Vierunddreißigster Gesang

[142] Des Höllenköniges Paniere wehen

Uns schon entgegen, sagte nun mein Meister,

Drum blicke vorwärts, ob du ihn erkennest. –

Wie eine Mühle die vom Wind bewegt wird

Erscheint, wenn dichte Nebel streichen, oder

Die Nacht beginnt auf unsrer Hemisphäre,

Solch' ein Gebäude glaubt' ich zu erblicken;

Dann zog ich hinter meinen Führer, wegen

Des Windes, mich zurück, da sonst nichts schützte.

Schon waren wir, und schaudernd schreib' ich's nieder,

Dort wo die Schatten ganz im Eise staken,

Und drin erschienen, wie der Halm im Glase;[142]

Die einen ausgestrekt, die andren aufrecht,

Die oben mit dem Kopf, die mit den Sohlen,

Gekrümmt das Haupt bis zu den Füßen jene.

Als vorwärts wir so weit gekommen waren,

Daß mir die Kreatur, die einst so schön war,

Zu zeigen, meinem Führer an der Zeit schien,

Trat er zur Seit' und hieß mich stille stehn.

Sieh' sprach er, hier ist Dis, und hier die Stelle,

Wo dir, mit Stärke dich zu waffnen, not tut. –

Nicht frage Leser, wie ich da erstarrte,

Wie alle Kraft mir schwand; ich schreib es nimmer,

Weil ungenügend alles Reden wäre.

Ich starb nicht, und doch blieb ich nicht lebendig;

So denke denn, bist du des Denkens fähig,

Wie, Tod und Leben missend, mir zu Mut war!

Der Kaiser von dem Reich der Schmerzen ragte

Vor aus dem Eise mit der halben Brust,

Und, mehr entsprech' ich der Giganten Größe,

Als die Giganten seinen Armen gleichen.

Erwäge nun, wie groß das Ganze sein muß,

Damit es solcher Glieder Maß entspreche!

Wenn er so schön war, als er häßlich jetzt ist,

Und gegen seinen Schöpfer dennoch aufstand,

Muß alles Leiden freilich von ihm ausgehn.

Welch staunenswertes Wunder schien es mir,

Als drei Gesichter ich an seinem Haupt sah:

Das eine vorn, und das war roter Farbe;

Die andren waren zwei, die sich an dieses

Anfügten, über jeder Schulter Mitte,

Und sich verbanden an des Wirbels Stelle.

Weißgelblich war das zu der rechten Seite,

Das linke glich an Farbe denen, welche

Von daher kamen, wo der Nil zu Tal fließt.

Zwei Flügel ragten unter jedem Antlitz

So groß, wie solchem Vogel sie geziemten;

Nie sah ein Seeschiff ich mit größren Segeln.[143]

Sie waren federlos und ihre Weise

Glich der der Fledermaus; von ihrem Schlagen

Entstand dreifacher Wind nach den drei Seiten,

Von dessen Wehn erstarrte der Cocytus.

Er weinte aus sechs Augen, an drei Kinnen

Troff mit den Tränen blut'ger Geifer nieder.

In jedem Maul zerquetscht' er einen Sünder

Mit seinen Zähnen, ähnlich wie man Flachs bricht,

So daß er drei in solcher Weise quälte.

Für den nach vorne war das Beißen wenig,

Verglichen mit dem Kratzen, so daß öfters

Der ganze Rücken aller Haut beraubt war.

Judas Ischarioth ist jene Seele,

Die schwerste Qual erfährt, das Haupt nach innen,

Die Beine außen zappelnd, sprach mein Meister.

Von den zwei andren, deren Kopf herabhängt,

Ist der dort links im schwarzen Rachen Brutus;

Sieh, wie er sich verdreht und dennoch stumm bleibt.

Der andre, der so kräftig scheint, ist Cassius.

Allein die Nacht kehrt wieder, und zu scheiden

Ist's an der Zeit, da alles wir gesehen. –

Den Hals umschlang ich ihm, wie er geheißen;

Er aber nahm des Ortes und der Zeit wahr

Und, als genug die Flügel sich geöffnet,

Packt' er sich fest an die behaarten Rippen.

Von Zotte stieg er dann zu Zotte zwischen

Dem dichten Haare und der Eiswand nieder.

Als wir zur Stelle kamen, wo der Schenkel

Sich wendet in der Hüfte größter Wölbung,

Da wandt' er, angestrengt und unter Keuchen,

Wie wer emporsteigt tut, an's Haar sich klammernd;

Dorthin das Haupt, wo erst die Füße waren;

So daß zur Hölle ich zu kehren glaubte.

Umhalse fest mich, denn auf solcher Leiter

(So sprach mein Meister wie ein Müder stöhnend)

Entklimmen wir allein so schwerem Übel. –[144]

Aus einem Felsenloche stieg er endlich,

Und setzte mich auf dessen Rande nieder;

Dann folgt' er mit vorsicht'gem Schritt mir nach.

Ich hob das Aug' und glaubte Luzifer

Zu sehn, so wie ich ihn verlassen hatte,

Und sah die Bein' ihn nun nach oben strecken.

Und wenn die Angst mich damals übermannte,

So denke nach, wem noch nicht klargeworden,

Was für ein Punkt von mir war überschritten.

Erhebe dich, begann nunmehr mein Meister,

Der Weg ist lang und schlimm zu gehn der Pfad,

Fast seit zwei Stunden steht die Sonn' am Himmel –

Das war kein Weg gleich eines Schlosses Rampe

Den wir nun stiegen; eine Felsenklüftung

Mit rauhem Boden und des Lichts ermangelnd.

Als ich mich aufgerichtet, sprach ich: Meister,

Eh' diesem Abgrund ganz ich mich entrissen,

Gib Auskunft mir und tilge meinen Irrtum.

Wo ist das Eisfeld, und weshalb steckt dieser

Den Kopf zu unterst, und wie ging die Sonne

So schnell vom Abend zu dem Morgen über? –

Drauf er zu mir: Du glaubst, noch immer sei'st du

Jenseits des Mittelpunktes, wo ich die Haare

Des Wurmes der die Welt durchnagt, ergriffen.

So lang' ich niederstieg, warst du noch jenseits;

Als ich mich wandte warst du an dem Punkte,

Zu dem aus aller Welt die Schwere hinzieht.

Doch nun gelangtest du zur Hemisphäre

Der gegenüber, die das große Festland

Bedeckt, und unter deren Gipfel starb

Der sündenlos geboren ward und lebte

Du hast die Füß' auf einem kleinen Kreise,

Der die Kehrseite der Judecca bildet.

Hier ist es Morgen, wenn es Abend dort ist,

Und noch steckt ebenso, wie er zuvor tat,

Der, dessen Haar als Leiter uns gedient.[145]

Vom Himmel stürzt' auf dieser Seit' er nieder,

Und alles Land, das diesseits sich erhoben,

Verbarg aus Furcht sich in des Meeres Schleier

Und tauchte auf in eurer Hemisphäre;

Hier aber ließ vielleicht es diese Höhlung

Um ihn zu fliehn, und türmte sich zum Berge. –

Von Beelzebub erstreckt ein Raum dort unten

So weit sich als die Höllengrube diesseits;

Doch nicht das Auge, nur das Ohr erkennt ihn

Am Rauschen eines Bach's, der das Geklüfte,

Durch das in Windungen mit wenig Falle

Er absteigt, in den Felsen selbst genagt hat.

Auf so verborgnem Pfad begann mein Führer

Mit mir zur lichten Welt zurückzukehren.

So stiegen, er zuerst und ich ihm folgend,

Wir ohn' uns Ruh zu gönnen immer aufwärts,

Bis durch ein rundes Loch ich wieder etwas

Von dem gewahr ward, was den Himmel schmückt;

Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne.


Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 142-146.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon