Erster Brief.

An den Herrn Meyer, Hofmeister des Herrn von Hohenau, in Göttingen.

[18] Urfstädt den 2ten October 1769.


Mein lieber Freund!


Glauben Sie mir auf mein Wort, daß es meiner Philosophie herzlich schwer wird, mir unsre Trennung als ein nothwendiges Uebel vorzustellen. Ihr angenehmer, freundschaftlicher Umgang war meinem Herzen so theuer geworden, ich war so sehr daran gewöhnt, jeden Gedanken, jede Empfindung meiner[19] Seele, mit Ihnen zu theilen, endlich hatte ich mir auch die Sorge für die Bildung meines Pflegesohns zu einem so süßen Geschäfte gemacht, daß ich es Ihnen gern bekenne, wie hart es mir vorkömmt, auf einmal mich aller dieser Glückseligkeiten beraubt zu sehen.

Aber es hat so seyn müssen. Das ist eine von den leidigen Tröstungen, die auf jede unangenehme Begebenheit in diesem Leben passen, und im Grunde doch keiner einzigen die Bitterkeit benehmen! Da sitze ich nun hier einsam auf dem Lande, nicht ohne Geschäfte, das ist wahr (denn wenn mich diese nicht gefesselt hätten, Sie und mein Carl hätten gewiß nicht allein reisen sollen), aber doch voll zärtlicher Sehnsucht nach Ihnen beyden, und voll Besorgniß, wie es Ihnen in der neuen Welt, in welche Sie Ihren Zögling führen, gehen mögte.

Das weiß Gott, daß ich nicht einen Augenblick darüber unruhig bin, ob er in Ihren[20] Händen gut aufgehoben seyn mögte. Den Mann, dem ich meinen Carl anvertrauet habe, kenne ich zu gut, um nicht die feste Zuversicht zu haben, daß er, wie ein Vater, für sein Glück sorgen, und ihn zu allem Guten leiten wird. Aber auch ohne Betracht auf das, was ich durch Ihre Abwesenheit leide, drängen sich viel ernsthafte Vorstellungen, über den ersten Schritt, den mein Pflegesohn in die größere Welt thut, in meine Seele.

Mich dünkt, es giebt drey wichtige Hauptperioden im Leben, durch welche der wohlerzogene, feine, denkende und fühlende Mann wandert, und nach welchen sich das Interesse bestimmt, welches er an demjenigen, was ihm in diesem Leben begegnet, und an den Menschen, mit denen er in Verbindung kömmt, nehmen muß. Oder, um deutlicher zu reden, fast jeder Sterblicher, dem Madam Fortuna nicht schon in der Wiege einen falschen Streich spielt (denn wenn das ist; so fällt freylich die erste Periode beynahe ganz weg), fast[21] jeder Sterblicher, sage ich, sieht nach und nach alles, was ihn in dieser Welt umgiebt, aus drey verschiedenen Gesichtspuncten an.

Als ein blühender Jüngling tritt er in die Welt. Gesundheit, Vorzüge der Gestalt, die durch Jugend erhöhet werden, ein frohes weiches Herz, gute Laune, Befreyung von Nahrungs- und andern häuslichen Sorgen, Geschmack an schönen Künsten, unverdorbenes Gefühl für die Schätze der Natur, Neuheit aller Gegenstände, die sich seinen Augen darstellen; von der andern Seite aber, Unwichtigkeit seiner Person, welche alsdann selten irgend einem ernsthaften Herrn im Wege steht, Nachsicht weiser Leute gegen seine jugendliche Schwachheiten, der Antheil, den das schöne Geschlecht an ihm nimt, seine Gefälligkeit gegen jedermann, und sein Mangel an Beobachtungsgeist, der ihn verhindert, die Verderbnisse wahrzunehmen; das alles, oder ein großer Theil dieser herrlichen Dinge, spricht für ihn, und schwellt sein unerfahrnes[22] Herz auf. Alles lächelt ihn an. Die Welt ist so schön; Er findet so viel gute Menschen, welche ihm Liebe und Freundschaft beweisen; Er kann nicht begreifen, wie mürrische Grauköpfe so klagen können. – Schade, daß diese Bezauberung nicht ewig dauert!

Aber er wird älter, kömmt bald in allerley große und kleine Verbindungen; Hier vertrauet er sich unwürdigen Freunden, und wird oft und mannigfaltig betrogen, dort untergräbt unglückliche Liebe die Ruhe seiner Seele; Oder er ist in andre üble Hände gerathen, der Misbrauch seiner cörperlichen Kräfte, seiner Freyheit und seiner Thätigkeit, hat seine Gesundheit geschwächt, und ihn welk gemacht. Dies erweckt böse Launen; nun trägt er nicht mehr so viel zu den Annehmlichkeiten des Umgangs bey; Oder er hat übel mit seinem Vermögen gewirthschaftet, Nahrungssorgen drücken ihn, seine Kinder machen ihm Verdruß; Oder er ist klüger, angesehener, reicher, als andre Menschen,[23] und muß durch deren Neid viel leiden, wird verkannt, gedrückt, verfolgt; Oder er ist in irgend ein sclavisches Dienst-Joch gespannt, hat nicht Zeit noch Gelegenheit, sein Gemüth durch den Umgang mit den Musen zu erheitern; Oder er hat so viel Schönes gesehen, daß sein Geschmack eckel geworden ist; Er hat aller Orten Ideale von Vollkommenheit gesucht, und sie nirgends gefunden. – Die Empfindungen, welche durch solche Schicksale, deren jeder in der Welt lebende Mensch einige zu ertragen hat, erregt werden, machen ihn, mehr oder weniger, unzufrieden, feindselig, mistrauisch gegen alles, was ihn umgiebt, und das ist die zweyte Periode. Wohl dem, der nicht darinn stehen bleibt, der nicht mit Gift gegen das gute Menschengeschlecht, mit Wiederwillen gegen die schöne Welt, seine Laufbahn endigt!

Der gutgeartete Mensch kömmt aber von diesem Grolle bald zurück. So, wie er nach und nach kühler wird, kommen ihm die wiedrigen[24] Vorfälle, welche ihm aufstoßen, nicht mehr so entsetzlich vor. Er fühlt sogar, wenn gleich er es nicht immer bekennt, daß er sich das Ungemach mehrentheils selbst, durch Unvorsichtigkeit in seiner Aufführung, zugezogen hat. Die Menschen betrachtet er nun auch näher, und findet, daß ihre Handlungen von Leidenschaften regiert werden, die schwächer, eben so heftig, oder heftiger, als die seinigen sind; Er merkt, daß es dem Einen an Erziehung, dem Andern an Gesundheit, dem Dritten an zufälligen Gütern, dem Vierten an Gelegenheit fehlt, um edel zu handeln; daß dieser ein Schurke geworden ist, blos weil man ihn so lange gekniffen, gedrückt, betrogen, bis man ihn feindselig gemacht, und dahin gebracht hat, das Rauhe auswendig zu kehren. – Kurz! er fängt an, mit der ganzen Welt Frieden zu schliessen, faßt den Vorsatz, so viel Gutes zu thun, als er kann, auf keine Wunder zu rechnen, sondern alles von der Hand des Schicksals so anzunehmen, wie es die Reyhe der Begebenheiten[25] mit sich bringt, und so die letzte Periode seines Lebens in Liebe und Ruhe zu beschließen.

Sie sehen also, mein lieber Freund! daß, nach meinen Grundsätzen, unsre Kunst darauf beruht, die erste Periode zu verlängern, und die zweyte abzukürzen, und das ist es, wornach wir Beyde itzt unsre Bemühungen einrichten müssen, um meinem Carl, bey seinem Eintritte in die Welt, den Weg, den er, wie jeder Andre, wandern muß, so sanft als möglich zu machen. Im übrigen müssen wir es dem Schicksale überlassen, die feinern Nüancen in seine Begebenheiten zu weben. Einen ganz gemeinen Gang wird er schwerlich gehen, denn seine Composition ist feiner, als mir oft lieb gewesen ist. Doch Sie, mein Freund! haben Gelegenheit und Klugheit genug, seiner Thätigkeit unvermerkt die Richtung zu geben, die sie haben soll, und die Gegenstände zu entfernen, welche wildes Feuer in ihm anfachen könnten. Auf Sie baue ich[26] fest, und wenn ich hier zu lange über Dinge geplaudert habe, die Ihnen nicht fremd sind; so ist das wahrlich nicht geschehen, Sie zu unterichten, sondern weil mein Herz mich drängt, mit Ihnen zu reden, und dies Herz itzt von einem Gegenstande voll ist, der unsre ganze Aufmerksamkeit verdient.

Sie werden Sich wundern, wenn Sie schon so bald einen langen Brief von mir bekommen, ehe Sie mir einmal haben Ihre Ankunft melden können. Allein, übereilen Sie Sich deswegen doch nur nicht, mir eben so weitläuftig zu antworten. Ich weiß, wie unruhig die ersten Tage in einem neuen Wohnorte sind, und wenn ich nur höre, daß Ihr Leutchens wohl seyd; so will ich gern noch ein bisgen Geduld haben.

Sie waren kaum gestern fort, als der Hauptmann von Weckel aus der Stadt zu mir kam. Er war mir willkommner, als jemals, und hat mir mit seiner fröhligen Laune[27] ein Paar trübe Stunden verjagt. Weckel hat mir auch erzählt, daß seit einigen Wochen ein unbekannter Mann mit einer hübschen Frau dorthin gezogen ist, der die Aufmerksamkeit des neugierigen Publicums sehr beschäftigt, weil er mit niemand umgeht, mit Gemächlichkeit lebt, hübsch gekleidet ist, zuweilen Briefe unter andrem Nahmen erhält – und kurz, weil man nicht weiß, wer er ist, und man in einer kleinen Stadt doch gern alles wissen mag.

Ich verdenke es jedem vernünftigen Manne, der die Einsamkeit sucht, wenn er sie in einem kleinen Städtgen zu finden glaubt. Je größer der Zirkel ist, in welchem man lebt, desto unbemerkter wird der Punct, welchen man darinn macht.

Es ist eine recht ärgerliche Sache, daß man in solchen Lumpen-Städtgens einem ruhigen Menschen nicht erlauben kann, in der Stille seinen Weg fortzuwandeln. Ich[28] mußte mich einmal ein Paar Monathe an einem Orte, gewisser Ursachen wegen, die eine große Epoke in der Historie meines Lebens machen, und die ich Ihnen gelegentlich erzählen will, unter fremden Nahmen, aufhalten. Meine Nachbarn konnten nicht ruhig schlafen, bis sie die ganze Stadt aufgewiegelt hatten, Nachforschungen über meine Person anzustellen. Endlich kam es an den Tag, daß ich ein gewisser böser Zeitungsschreiber sey, der eben damals, wegen seiner pöbelhaften Ausdrücke gegen einen mächtigen Fürsten, hatte flüchtig werden müssen. Es fehlte wenig, daß ich nicht wäre in große Verdrießlichkeiten gerathen. Das Einzige, was mich rettete, war, daß ich nicht einmal wußte, daß eine solche Zeitung in der Welt war, und daß man den Pasquillanten irgendwo erwischt hatte.

Ich frage nie jemand um seine Geschichte, liegt mir aber daran, zu wissen, was für ein Mann er ist; so beurtheile ich ihn nach seinen itzigen Handlungen. Einen Beweis davon[29] habe ich Ihnen wohl gegeben, dem ich die Aufsicht über den jungen Hohenau aufgetragen habe, ohne daß ich einmal recht weiß, wo Sie gebohren sind, wer Ihr Vater war, und dergleichen. Allein, Sie müssen mir doch noch einst Ihre Geschichte erzählen. Es müssen Ihnen manche sonderbare Schicksale begegnet seyn, ehe ein so herzlich guter, menschenfreundlicher Mann aus Ihnen geworden ist.

Ob ich den dritten Bogen anfange? Nein! das will ich nicht, es mag damit genug seyn. Ich umarme Sie und meinen Carl in Gedanken, und bin ewig,


Ihr

treuer Freund,

Leidthal.[30]

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 1, Riga 1781–1783, S. 18-31.
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