Kapitel 6.
Zur Lehre von der abstrakten, oder Vernunft-Erkenntniß

[77] Der äußere Eindruck auf die Sinne, sammt der Stimmung, die er allein und für sich in uns hervorruft, verschwindet mit der Gegenwart der Dinge. Jene Beiden können daher nicht selbst die eigentliche Erfahrung ausmachen, deren Belehrung für die Zukunft unser Handeln leiten soll. Das Bild jenes Eindrucks, welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon sogleich schwächer als er selbst, schwächt sich täglich mehr ab und verlischt mit der Zeit ganz. Weder jenem augenblicklichen Verschwinden des Eindrucks, noch dem allmäligen seines Bildes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der Zeit, ist nur Eines: der Begriff. In ihm also muß die belehrende Erfahrung niedergelegt seyn, und er allein eignet sich zum sichern Lenker unserer Schritte im Leben. Daher sagt Seneka mit Recht: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi (ep. 37). Und ich füge hinzu, daß, um im wirklichen Leben den Andern überlegen zu seyn, überlegt seyn, d.h. nach Begriffen verfahren, die unerläßliche Bedingung ist. Ein so wichtiges Werkzeug der Intelligenz, wie der Begriff ist, kann offenbar nicht identisch seyn mit dem Wort, diesem bloßen Klang, der als Sinneseindruck mit der Gegenwart, oder als Gehörphantasma mit der Zeit verklänge. Dennoch ist der Begriff eine Vorstellung, deren deutliches Bewußtsein und deren Aufbewahrung an das Wort gebunden ist: daher benannten die Griechen Wort, Begriff, Verhältniß, Gedanken und Vernunft mit dem Namen des Ersteren: ho logos. Dennoch ist der Begriff sowohl von dem Worte, an welches er geknüpft ist, als auch von den Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig verschieden. Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinneseindrücke. Jedoch vermag er alle Resultate der Anschauung in sich aufzunehmen, um sie, auch nach dem längsten Zeitraum, unverändert und unvermindert wieder zurückzugeben: erst hiedurch entsteht die Erfahrung. Aber nicht das Angeschaute, noch das dabei Empfundene, bewahrt der Begriff auf, sondern dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter Gestalt, und doch als genügenden Stellvertreter jener. So lassen sich die Blumen nicht aufbewahren,[77] aber ihr ätherisches Oel, ihre Essenz, mit gleichem Geruch und gleichen Kräften. Das Handeln, welches richtige Begriffe zur Richtschnur gehabt hat, wird, im Resultat, mit der beabsichtigten Wirklichkeit zusammentreffen. – Den unschätzbaren Werth der Begriffe, und folglich der Vernunft, kann man ermessen, wenn man auf die unendliche Menge und Verschiedenheit von Dingen und Zuständen, die nach und neben einander dasind, den Blick wirft und nun bedenkt, daß Sprache und Schrift (die Zeichen der Begriffe) dennoch jedes Ding und jedes Verhältniß, wann und wo es auch gewesen seyn mag, zu unserer genauen Kunde zu bringen vermögen; weil eben verhältnißmäßig wenige Begriffe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen befassen und vertreten. – Beim eigenen Nachdenken ist die Abstraktion ein Abwerfen unnützen Gepäckes, zum Behuf leichterer Handhabung der zu vergleichenden und darum hin und her zuwerfenden Erkenntnisse. Man läßt nämlich dabei das viele Unwesentliche, daher nur Verwirrende, der realen Dinge weg, und operirt mit wenigen, aber wesentlichen, in abstracto gedachten Bestimmungen. Aber eben weil die Allgemeinbegriffe nur durch Wegdenken und Auslassen vorhandener Bestimmungen entstehn und daher je allgemeiner, desto leerer sind, beschränkt der Nutzen jenes Verfahrens sich auf die Verarbeitung unserer bereits erworbenen Erkenntnisse, zu der auch das Schließen aus den in ihnen enthaltenen Prämissen gehört. Neue Grundeinsichten hingegen sind nur aus der anschaulichen, als der allein vollen und reichen Erkenntniß zu schöpfen, mit Hülfe der Urtheilskraft. – Weil ferner Inhalt und Umfang der Begriffe in entgegengesetztem Verhältnisse stehn, also je mehr unter einem Begriff, desto weniger in ihm gedacht wird; so bilden die Begriffe eine Stufenfolge, eine Hierarchie, vom speciellsten bis zum allgemeinsten, an deren unterm Ende der scholastische Realismus, am oberen der Nominalismus beinahe Recht behält. Denn der speciellste Begriff ist schon beinahe das Individuum, also beinahe real: und der allgemeinste Begriff, z.B. das Seyn (d.i. der Infinitiv der Kopula), beinahe nichts als ein Wort. Daher auch sind philosophische Systeme, die sich innerhalb solcher sehr allgemeinen Begriffe halten, ohne auf das Reale herabzukommen, beinahe bloßer Wortkram. Denn da alle Abstraktion im bloßen Wegdenken besteht; so behält man, je weiter man sie fortsetzt, desto[78] weniger übrig. Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese, die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen; so kann ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast nichts mehr dabei denken; weil ich eben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hülsen operiren soll, welches eine Empfindung giebt, der ähnlich, die beim Versuch sehr leichte Körper zu werfen entsteht: die Kraft nämlich und auch die Anstrengung ist da; aber es fehlt am Objekt, sie aufzunehmen, um das andere Moment der Bewegung herzustellen. Wer dies erfahren will, lese die Schriften der Schellingianer und, noch besser, der Hegelianer. – Einfache Begriffe müßten eigentlich solche seyn, die unauflösbar wären; demnach sie nie das Subjekt eines analytischen Urtheils seyn könnten: dies halte ich für unmöglich; da, wenn man einen Begriff denkt, man auch seinen Inhalt muß angeben können. Was man als Beispiele von einfachen Begriffen anzuführen pflegt, sind gar nicht mehr Begriffe, sondern theils bloße Sinnesempfindungen, wie etwan die einer bestimmten Farbe, theils die a priori uns bewußten Formen der Anschauung; also eigentlich die letzten Elemente der anschauenden Erkenntniß. Diese selbst aber ist für das System aller unserer Gedanken Das, was in der Geognosie der Granit ist, der letzte feste Boden, der Alles trägt und über den man nicht hinaus kann. Zur Deutlichkeit eines Begriffes nämlich ist erfordert, nicht nur, daß man ihn in seine Merkmale zerlegen, sondern auch daß man diese, falls auch sie Abstrakta sind, abermals analysiren könne, und so immerfort, bis man zur anschauenden Erkenntniß herabgelangt, mithin auf konkrete Dinge hinweist, durch deren klare Anschauung man die letzten Abstrakta belegt und dadurch diesen, wie auch allen auf ihnen beruhenden höheren Abstraktionen, Realität zusichert. Daher ist die gewöhnliche Erklärung, der Begriff sei deutlich, sobald man seine Merkmale angeben kann, nicht ausreichend: denn die Zerlegung dieser Merkmale führt vielleicht immerfort nur auf Begriffe, ohne daß zuletzt Anschauungen zum Grunde lägen, welche allen jenen Begriffen Realität ertheilten. Man nehme z.B. den Begriff »Geist« und analysire ihn in seine Merkmale, »ein denkendes, wollendes, immaterielles, einfaches, keinen Raum füllendes, unzerstörbares Wesen«; so ist dabei doch nichts Deutliches gedacht; weil die Elemente dieser Begriffe sich nicht durch Anschauungen belegen[79] lassen: denn ein denkendes Wesen ohne Gehirn ist wie ein verdauendes Wesen ohne Magen. Klar sind eigentlich nur Anschauungen, nicht Begriffe: diese können höchstens deutlich seyn. Darum auch hat man, so absurd es war, »klar und verworren« zu einander gestellt und als synonym gebraucht, als man die anschauende Erkenntniß für eine nur verworrene abstrakte erklärte, weil nämlich diese letztere die allein deutliche wäre. Dies hat zuerst Duns Skotus gethan, aber auch noch Leibnitz hat im Grunde diese Ansicht, als auf welcher seine Identitas indiscernibilium beruht: man sehe Kants Widerlegung derselben, S. 275 der ersten Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft«.

Die oben berührte enge Verbindung des Begriffs mit dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft, beruht im letzten Grunde auf Folgendem. Unser ganzes Bewußtseyn, mit seiner Innern und äußern Wahrnehmung, hat durchweg die Zeit zur Form. Die Begriffe hingegen, als durch Abstraktion entstandene, völlig allgemeine und von allen einzelnen Dingen verschiedene Vorstellungen, haben, in dieser Eigenschaft, ein zwar gewissermaaßen objektives Daseyn, welches jedoch keiner Zeitreihe angehört. Daher müssen sie, um in die unmittelbare Gegenwart eines individuellen Bewußtseyns treten, mithin in eine Zeitreihe eingeschoben werden zu können, gewissermaaßen wieder zur Natur der einzelnen Dinge herabgezogen, individualisirt und daher an eine sinnliche Vorstellung geknüpft werden: diese ist das Wort. Es ist demnach das sinnliche Zeichen des Begriffs und als solches das nothwendige Mittel ihn zu fixiren, d.h. ihn dem an die Zeitform gebundenen Bewußtseyn zu vergegenwärtigen und so eine Verbindung herzustellen zwischen der Vernunft, deren Objekte bloß allgemeine, weder Ort noch Zeitpunkt kennende Universalia sind, und dem an die Zeit gebundenen, sinnlichen und insofern bloß thierischen Bewußtseyn. Nur vermöge dieses Mittels ist uns die willkürliche Reproduktion, also die Erinnerung und Aufbewahrung der Begriffe, möglich und disponibel, und erst mittelst dieser die mit denselben vorzunehmenden Operationen, also urtheilen, schließen, vergleichen, beschränken u.s.w. Zwar geschieht es bisweilen, daß Begriffe auch ohne ihre Zeichen das Bewußtseyn beschäftigen, indem wir mitunter eine Schlußkette so schnell[80] durchlaufen, daß wir in solcher Zeit nicht hätten die Worte denken können. Allein dergleichen sind Ausnahmen, die eben eine große Uebung der Vernunft voraussetzen, welche sie nur mittelst der Sprache hat erlangen können. Wie sehr der Gebrauch der Vernunft an die Sprache gebunden ist, sehn wir an den Taubstummen, welche, wenn sie keine Art von Sprache erlernt haben, kaum mehr Intelligenz zeigen, als die Orangutane und Elephanten: denn sie haben fast nur potentiâ nicht actu Vernunft.

Wort und Sprache sind also das unentbehrliche Mittel zum deutlichen Denken. Wie aber jedes Mittel, jede Maschine, zugleich beschwert und hindert; so auch die Sprache: weil sie den unendlich nüancirten, beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewisse feste, stehende Formen zwängt und indem sie ihn fixirt, ihn zugleich fesselt. Dieses Hinderniß wird durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Theil beseitigt. Denn indem, bei dieser, der Gedanke aus einer Form in die andere gegossen wird, er aber in jeder seine Gestalt etwas verändert, löst er sich mehr und mehr von jeglicher Form und Hülle ab; wodurch sein selbst-eigenes Wesen deutlicher ins Bewußtseyn tritt und er auch seine ursprüngliche Modifikabilität wieder erhält. Die alten Sprachen aber leisten diesen Dienst sehr viel besser, als die neuen; weil, vermöge ihrer großen Verschiedenheit von diesen, der selbe Gedanke jetzt auf ganz andere Weise ausgedrückt werden, also eine höchst verschiedene Form annehmen muß; wozu noch kommt, daß die vollkommenere Grammatik der alten Sprachen eine künstlichere und vollkommenere Konstruktion der Gedanken und ihres Zusammenhanges möglich macht. Daher konnte ein Grieche, oder Römer, allenfalls sich an seiner Sprache genügen lassen. Aber wer nichts weiter, als so einen einzigen modernen Patois versteht, wird, im Schreiben und Reden, diese Dürftigkeit bald verrathen, indem sein Denken, an so armsälige, stereotypische Formen fest geknüpft, ungelenk und monoton ausfallen muß. Genie freilich ersetzt, wie Alles, so auch dieses, z.B. im Shakespeare.

Von dem, was ich § 9 des ersten Bandes dargelegt habe, daß nämlich die Worte einer Rede vollkommen verstanden werden, ohne anschauliche Vorstellungen, Bilder in unserm Kopfe zu veranlassen, hat schon eine ganz richtige und sehr ausführliche Auseinandersetzung Burke gegeben, in seiner Inquiry into[81] the Sublime and Beautiful, P. 5, Sect. 4 et 5; allein er zieht daraus den ganz falschen Schluß, daß wir die Worte hören, vernehmen und gebrauchen, ohne irgend eine Vorstellung (ideas) damit zu verbinden; während er hätte schließen sollen, daß nicht alle Vorstellungen (ideas) anschauliche Bilder (Images) sind, sondern daß gerade die, welche durch Worte bezeichnet werden müssen, bloße Begriffe (abstract notions) und diese, ihrer Natur zufolge, nicht anschaulich sind, – Eben weil Worte bloße Allgemeinbegriffe, welche von den anschaulichen Vorstellungen durchaus verschieden sind, mittheilen, werden z.B. bei der Erzählung einer Begebenheit, zwar alle Zuhörer die selben Begriffe erhalten; allein wenn sie nachher sich den Vorgang veranschaulichen wollen, wird jeder ein anderes Bild davon in seiner Phantasie entwerfen, welches von dem richtigen, das allein der Augenzeuge hat, bedeutend abweicht. Hierin liegt der nächste Grund (zu welchem sich aber noch andere gesellen) warum jede Thatsache durch Weitererzählen nothwendig entstellt wird: nämlich der zweite Erzähler theilt Begriffe mit, die er aus seinem Phantasiebilde abstrahirt hat und aus denen der Dritte sich wieder ein anderes noch abweichenderes Bild entwirft, welches er nun wieder in Begriffe umsetzt, und so geht es immer weiter. Wer trocken genug ist, bei den ihm mitgetheilten Begriffen stehn zu bleiben und diese weiter zu geben, wird der treueste Berichterstatter seyn.

Die beste und vernünftigste Auseinandersetzung über Wesen und Natur der Begriffe, die ich irgendwo habe finden können, steht in Thom. Reid's Essays on the powers of human mind, Vol. 2, essay 5, ch. 6. – Dieselbe ist seitdem gemißbilligt worden von Dugald Stewart, in dessen Philosophy of the human mind: über diesen will ich, um kein Papier an ihm zu verschwenden, nur in der Kürze sagen, daß er zu den Vielen gehört hat, die durch Gunst und Freunde einen unverdienten Ruf erlangten; daher ich nur rächen kann, mit den Schreibereien dieses Flachkopfes keine Stunde zu verlieren.

Daß übrigens die Vernunft das Vermögen der abstrakten, der Verstand aber das der anschaulichen Vorstellungen sei, hat bereits der fürstliche Scholastiker Picus de Mirandula eingesehn, indem er in seinem Buche De imaginatione, c. 11, Verstand und Vernunft sorgfältig unterscheidet und diese für das diskursive, dem Menschen eigenthümliche Vermögen,[82] jenen aber für das intuitive, der Erkenntnißweise der Engel, ja, Gottes verwandte erklärt. – Auch Spinoza charakterisirt ganz richtig die Vernunft als das Vermögen allgemeine Begriffe zu bilden: Eth. II. prop. 40, schol. 2. – Dergleichen brauchte nicht erwähnt zu werden, wäre es nicht wegen der Possen, welche in den letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster in Deutschland mit dem Begriffe der Vernunft getrieben haben, indem sie, mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völlig erlogenes Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinnlicher Erkenntnisse einschwärzen wollten, die wirkliche Vernunft hingegen Verstand benannten, den eigentlichen Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz übersahen, und seine intuitiven Funktionen der Sinnlichkeit zuschrieben.

Wie bei allen Dingen dieser Welt jedem Auskunftsmittel, jedem Vortheil, jedem Vorzug sich sofort auch neue Nachtheile anhängen; so führt auch die Vernunft, welche dem Menschen so große Vorzüge vor den Thieren giebt, ihre besondern Nachtheile mit sich und eröffnet ihm Abwege, auf welche das Thier nie gerathen kann. Durch sie erlangt eine ganz neue Art von Motiven, der das Thier unzugänglich ist, Macht über seinen Willen; nämlich die abstrakten Motive, die bloßen Gedanken, welche keineswegs stets aus der eigenen Erfahrung abgezogen sind, sondern oft nur durch Rede und Beispiel Anderer, durch Tradition und Schrift, an ihn kommen. Dem Gedanken zugänglich geworden steht er sofort auch dem Irrthum offen. Allein jeder Irrthum muß, früher oder später, Schaden stiften, und desto größern, je größer er war. Den individuellen Irrthum muß, wer ihn hegt, ein Mal büßen und oft theuer bezahlen: das Selbe wird im Großen von gemeinsamen Irrthümern ganzer Völker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt werden, daß jeder Irrthum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menschheit zu verfolgen und auszurotten ist, und daß es keine privilegirte, oder gar sanktionirte Irrthümer geben kann. Der Denker soll sie angreifen; wenn auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut dabei aufschrie. – Das Thier kann nie weit vom Wege der Natur abirren: denn seine Motive liegen allein in der anschaulichen Welt, wo nur das Mögliche, ja, nur das Wirkliche Raum findet: hingegen in die abstrakten Begriffe, in die Gedanken und[83] Worte, geht alles nur Ersinnliche, mithin auch das Falsche, das Unmögliche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun Vernunft Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden; so ist die Folge, daß der Mensch dem Wahne offen steht, indem er allen nur erdenklichen Chimären Preis gegeben ist, die man ihm einredet, und die, als Motive seines Wollens wirkend, ihn zu Verkehrtheiten und Thorheiten jeder Art, zu den unerhörtesten Extravaganzen, wie auch zu den seiner thierischen Natur widerstrebendesten Handlungen bewegen können. Eigentliche Bildung, bei welcher Erkenntniß und Unheil Hand in Hand gehn, kann nur Wenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen. Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung: sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft dawären, das Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft, die nachher so fest und durch keine Belehrung zu erschüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie auch oft, selbst von Philosophen, angesehn worden sind. Auf diesem Wege kann man, mit gleicher Mühe, den Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch das Absurdeste einprägen, z.B. sie gewöhnen, sich diesem oder jenem Götzen nur von heiligem Schauer durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines Namens nicht nur mit dem Leibe, sondern auch mit dem ganzen Gemüthe sich in den Staub zu werfen; an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der abentheuerlichsten Grillen, willig ihr Eigenthum und Leben zu setzen; die größte Ehre und die tiefste Schande beliebig an Dieses oder an jenes zu knüpfen und danach jeden mit inniger Ueberzeugung hoch zu schätzen, oder zu verachten; aller animalischen Nahrung zu entsagen, wie in Hindustan, oder die dem lebenden Thiere herausgeschnittenen, noch warmen und zuckenden Stücke zu verzehren, wie in Abyssinien; Menschen zu fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder dem Moloch zu opfern; sich selbst zu kastriren, sich willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen zu stürzen, – mit Einem Worte, was man will. Daher die Kreuzzüge, die Ausschweifungen fanatischer Sekten, daher Chiliasten und Flagellanten, Ketzerverfolgungen, Autos de Fe, und was immer das lange Register menschlicher Verkehrtheiten noch sonst darbietet. Damit man nicht denke, daß nur[84] finstere Jahrhunderte solche Beispiele liefern, füge ich ein Paar neuere hinzu. Im Jahre 1818 zogen aus dem Würtembergischen 7000 Chiliasten in die Nähe des Ararat; weil das, besonders durch Jung-Stilling angekündigte, neue Reich Gottes daselbst anbrechen sollte4. Gall erzählt, daß zu seiner Zeit eine Mutter ihr Kind getödtet und gebraten habe, um mit dessen Fett die Rheumatismen ihres Mannes zu kuriren5. Die tragische Seite des Irrthums und Vorurtheils liegt im Praktischen, die komische ist dem Theoretischen vorbehalten: hätte man z.B. nur erst drei Menschen fest überredet, daß die Sonne nicht die Ursache des Tageslichts sei; so dürfte man hoffen, es bald als die allgemeine Ueberzeugung gelten zu sehn. Einen widerlichen, geistlosen Scharlatan und beispiellosen Unsinnschmierer, Hegel, konnte man, in Deutschland, als den größten Philosophen aller Zeiten ausschreien, und viele Tausende haben es, zwanzig Jahre lang, steif und fest geglaubt, sogar außer Deutschland die Dänische Akademie, welche für seinen Ruhm gegen mich aufgetreten ist und ihn als einen summus philosophus hat geltend machen wollen. (Siehe hierüber die Vorrede zu meinen »Grundproblemen der Ethik«.) – Dies also sind die Nachtheile, welche, wegen der Seltenheit der Urtheilskraft, an das Daseyn der Vernunft geknüpft sind. Zu ihnen kommt nun noch die Möglichkeit des Wahnsinns: Thiere werden nicht wahnsinnig; wiewohl die Fleischfresser der Wuth, die Grasfresser einer Art Raserei ausgesetzt sind.

4

Illgens Zeitschrift für historische Theologie, 1839, erstes Heft, S. 182.

5

Gall et Spurzheim, Des dispositions innées, 1811, p. 253.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 3, Zürich 1977, S. 77-85.
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