Neigen

[462] Neigen, verb. reg. act. nach einem niedrigern Gegenstande bewegen oder wenden, näher nach der Oberfläche der Erde zu beugen oder richten.

1. Eigentlich. 1) Überhaupt. Wenn nun eine Dirne kommt, zu der ich spreche: neige deinen Krug und laß mich trinken, 1 Mos. 24, 14. Ein Faß neigen, es hinten höher stellen, damit es vorne tiefer komme; es lüften, Nieders. es hellen, S. Neige. Der Bau hat sich ein wenig geneiget, im Oberdeutschen, wofür man im Hochdeutschen das Wort senken gebraucht. Eine Fläche neiget sich, wenn sie sich dem Mittelpuncte der Erde nähert, wenn sie abhängig ist. Die Bäume neigeten ihre Wipfel. Das Haupt neigen. Den Leib neigen, oder sich mit dem Leibe neigen, im gemeinen Leben sich bücken. Die biblische R.A. sein Ohr zu etwas oder zu einer Person neigen, mit Einfluß auf den Willen hören, ist ein Hebraismus. 2) In engerer Bedeutung ist sich neigen, sich aus Höflichkeit oder Ehrfurcht mit dem Leibe beugen, oder zur Erde senken; wo es in der anständigern Sprechart von beyden Geschlechtern gebraucht wird, dagegen sich im gemeinen Leben das männliche bückt, das weibliche aber verneigt oder einen Knicks macht. Sich vor jemanden neigen. Sich bis zur Erde neigen. Sie neigte sich freymüthiger als sonst. Bey dem Ottfried schon ginigen, der es aber ohne Vorwort mit der dritten Endung der Person gebraucht, gineig er imo filu fram; in Oberschwaben gneigen.

2. Figürlich. 1) * Sich zu jemanden neigen, dessen Bestes gern sehen und zu befördern suchen; eine veraltete Bedeutung, welche noch in der Deutschen Bibel vorkommt. Neige dich zu meinen Bitten, Canitz. S. Geneigt und Neigung. 2) Sich zu seinem Ende, zu seinem Verfalle neigen, sich demselben nähern. Wird sich der Krieg nicht bald zum Ende neigen? Meine Jahre neigen sich dem Alter. Die Welt neiget sich zum Ende. Es neiget sich mit ihm zum Verfalle. Dahin auch die absolute R.A. gehöret, der Tag neiget sich, nähmlich zu seinem Ende, welche R.A. in der Deutschen Bibel mehrmahls vorkommt.

Und gleichwohl neigt sich schon der kurze Tag, Weiße. Nach einer noch weitern Figur gebrauchte man neigen ehedem überhaupt für vermindern. Diu liebe wellen memen kummer neigen, Graf Kraft von Toggenburg.


Sit diu Sunne ir liehten Schin

Gegen der kelte hat geneiget,

Heinrich von Veldig.


S. die Neige. 3) Sich zu einer Sache neigen, dieselbe beschließen, und seine Kraft anwenden, diesen Entschluß zu vollziehen; welche R.A. in der philosophischen und dichterischen Schreibart noch am öftersten vorkommt. Das Herz zu etwas neigen, in der Deutschen Bibel. Jemandes Willen neigen, einen Entschluß[462] und Bemühung zu dessen Ausführung in ihm hervor bringen, dessen Willen lenken. Der Wille ist das Vermögen sich nach und durch Vorstellungen zu neigen. S. Geneigt.

So auch das Neigen.

Anm. Schon bey dem Kero kehneigen, bey dem Ulphilas hneiwan, bey dem Ottfried neigan, im Schwed. niga, im Angels. hnigan, im Isländ. hneiga, im Dän. neye, im Krainerischen nagmen, wohin auch das Griech. νευειν, und die Latein. nuo, nuco, nico, gehören, obgleich solche nur in eingeschränkterer Bedeutung von dem Neigen des Hauptes oder Nicken vorkommen. Neigen scheint das Intensivum von nahen zu seyn, wenigstens ist es mit demselben sehr genau verwandt. Das Frequentativum davon ist nicken. S. auch Knicken, Genick, Nacken, Knie u.s.f. welche insgesammt damit verwandt sind.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 462-463.
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