Zwölfter Abschnitt.
Das Leid.

[75] Einige lehren:

Selbst gewirkt und (durch) anderes gewirkt, (durch) beides gewirkt, ohne Grund gewirkt: so lehren (sie) das Leid (duḥkha); zweckentsprechend ist es eben nicht. (XII. 1.)

Es sind Leute, die sagen: »Leid (und) Qualen (kleśa) sind (durch sich) selbst gewirkt«; andere sagen: »durch anderes gewirkt«; andere sagen: »sowohl (durch sich) selbst gewirkt, als auch (durch) anderes gewirkt«; andere sagen: »ohne Grund gewirkt«. Zweckentsprechend ist es ausnahmslos nicht. Die lebenden Wesen (sattva) veranlassen durch die Bedingungen (pratyaya) Leid, verabscheuen Leid, begehren (und) suchen (dessen) Vernichtung, (und) kennen nicht Leid (und) Qualen (kleśa) als tatsächlich abhängig von Bedingungen (pratyaya). (So) sind vier Arten von Irrtümern. Deshalb lehrt er: Zweckentsprechend ist es ausnahmslos nicht. Weshalb?

Das Leid, wenn selbst-gewirkt, ist nicht durch Bedingungen (pratyaya) entstanden. Weil diese skandhas sind, ist auch jener skandhas Entstehung. (XII. 2.)

Wenn das Leid selbst-gewirkt, dann ist es nicht durch Bedingungen entstanden. »Selbst« heißt »durch eigenes Wesen (svabhāva) entstanden«. Diese Sache ist nicht richtig. Weshalb? Abhängig von den früheren fünf skandhas sind die späteren fünf skandhas entstanden. Deshalb ist das Leid als selbst-gewirkt nicht möglich.

Frage: Wenn man sagt: »Diese fünf skandhas wirken jene fünf skandhas«, dann sind diese (durch) andere gewirkt.

Antwort: Diese Sache ist nicht richtig. Weshalb?

Wenn man sagt: »Diese fünf skandhas sind verschieden von jenen fünf skandhas«, so würde man alsdann[76] sagen: »Durch anderes gewirkt ist das Leid.« (XII. 3.)

Wenn diese fünf skandhas von jenen fünf skandhas verschieden sind, (und) jene fünf skandhas von diesen fünf skandhas verschieden sind, so wäre (es) durch anderes bewirkt. Wie, (wenn) Fäden und Tuch verschieden, ohne Fäden das Tuch sein würde. Wenn ohne Fäden Tuch nicht ist, dann ist Tuch nicht verschieden (von) den Fäden. So, (wenn) jene fünf skandhas verschieden (von) diesen fünf skandhas (sind), würden dann ohne diese fünf skandhas jene fünf skandhas sein. Wenn ohne diese fünf skandhas jene fünf skandhas nicht sind, dann sind diese fünf skandhas nicht (von) jenen fünf skandhas verschieden. Deshalb sollte man nicht sagen: »Leid ist durch anderes bewirkt.«

Frage: Selbst wirkend ist dieser Mensch; das von ihm selbst gewirkte Leid empfindet er als Leid.

Antwort:

Wenn der Mensch selbst das Leid bewirkt, wie ist jener Mensch ohne Leid? Aber nennt jenen Menschen, der selbst Leid bewirken kann! (XII. 4.)

Wenn man sagt: »Der Mensch selbst bewirkt Leid«, (dann ist) ohne die fünf skandhas das Leid; wo besonders ist der Mensch, der selbst Leid bewirken kann? (Es) wäre zu sagen: dieser Mensch ist nicht lehrbar (d.h. aufzeigbar). Deshalb ist das Leid nicht (durch) den Menschen selbst gewirkt. Wenn man sagt: »Der Mensch wirkt nicht selbst Leid, jener Mensch wirkt Leid (und) überträgt es auf diesen Menschen« – das auch ist nicht richtig. Weshalb?

Wenn das Leid (durch) einen anderen Menschen gewirkt ist und auf diesen Menschen übertragen wird, wenn er ohne Leid sein soll, wer ist dieser Mensch, der empfängt? (XII. 5.)

Wenn ein anderer Mensch Leid bewirkt (und) es auf diesen Menschen überträgt, so ist ohne fünf skandhas nicht dieser Mensch annehmend. Ferner:

Wenn das Leid (durch) jenen Menschen gewirkt und auf diesen Menschen übertragen wird, welcher Mensch ist (dann) ohne Leid, der dieses übertragen kann? (XII. 6.)1[77]

Wenn man sagt: »Jener Mensch bewirkt Leid und überträgt es auf diesen Menschen«, dann (ist) Leid ohne fünf skandhas. Wer ist jener Mensch, der Leid bewirkt und es auf diesen Menschen überträgt? Wenn er ist, so würde (dessen) Eigenschaft (lakṣaṇa) gelehrt werden. Ferner:

(Wenn es) selbst-gewirkt nicht erreicht (wird), wie ist das Leid (durch) anderes gewirkt erreicht? Wenn ein anderer Mensch Leid bewirkt, dann auch heißt es »selbst-bewirkt«. (XII. 7.)

Aus verschiedenen Gründen wird jenes selbst-gewirkte Leid nicht erreicht; doch sagt man: »das (von) anderen gewirkte Leid.« Das auch trifft nicht zu. Weshalb? Weil dieser (und) jener wechselseitig abhängig sind. Wenn jener Leid bewirkt, so heißt es auch bei jenem »selbst-gewirktes Leid«. Das selbst-gewirkte Leid ist früher schon widerlegt. Da das von euch angenommene selbst-gewirkte Leid nicht erreicht wird, so wird auch das (durch) einen anderen gewirkte Leid nicht erreicht. Ferner:

Leid heißt nicht selbst-gewirkt, ein dharma ist nicht selbst-gewirkter dharma. Jener hat nicht eigenes Wesen: welches ist das von jenem gewirkte Leid? (XII. 8.)

Das selbst-gewirkte Leid trifft nicht zu. Weshalb? Wie ein Schwert nicht sich selbst schneiden kann, so kann ein dharma nicht sich selbst bewirken. Deshalb ist nicht möglich: »selbst-gewirkt«. »(Durch) anderes gewirkt« auch ist nicht richtig. Weshalb? Ohne Leid ist nicht jenes selbst-wesenhaft. Wenn ohne Leid jenes selbst-gewirkt ist, so könnte man sagen: »Jener bewirkt Leid«, (dann ist) jener auch eben dieses Leid. Wie ist das Leid selbst-gewirktes Leid?

Frage: Wenn (es) selbst-gewirkt und (durch) anderes gewirkt nicht erreicht (wird), so könnte (es) (durch) beides zusammen gewirkt sein.

Antwort:

Wenn dieses (und) jenes2 Leid erreicht wird, so würde aus beiden zusammen gewirktes Leid sein. Dieses (und) jenes ist schon nicht gewirkt, um wieviel mehr grundlos gewirkt. (XII. 9.)[78]

Selbst-gewirkt (und) (durch) anderes gewirkt dürften wohl schon fehlerhaft sein. Um so mehr grundlos gewirkt. (Bei) grundlos sind viele Fehler, wie im Abschnitt der Widerlegung von Tun und Täter3 gelehrt. Ferner:

Nicht nur lehrt er: »Das Leid wird in vierfacher Bedeutung nicht erreicht«: alle äußeren Dinge auch werden in vierfacher Bedeutung nicht erreicht. (XII. 10.)

Obwohl in dem Buddha-dharma gelehrt wird: »Die fünf upādāna-skandhas sind Leid«, sind außen(stehende) Leute, die sagen: »Leid-empfangen ist Leid.« Deshalb lehrt er: »Nicht nur (ist zu) lehren: ›Das Leid wird auf vierfache Weise nicht erreicht‹, sondern die äußeren Dinge, Erde, Wasser, Berg, Baum usw., alle dharmas ausnahmslos (auch)4 werden nicht erreicht.«

1

Dieser śloka fehlt in der tibetischen Version (Akutobhayā).

2

KE.: »jenes (und) dieses«.

3

8. Abschnitt.

4

Zusatz der TE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 75-79.
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