde, denn auch das teleologische Urteil über Dinge der Natur gehört, eben so wohl als das ästhetische, der reflektierenden (nicht der bestimmenden) Urteilskraft zu.

Die Geschmackskritik aber, welche sonst nur zur Verbesserung oder Befestigung des Geschmacks selbst gebraucht wird, eröffnet, wenn man sie in transzendentaler Absicht behandelt, dadurch, daß sie eine Lücke im System unserer Erkenntnisvermögen ausfüllt, eine auffallende und wie mich dünkt viel verheißende Aussicht in ein vollständiges System aller Gemütskräfte, so fern sie in ihrer Bestimmung nicht allein aufs Sinnliche, sondern auch aufs Übersinnliche bezogen sind, ohne doch die Grenzsteine zu verrücken, welche eine unnachsichtliche Kritik dem letzteren Gebrauche derselben gelegt hat. Es kann vielleicht dem Leser dazu dienen, um den Zusammenhang der nachfolgenden Untersuchungen desto leichter übersehen zu können, daß ich einen Abriß dieser systematischen Verbindung, der freilich nur, wie die gegenwärtige ganze Nummer, seine Stelle eigentlich beim Schlusse der Abhandlung haben sollte, schon hier entwerfe.

Die Vermögen des Gemüts lassen sich nämlich insgesamt auf folgende drei zurückführen:

Erkenntnisvermögen

Gefühl der Lust und Unlust

Begehrungsvermögen[60] Der Ausübung aller liegt aber doch immer das Erkenntnisvermögen, ob zwar nicht immer Erkenntnis (denn eine zum Erkenntnisvermögen gehörige Vorstellung kann auch Anschauung, reine oder empirische, ohne Begriffe sein), zum Grunde. Also kommen, so fern vom Erkenntnisvermögen nach Prinzipien die Rede ist, folgende obere neben den Gemütskräften überhaupt zu stehen:

Erkenntnisvermögen- – – – – -Verstand

Gefühl der Lust und Unlust- – – -Urteilskraft

Begehrungsvermögen – – – – – Vernunft

Es findet sich, daß Verstand eigentümliche Prinzipien a priori für das Erkenntnisvermögen, Urteilskraft nur für das Gefühl der Lust und Unlust, Vernunft aber bloß fürs Begehrungsvermögen enthalte. Diese formale Prinzipien begründen eine Notwendigkeit, die teils objektiv, teils subjektiv, teils aber auch dadurch, daß sie subjektiv ist, zugleich von objektiver Gültigkeit ist, nach dem sie, durch die neben ihnen stehende obern Vermögen, die diesen korrespondierende Gemütskräfte bestimmen:


Erkenntnisvermögen – – – –

Verstand – – –

Gesetzmäßigkeit


Gefühl der Lust und Unlust – – –

Urteilskraft – – –

Zweckmäßigkeit


Begehrungsvermögen – – –

Vernunft – – –

Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit)


Endlich gesellen sich zu den angeführten Gründen a priori der Möglichkeit der Formen auch diese, als Produkte derselben:


Vermögen des Gemüths

Obere Erkenntnisvermögen

Prinzipien a priori

Produkte


Erkenntnisvermögen –

Verstand –

Gesetzmäßigkeit –

Natur


Gefühl der Lust und Unlust –

Urteilskraft –

Zweckmäßigkeit –

Kunst


Begehrungsvermögen –

Vernunft –

Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetzt ist (Verbindlichkeit) –

Sitten
[61]

Die Natur also gründet ihre Gesetzmäßigkeit auf Prinzipien a priori des Verstandes als eines Erkenntnisvermögens; die Kunst richtet sich in ihrer Zweckmäßigkeit a priori nach der Urteilskraft in Beziehung aufs Gefühl der Lust und Unlust; endlich die Sitten (als Produkt der Freiheit) stehen unter der Idee einer solchen Form der Zweckmäßigkeit, die sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, als einem Bestimmungsgrunde der Vernunft in Ansehung des Begehrungsvermögens. Die Urteile, die auf diese Art aus Prinzipien a priori entspringen, welche jedem Grundvermögen des Gemüts eigentümlich sind, sind theoretische, ästhetische und praktische Urteile.

So entdeckt sich ein System der Gemütskräfte, in ihrem Verhältnisse zur Natur und der Freiheit, deren jede ihre eigentümliche, bestimmende Prinzipien a priori haben und um deswillen die zwei Teile der Philosophie (die theoretische und praktische) als eines doktrinalen Systems ausmachen, und zugleich ein Übergang vermittelst der Urteilskraft, die durch ein eigentümliches Prinzip beide Teile verknüpft, nämlich von dem sinnlichen Substrat der erstern zum intelligibelen der zweiten Philosophie, durch die Kritik eines Vermögens (der Urteilskraft), welches nur zum Verknüpfen dient und daher für sich zwar kein Erkenntnis verschaffen oder zur Doktrin irgend einen Beitrag liefern kann, dessen Urteile aber unter dem Namen der ästhetischen (deren Prinzipien bloß subjektiv sind), indem sie sich von allen, deren Grundsätze objektiv sein müssen (sie mögen nun theoretisch oder praktisch sein), unter dem Namen der logischen unterscheiden, von so besonderer Art sind, daß sie sinnliche Anschauungen auf eine Idee der Natur beziehen, deren Gesetzmäßigkeit ohne ein Verhältnis derselben zu einem übersinnlichen Substrat nicht verstanden werden kann; wovon, in der Abhandlung selbst, der Beweis geführt werden wird.[62]

Wir werden die Kritik dieses Vermögens in Ansehung der ersteren Art Urteile nicht Ästhetik (gleichsam Sinnenlehre), sondern Kritik der ästhetischen Urteilskraft nennen, weil der erstere Ausdruck von zu weitläuftiger Bedeutung ist, indem er auch die Sinnlichkeit der Anschauung, die zum theoretischen Erkenntnis gehört und zu logischen (objektiven) Urteilen den Stoff hergibt, bedeuten könnte, daher wir auch schon den Ausdruck der Ästhetik ausschließungsweise für das Prädikat, was in Erkenntnisurteilen zur Anschauung gehört, bestimmt haben. Eine Urteilskraft aber ästhetisch zu nennen, darum, weil sie die Vorstellung eines Objekts nicht auf Begriffe und das Urteil also nicht aufs Erkenntnis bezieht (gar nicht bestimmend, sondern nur reflektierend ist), das läßt keine Mißdeutung besorgen; denn für die logische Urteilskraft müssen Anschauungen, ob sie gleich sinnlich (ästhetisch) sind, dennoch zuvor zu Begriffen erhoben werden, um zum Erkenntnisse des Objekts zu dienen, welches bei der ästhetischen Urteilskraft nicht der Fall ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 56-63.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon