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Beschluß.

Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb den Grenzen der reinen Moralphilosophie

[627] Protagoras von Abdera fing sein Buch mit den Worten an: »Ob Götter sind, oder nicht sind, davon weiß ich nichts zu sagen«23. Er wurde deshalb von den Atheniensern aus der Stadt und von seinem Landbesitz verjagt und seine Bücher vor der öffentlichen Versammlung verbrannt (Quinctiliani Inst. Orat. lib. 3. cap. 1.). – Hierin taten ihm die Richter von Athen, als Menschen, zwar sehr unrecht; aber, als Staatsbeamte und Richter, verfuhren sie ganz rechtlich und konsequent; denn, wie hätte man einen Eid schwören können, wenn es nicht öffentlich und gesetzlich, von hoher Obrigkeit wegen (de par le Sénat), befohlen wäre: daß es Götter gebe.24

Diesen Glauben aber zugestanden und, daß Religionslehre ein integrierender Teil der allgemeinen Pflichtenlehre sei, eingeräumet, ist jetzt nun die Frage von der Grenzbestimmung der Wissenschaft, zu der sie gehört:[627] ob sie als ein Teil der Ethik (denn vom Recht der Menschen gegen einander kann hier nicht die Rede sein) angesehen, oder ganz außerhalb den Grenzen einer rein-philosophischen Moral liegend müsse betrachtet werden.

Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei »der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote«, gehört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird, und eine Religionspflicht wird alsdann noch nicht zur Pflicht gegen (erga) Gott, als ein außer unserer Idee existierendes Wesen gemacht, indem wir hiebei von der Existenz desselben noch abstrahieren. – Daß alle Menschenpflichten diesem Formalen (der Beziehung derselben auf einen göttlichen, a priori gegebenen, Willen) gemäß gedacht werden sollen, davon ist der Grund nur subjektiv-logisch. Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken. – – Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d.i. nicht objektive die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen anderen, sondern nur subjektive zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft.

Was aber das Materiale der Religion, den Inbegriff der Pflichten gegen (erga) Gott, d.i. den ihm zu leistenden Dienst (ad praestandum) anlangt, so würde sie besondere, von der allgemein-gesetzgebenden Vernunft allein nicht ausgehende, von uns also nicht a priori, sondern nur empirisch erkennbare, mithin nur zur geoffenbarten Religion gehörende Pflichten, als göttliche Gebote, enthalten können; die also auch das Dasein dieses Wesens, nicht bloß die Idee von demselben, in praktischer Absicht, nicht willkürlich, voraussetzen, sondern als unmittelbar (oder mittelbar) in der Erfahrung gegeben, dargelegt werden könnte. Eine solche[628] Religion aber würde, so gegründet sie sonst auch sein möchte, doch keinen Teil der reinen philosophischen Moral ausmachen.

Religion also, als Lehre der Pflichten gegen Gott, liegt jenseit aller Grenzen der rein-philosophischen Ethik hinaus, und das dient zur Rechtfertigung des Verfassers des Gegenwärtigen, daß er zur Vollständigkeit derselben nicht, wie es sonst wohl gewöhnlich war, die Religion, in jenem Sinne gedacht, in die Ethik mit hinein gezogen hat.

Es kann zwar von einer »Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft«, die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Geschichts- und Offenbarungslehren gegründet ist und die nur die Übereinstimmung der reinen praktischen Vernunft mit denselben (daß sie jener nicht widerstreite) enthält, die Rede sein. Aber alsdann ist sie auch nicht reine, sondern auf eine vorliegende Geschichte angewandte Religionslehre, für welche in einer Ethik, als reiner praktischen Philosophie, kein Platz ist.


Schlußanmerkung

Alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche ein Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des anderen enthalten, lassen sich auf Liebe und Achtung zurückführen, und, so fern dies Prinzip praktisch ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das Recht des anderen. – Ist eines dieser Wesen ein solches, was lauter Rechte und keine Pflichten gegen das andere hat (Gott), hat mithin das andere gegen das erstere lauter Pflichten und keine Rechte, so ist das Prinzip des moralischen Verhältnisses zwischen ihnen transzendent (dagegen das der Menschen gegen Menschen, deren Wille gegen einander wechselseitig einschränkend ist, ein immanentes Prinzip hat).

Den göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung) kann man[629] sich nicht anders denken, als nur aus Liebe, d.i. daß er die Glückseligkeit der Menschen sei. Das Prinzip des Willens Gottes aber in Ansehung der schuldigen Achtung (Ehrfurcht), welche die Wirkungen der ersteren einschränkt, d.i. des göttlichen Rechts, kann kein anderes sein als das der Gerechtigkeit. Man könnte sich (nach Menschenart) auch so ausdrücken: Gott hat vernünftige Wesen erschaffen, gleichsam aus dem Bedürfnisse, etwas außer sich zu haben, was er lieben könne, oder auch von dem er geliebt werde.

Aber nicht allein eben so groß, sondern noch größer (weil das Prinzip einschränkend ist) ist der Anspruch, den die göttliche Gerechtigkeit, im Urteile unserer eigenen Vernunft, und zwar als strafende an uns macht. – Denn Belohnung (praemium, remuneratio gratuita) bezieht sich gar nicht auf Gerechtigkeit gegen Wesen, die lauter Pflichten und keine Rechte gegen das andere haben, sondern bloß auf Liebe und Wohltätigkeit (benignitas); – noch weniger kann ein Anspruch auf Lohn (merces) bei einem solchen Wesen statt finden, und eine belohnende Gerechtigkeit (iustitia brabeutica) ist im Verhältnis Gottes gegen Menschen ein Widerspruch.

Es ist aber doch in der Idee einer Gerechtigkeitsausübung eines Wesens, was über allen Abbruch an seinen Zwecken erhaben ist, etwas, was sich mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott nicht wohl vereinigen läßt: nämlich der Begriff einer Läsion, welche an dem unumschränkten und unerreichbaren Weltherrscher begangen werden könne; denn hier ist nicht von den Rechtsverletzungen, die Menschen gegen einander verüben und worüber Gott als strafender Richter entscheide, sondern von der Verletzung, die Gott selber und seinem Recht widerfahren solle, die Rede, wovon der Begriff transzendent ist, d.i. über den Begriff aller Strafgerechtigkeit, wovon wir irgend ein Beispiel aufstellen können (d.i. der unter Menschen), ganz hinaus liegt und überschwengliche Prinzipien enthält, die mit denen, welche wir in Erfahrungsfällen gebrauchen würden, gar nicht in Zusammenstimmung[630] gebracht werden können, folglich für unsere praktische Vernunft gänzlich leer sind.

Die Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit wird hier personifiziert; es ist nicht ein besonderes richtendes Wesen, was sie ausübt (denn da würden Widersprüche desselben mit Rechtsprinzipien vorkommen), sondern die Gerechtigkeit, gleich als Substanz (sonst die ewige Gerechtigkeit genannt), die, wie das Fatum (Verhängnis) der alten philosophierenden Dichter, noch über dem Jupiter ist, spricht das Recht nach der eisernen, unablenkbaren Notwendigkeit aus, die für uns weiter unerforschlich ist. – Hievon jetzt einige Beispiele.

Die Strafe läßt (nach dem Horaz) den vor ihr stolz schreitenden Verbrecher nicht aus den Augen, sondern hinkt ihm unablässig nach, bis sie ihn ertappt. – Das unschuldig vergossene Blut schreit um Rache. – Das Verbrechen kann nicht ungerächt bleiben; trifft die Strafe nicht den Verbrecher, so werden es seine Nachkommen entgelten müssen; oder geschieht's nicht bei seinem Leben, so muß es in einem Leben nach dem Tode25 geschehen, welches ausdrücklich darum auch angenommen und gern geglaubt wird, damit der Anspruch der ewigen Gerechtigkeit ausgeglichen werde. – Ich will keine Blutschuld auf mein Land kommen lassen, dadurch, daß ich einen boshaft mordenden Duellanten, für den ihr Fürbitte tut, begnadige, sagte einmal ein wohldenkender Landesherr. – Die Sündenschuld muß bezahlt werden, und sollte sich auch ein völlig Unschuldiger zum Sühnopfer[631] hingeben (wo dann freilich die von ihm übernommene Leiden eigentlich nicht Strafe – denn er hat selbst nichts verbrochen – heißen könnten); aus welchen allen zu ersehen ist, daß es nicht eine die Gerechtigkeit verwaltende Person ist, der man diesen Verurteilungsspruch beilegt (denn die würde nicht so sprechen können, ohne anderen unrecht zu tun), sondern daß die bloße Gerechtigkeit, als überschwengliches, einem übersinnlichen Subjekt angedachtes Prinzip, das Recht dieses Wesens bestimme; welches zwar dem Formalen dieses Prinzips gemäß ist, dem Materialen desselben aber, dem Zweck, welcher immer die Glückseligkeit der Menschen ist, widerstreitet. – Denn, bei der etwanigen großen Menge der Verbrecher, die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung nicht in der Liebe des Welturhebers (wie man sich doch denken muß), sondern in der strengen Befolgung des Rechts setzen (das Recht selbst zum Zweck machen, der in der Ehre Gottes gesetzt wird), welches, da das letztere (die Gerechtigkeit) nur die einschränkende Bedingung des ersteren (der Gütigkeit) ist, den Prinzipien der praktischen Vernunft zu widersprechen scheint, nach welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben müssen, die ein, der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes Produkt geliefert haben würde.

Man sieht hieraus: daß in der Ethik, als reiner praktischer Philosophie der inneren Gesetzgebung, nur die moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen für uns begreiflich sind: was aber zwischen Gott und dem Menschen hierüber für ein Verhältnis obwalte, die Grenzen derselben gänzlich übersteigt und uns schlechterdings unbegreiflich ist; wodurch dann bestätigt wird, was oben behauptet ward: daß die Ethik sich nicht über die Grenzen der wechselseitigen Menschenpflichten erweitern könne.[632]


23

»De diis, neque ut sint, neque ut non sint, habeo dicere.«

24

Zwar hat später hin ein großer moralisch gesetzgebender Weise das Schwören als ungereimt, und zugleich beinahe an Blasphemie grenzend, ganz und gar verboten; allein in politischer Rücksicht glaubt man noch immer dieses mechanischen, zur Verwaltung der öffentlichen Gerechtigkeit dienlichen, Mittels schlechterdings nicht entbehren zu können und hat milde Auslegungen ausgedacht, um jenem Verbot auszuweichen. – Da es eine Ungereimtheit wäre, im Ernst zu schwören, daß ein Gott sei (weil man diesen schon postuliert haben muß, um überhaupt nur schwören zu können), so bleibt noch die Frage: ob nicht ein Eid möglich und geltend sei, da man nur auf den Fall daß ein Gott sei (ohne, wie Protagoras, darüber etwas auszumachen) schwöre. – In der Tat mögen wohl alle redlich und zugleich mit Besonnenheit abgelegten Eide in keinem anderen Sinne getan worden sein. – Denn, daß einer sich erböte, schlechthin zu beschwören, daß ein Gott sei, scheint zwar kein bedenkliches Anerbieten zu sein, er mag ihn glauben oder nicht. Ist einer (wird der Betrüger sagen), so habe ich's getroffen; ist keiner, so zieht mich auch keiner zur Verantwortung, und ich bringe mich durch solchen Eid in keine Gefahr. – Ist denn aber keine Gefahr dabei, wenn ein solcher ist, auf einer vorsätzlichen und, selbst um Gott zu täuschen, angelegten Lüge betroffen zu werden?

25

Die Hypothese von einem künftigen Leben darf hier nicht einmal eingemischt werden, um jene drohende Strafe als vollständig in der Vollziehung vorzustellen. Denn der Mensch, seiner Moralität nach betrachtet, wird, als übersinnlicher Gegenstand vor einem übersinnlichen Richter, nicht nach Zeitbedingungen beurteilt; es ist nur von seiner Existenz die Rede. Sein Erdenleben, es sei kurz oder lang, oder gar ewig, ist nur das Dasein desselben in der Erscheinung und der Begriff der Gerechtigkeit bedarf keiner näheren Bestimmung; wie denn auch der Glaube an ein künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern vielmehr umgekehrt aus der Notwendigkeit der Bestrafung auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977.
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