II. Aria und Lied

[403] Wir nähern uns, mit diesem Kapitel, das eher ein Intermezzo ist, dem letzten Abschnitt unserer Darstellung, den Kapiteln über die Oper. Aber haben wir uns je ganz von der Oper entfernt? Ist nicht fast die gesamte Instrumentalmusik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im allgemeinen und die Mozarts insbesondere durchdrungen vom Geist der Oper, und noch mehr vom Geist der Opera buffa als dem der Opera seria? Verwendet nicht Mozart dasselbe Verfahren für die Zusammenfassung eines Gloria- und Credo-Satzes zur musikalischen Einheit, wie er es für das Finale einer Opera buffa verwendet? Sind seine solennen Messen, seine Litaneien nicht bereits voll von »profanen« Arien, kaum zu unterscheiden von Arien aus einer italienischen Opera seria? Aus einer italienischen Opera seria. Nirgends zeigt sich die rein italienische Stilherkunft Mozarts reiner als in der Aria, als in allen Formen, die mit Oper näher oder entfernter zu tun haben. In der Instrumentalmusik konnte er sich dem Französischen einigermaßen nähern. In Schobert, Eckard, Honnauer, Raupach hat er französische oder halbfranzösische Pariser Vorbilder und ahmt sie nach. Als er dann wieder in Paris war, im Mai und Juni 1778, hat er für Noverre, den großen Reformator des Balletts, 13 oder 14 Musikstücke geschrieben, zu einem Ballett mit dem Titel »Les petits riens« gehörig, das als Entreacte in Aufführungen von Buffo-Opern Piccinnis und Anfossis eingelegt wurde. Sie sind gleichzeitig mozartisch und sehr französisch, diese Ouvertüren, Andantinos, Larghettos und Gavotten, und man wird in Mozarts Werk kaum etwas gallisch Pointierteres finden als die längere »Gavotte joyeuse« in F und die kürzere »Gavotte gracieuse« in A, oder als die pastorale Pantomime, mit ihren koketten Staccati, Trillern, Vorschlägen, rhythmischen und melodischen Pikanterien. Für die Vokalmusik haben wir nur ganz wenige Beispiele des Französischen in Mozarts Gesamtwerk. Ja, er hat zwei »Arietten« auf französischen Text geschrieben – auf die wir zurückkommen. Aber mit der französischen Oper hat er sich nicht befaßt, obwohl er sich sehr wohl zutraute, eine zu komponieren[404] – er spricht einmal wieder, wie so oft, von seinem unbezwinglichen Drang, Oper zu schreiben, sei es auf deutschen, französischen oder italienischen Text: »französisch lieber als deutsch, italienisch lieber als französisch«. Aber der französischen Oper fehlt die Aria wie Mozart sie verstand. Als der junge Mozart, 1763 oder 1764, die Académie royale, die Große Oper besuchte, muß es ihm (und Leopold) genau so gegangen sein wie wenige Jahre vorher dem wackeren Carlo Goldoni, der sich so gut auf neapolitanische und venezianische Opera buffa und Opera seria verstand. Sein Bericht ist zu charakteristisch, um ihn nicht zu zitieren (Mémoires, Paris 1787; ich benutze die Übersetzung von L. Lorme, Wien 1923): »Das Orchester setzte ein, ich fand das Zusammenspiel der Instrumente ganz hervorragend und von größter Genauigkeit. Aber die Ouvertüre erschien mir kalt und schleppend. Das war sicherlich kein Rameau. Denn ich hatte seine Ouvertüren und seine Ballettmusik schon in Italien gehört« (vermutlich in Parma, dem Einfallstor der französischen Oper nach Italien). »Die Handlung begann, doch wie gut mein Platz auch war, ich konnte kein Wort verstehen. So harrte ich geduldig der Arien, von deren Musik ich mir Vergnügen versprach. Die Tänzer erschienen, und ich glaubte den Akt zu Ende. Und es war noch keine Arie vorgekommen! Ich fragte meinen Nachbar, der sich über mich totlachen wollte und versicherte, es wären in den verschiedenen Szenen, die ich gehört, sechs Arien gewesen. Ich hatte alles für Rezitativ gehalten ...« Die Chöre machen mehr Eindruck auf Goldoni, aber er vergleicht sie den Psalmen von »Corelli, Biffi und Clari«, was gerade kein Kompliment ist für Theatermusik. Am Schluß singt eine der Sängerinnen, begleitet von Chor und Ballett, eine Chaconne, die mit der Oper keinen Zusammenhang hat, und »dieses unerwartete Vergnügen hätte das Ganze etwas beleben können, war aber eher eine Hymne als eine Arie zu nennen«. Sein Urteil über die französische Oper faßt der sonst so liebenswürdige Verfasser des »Burbero benefico«, der »Locandiera« und der »Bottega del caffè« in den Satz zusammen: »Es ist ein Paradies für die Augen, und eine Hölle für die Ohren.« Nun, Mozart, aufgewachsen in der italienischen Atmosphäre Salzburgs, hat sich nicht einmal für sein Recitativo[405] accompagnato durch das »Ewige Rezitativ« der französischen Oper beeinflussen lassen.
Im Frühjahr 1764 kommt er nach London und atmet in der Oper wieder heimatliche italienische Luft. Er trifft auf den Meister, der ihm bis in die ersten Wiener Jahre hinein ein Vorbild in so vielen Formen gewesen, Johann Christian Bach, und auf den Sänger, Giovanni Manzuoli, über dessen Stimmorgan und Vortrag man nur Burneys Charakteristik zu lesen braucht, um das Ideal Mozarts zu erkennen: »the most powerful and voluminous soprano that had been heard on our stage since the time of Farinelli, and his manner of singing was grand and full of taste and dignity.« Wenn Johann Christian und der junge Mozart – der später das Glück hat, in seinem »Ascanio in Alba« für Manzuoli als Protagonisten zu komponieren – diesen Kastraten vor Augen haben, so wird beinahe dasselbe Stimmporträt daraus. Vorläufig komponiert der Knabe allerdings nicht für Protagonisten. Sein erster Versuch in der Komposition für die Bühne ist eine Arie für einen »Sekondarier«, den Tenoristen Ercole Ciprandi, der damals am King's Theatre eine Vaterrolle in Metastasios »Ezio« sang – einem Pasticcio, das heißt einer Oper, deren Arien von verschiedenen Komponisten stammten. (K. 21; »Va dal furor portata«). Dieselbe Aria war, außer von Ungezählten andern, einige Jahrzehnte vorher (1732) von Händel komponiert worden, leidenschaftlich, aber konzentriert, wie es sich für einen Sekondarier und den dramatischen Moment gebührte: ein intriganter Vater ruft seiner etwas zu gewalttätigen Tochter einige Vorwürfe hinter die Szene nach. Der junge Mozart »verhaut« sich vollständig; er schreibt eine in der Begleitung – trotz verhältnismäßig bescheidener Besetzung – überladene Bravour-Aria konventionellster Art. Der spätere Komponist des »Don Giovanni« hat noch keine Ahnung von der dramatischen Funktion, der »Decenz« einer Aria, und er will sich eben für seinen Sänger hervortun, wie das die anderen an dem Pasticcio Beteiligten vermutlich ebenfalls getan haben. Worin bestand die Konvention der Aria? In ihrer instrumentalen, »monumentalen« Anlage. Sie ist ein Concerto en miniature, in dem die Stimme das Soloinstrument vertritt. Das[406] historisch Merkwürdige an ihrer Entstehung ist nur, daß die Form der monumentalen Aria, bei Alessandro Stradella, bei Alessandro Scarlatti, früher fertig war als das Concerto, daß das Concerto sich nach der Aria modellierte. Aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnte man die Aria wirklich ein kleines Concerto für einen Vokalisten mit Orchesterbegleitung nennen, wobei die Stelle des Andantinos durch eine meist sehr kurze, in der Tonart und der Reduzierung der Begleitung kontrastierende »seconda parte« vertreten wurde und an Stelle des dritten Satzes die »prima parte« einfach wiederholt wurde. Diese Prima parte war, als Schema, genau angelegt wie der erste Satz eines Concerto: Ritornell des Tutti – Eintritt des Solisten; Modulation zu einer der nächstverwandten Tonarten, und ähnliche Verteilung der Rollen, manchmal mit lebhafterem Dialog zwischen Tutti und Soli; und endlich Reprise, manchmal mit Coda. Bei der Wiederholung dieses Concerto en miniature war der Sänger gehalten, das Interesse an seiner Leistung durch gesteigerte Ornamentierung seines Parts zu erhöhen. Es war eine Kunst musikalischer Statik, bei der der Musiker durchaus im Dienst des Sängers stand – so wie die ganze Oper, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, im Dienst des Sängers stand. Aber Oper ist ein höchst bedingtes und in der Mischung kompliziertes Werk der Kunst, in dem die Ingredienzen niemals dieselben bleiben – bald ist es das Drama, das dominieren möchte, bald die Musik, bald der Maschinist und Inszenator, bald der Sänger; und wenn es dem Komponisten gelingt, sich zur Hauptperson zu machen, so hat er in sich selber den Kampf zwischen Musik und Drama, zwischen Stimme und Orchester auszukämpfen. Die monumentale Aria ist in der Operngeschichte das Symbol des Triumphs des Sängers, des »primo uomo«, der »prima donna«; sie war der Fluch für das Drama in der Oper. Im Konzertsaal, im Oratorium war sie eine durchaus legitime Form, und so wundern wir uns nicht, daß Mozart sein ganzes Leben hindurch Konzertarien komponiert hat, an die er seine ganze Kunst der Erfindung für die Stimme, den ganzen Reichtum seines Orchesters gewandt hat.
Die erste dieser Arien für Konzert, im Haag 1765 komponiert und im Januar 1766 überarbeitet, ist nach der Väter-Aria für[407] Ciprandi drolligerweise eine Mutter-Aria, Metastasios »Artaserse« entnommen: »Conservati fedele« (K. 23): Mutter Mandane ermahnt ihren scheidenden Sohn: »Bleibe treu, denk daran, daß auch ich bleibe und leide, und erinnere dich meiner manchmal; denn ich, kraft meiner Liebe, sooft ich mit meinem Herzen rede, werde mit dir mich unterhalten.« Was bleibt übrig, als dergleichen wie ein Andante amoroso eines Divertimento zu komponieren? Die Arie ist viel einfacher – nur Streicherbegleitung – als die für Ciprandi, aber in ein paar chromatischen Wendungen und Wiederholungen – »ricordati!« – »Vergiß mich nicht!« – schon ganz mozartisch.
Es besteht in diesem Buch keineswegs die Absicht, jede einzelne Aria Mozarts zu analysieren. Nach Salzburg zurückgekehrt, schreibt er zwei sogenannte »Licenze«, das heißt Stücke, in denen nach dem Ende einer Oper der erlauchteste Zuhörer direkt apostrophiert wurde. In Wien wuchs sich eine solche Licenza zu einer Miniaturszene aus, in der meistens der ganze Olymp aufgebaut wurde; in Salzburg tat man es bescheidener. Die beiden Arien, die eine für Tenor (K. 36), die andre für Sopran (K. 70) sind ebenso bravourös wie provinziell. In Italien, mit der Gewißheit, eine ganze Oper komponieren zu dürfen, schreibt Mozart dann zur Übung eine ganze Reihe von Arien und Szenen, wobei ihm offenbar der Vater aus Metastasio die Texte heraussucht, die die verschiedensten Aufgaben stellten. In einer der am größten angelegten (K. 88, »Fra cento affanni e cento«) erspart uns Mozart zum ersten Male die volle Reprise: nur die zweite Hälfte des Hauptteils wird wiederholt. Als idealen Sänger hat Mozart immer Manzuoli im Ohr; und ein kleiner Vergleich zweier Einsätze mag andeuten, welches Modell er in Erinnerung hatte:
2. Aria und Lied

Das zweite Inzipit ist der Beginn einer Aria, gesungen von[408] Manzuoli in Johann Christian Bachs »Adriano in Siria«, den Mozart 1765 in London gehört hatte – er hat genau diese Aria in Mannheim für seine geliebte Aloisia »mit ausgesetztem gusto«, das heißt mit Verzierungen versehen. Mozarts Aria ist, dank diesem »Sprungbrett« ein so hervorragendes Stück geworden, daß man es, ohne Kenntnis des Datums der Entstehung, in viel spätere Zeit setzen würde, wäre nicht wiederum die Überladung des orchestralen Parts.
Da, seit dem »Mitridate«, Mozart reichlich Gelegenheit hat, die längsten Opern zu schreiben, zum mindesten Opere serie, Feste teatrali und Oratorien, so schreibt er auch keine Arien als Übungsstücke mehr; nur in einzelnen Opern fällt einiger Überschuß ab in Form von früheren Versionen – Beweise, wie ernst er es genommen hat. Erst im Jahre 1775, nach der Aufführung der »Finta giardiniera« in München, finden sich wieder einige einzeln stehende Arien, und zwar als Einlagen oder Ersatzstücke für Buffo-Opern, die eine italienische Wandertruppe damals nach Salzburg gebracht haben muß. Für die ersten beiden Arien dieser Art, »Si mostra la sorte« (K. 209) und »Con ossequio, con rispetto« (K. 210) ist es mir unmöglich, die Oper anzugeben, in die sie eingelegt wurden. Gesungen werden sie beide von einem »tenorino di garbo«, einem munteren Liebhaber, der offenbar der Rivale eines einflußreichen alten Narren, eines Pantalone ist. In der ersten singt er das Lob eines planvollen Draufgängertums in der Liebe; in der zweiten komplimentiert er ironisch, mit drolligen da-parte-Stellen, den alten Esel. Schon in diesen beiden Stücken zeigt sich, daß Mozart, der geborne Buffonist, innerlich, nicht bloß musikalisch, stärker beteiligt ist als an der Opera seria – und zeigt sich die Überlegenheit der Opera buffa als Gattung der Zukunft. In der Opera buffa steckt, von allem Anfang an, ein Stück Parodie der Opera seria, sie war freier, unabhängiger von Tradition, sie war antiheroisch, sie hatte eine unmittelbarere Beziehung zum Leben, und so hat sie wohl immer Form, aber kein Schema der Form. Und so ist auch die Begleitung niemals Schmuck oder Prunk, sondern lebendiger Witz, zum mindesten immer bei Mozart. Wie entzückend die Pikanterie des Interludiums nach dem amourösen Beginn der ersten Arie:
2. Aria und Lied

[409] In einer dritten Buffo-Aria, vom Herbst desselben Jahres 1775, kommen wir auf sichereren Boden (»Voi avete un cor fedele«, K. 217). Sie ist ein Ersatzstück für Baldassare Galuppis »Le nozze«, seit der ersten Aufführung in Bologna 1755 eines der großen Erfolgsstücke des liebenswerten »Buranello«, den man wohl den Vater der venezianischen Opera buffa nennen kann. Die Hauptperson in Goldonis Libretto, die Kammerzofe Dorina, soll sich nach dem Willen ihrer Herrschaft zwischen zwei Liebhabern, den Domestiken Titta und Mingone, entscheiden, die sie beide nicht mag, weil der »lachende Dritte«, der Verwalter Masotto, längst heimlich den Sieg bei ihr davongetragen hat. Im Original adressiert Dorina beide Rivalen, die sie an der Nase herumführt:
2. Aria und Lied

Aber die Truppe, die nach Salzburg gekommen war, war offenbar in ihrem Personal so reduziert, daß für Titta und Mingone nur ein Liebhaber ins Treffen geführt werden konnte, den Dorina nun auf liebenswürdigste Weise abführt:
2. Aria und Lied

»Euer Herz mag treu sein«, sagt sie, »solange ihr im Stadium leidenschaftlicher Verliebtheit seid; aber wie wird's werden in der Ehe? Ich trau' euch nicht und will mich nicht binden!« Und in dieser Rondo-Aria, deren Bau man schematisch wiedergeben könnte mit A (Andantino grazioso) – B (Allegro) – a' (= verkürztes und variiertes A) – B' – A'' (noch mehr verkürztes A) – C (Allegro spiritoso), zeigt sich die ganze Feinheit und Überlegenheit der Opera buffa über die Seria: keine stereotype[410] Wiederkehr zum Anfang, sondern dramatische Entwicklung, musikalisches Abbild eines szenischen Vorgangs – selbst die Koloratur, reichlich auch hier, gewinnt den Reiz der Geste, der psychologischen Anschaulichkeit, der Koketterie, des Humors. Es ist kein Wunder, daß die Opera buffa immer mehr zur Todfeindin der Seria wird, ohne es zu wollen; daß sie sie zwingt, sich ihr anzugleichen; daß sie die Unnatur der hochgestelzten »Aria monumentale« immer mehr bloßstellt.
Mit einer andern Aria oder vielmehr Scena, aus diesem Herbst 1776, hat sich Mozart nicht nur der Opera buffa, sondern der Commedia dell'arte genähert (»Clarice cara mia sposa«, K. 256). Es ist eine Einlage oder ein Ersatzstück für Piccinnis »L'astratto ovvero Il giocatore fortunato«. Die Situation ist ungefähr die folgende: Capitan Faccenda (auf Süddeutsch: Gschaftlhuber) entwickelt mit ungeheurer Volubilität der Zunge die Vorzüge, über die seine künftige Gattin Clarice verfügen müsse, indes Clarices Vater, Don Timoteo, schwache Versuche macht, diesen Wortkatarakt zu unterbrechen. Es sind zwei stehende Figuren der improvisierten Commedia, die da erscheinen, und so begnügt sich Mozart, ohne tiefer zu charakterisieren, mit einem bloßen Crescendo, das zu gleichen Teilen erinnert an Don Bartolos Arie in den »Nozze« wie an Basilios Verleumdungs-Aria im »Barbiere« Rossinis. Die komische Wirksamkeit ist überwältigend. Viel interessanter ist jedoch, daß der Prozeß der Auflösung der Monumentalität oder Stereotypität in einer Aria seria schon weit vorgeschritten ist in einer Scena, die Mozart für den Altkastraten der Wandertruppe von 1776 geschrieben hat: »Ombra felice – Io ti lascio, e questo addio« (K. 255). Er hieß Francesco Fortini, und die Truppe stand unter dem Oberbefehl des »Capo Comico« Pietro Rosa. Einem langen, hochdramatischen Recitativo accompagnato folgt ein Gesangsrondo, dessen Text und Struktur Mozart seinem geliebten Johann Christian Bach entnommen hat. Bach (1774) schreibt ein Konzertstück für Sopran, obligate Oboe und obligates Klavier, von größtem melodischem Schmelz und feiner Durchbildung; aber Mozart gibt ihm nichts nach, trotz viel einfacherem Orchesterapparat, und erfüllt das Stück trotz großen Umfanges mit dramatischem Gefühl.[411] Von nun an schreibt Mozart kaum mehr eine gleichgültige oder schematische Konzertarie oder Einlage in eine fremde Oper, und es ist zu betonen, daß er in solchen Einlagen niemals eine Spur von »Kollegialität« zeigt, das heißt: niemals auf die Eigenart des Komponisten der betreffenden Oper eingeht – wobei er meist unter sein Niveau hätte heruntergehen müssen –, sondern immer sein Allerbestes liefert. In seinen reinen Konzertarien ist er manchmal »dramatischer« als in seinen Opern – da eben die Phantasie die Situation zu supplieren hat. Das gilt sogleich von der ersten dieser Arien, die weder »Übung« noch Einlage ist, der Scena »Ah, lo previdi ... Ah, t'invola ... Deh, non varcar« (K. 272), die er im August 1777 für Josefa Duschek, geborne Hambacher, Gattin des Prager Pianisten und Komponisten Franz Duschek, die »böhmische Gabrielli«, geschrieben hat. Das war das erste Zusammentreffen mit Josefa, das zu langjähriger guter Kameradschaft führen sollte – in der »Bertramka« in Smichov bei Prag, dem Landhäuschen der Duscheks, hat Mozart die letzten Takte des »Don Giovanni« geschrieben. Der Grund ihres Kommens war ein Besuch bei ihrem Großvater Weiser, einem reichgewordenen Handwerksmann, den sie später beerbte. Bei diesem ersten Zusammentreffen war es, auf Mozarts Seite, vielleicht sogar mehr als Kameradschaft, nämlich ein bißchen Verliebheit, denn Josefa war damals jung – nur wenig älter als Mozart selbst –, schön und lebhaft. Die Bühne hat sie nie betreten; sie war, was man heute eine Konzert- und Oratoriensängerin nennen würde. Das spätere Urteil über ihre Persönlichkeit und ihre Kunst ist schwankend. Sie galt als die Geliebte des Grafen Clam, und ihre Stimme scheint bald den Schmelz verloren zu haben: die bösesten Urteile über sie stammen von Leopold Mozart und – Friedrich Schiller.
Jedenfalls: Mozart hat kaum etwas mit größerem Ehrgeiz und von stärkerem dramatischem Ausdruck geschrieben als diese Aria. Der Text ist der »Andromeda« des Paisiello entnommen, 1770 in Mailand aufgeführt – Mozart hat offenbar damals das Libretto, das wohl von seinem eigenen Librettisten, V.A. Cigna Santi, stammt, in die Hand bekommen, und die Situation ist ihm in Erinnerung geblieben. Sie ist sehr kompliziert.[412] Andromedas Geliebter scheint von ihrem Retter Perseus eine tödliche Wunde empfangen zu haben, und die Verwirrung ihrer Gefühle steigert sich zu einem Grade, an dem äußerster Schmerz umschlägt in sanft-wilde Verzückung: Andromeda will sterben, will den sterbenden Geliebten am andern Ufer des Lethestromes erwarten. Als Mozart, wenig später, seiner Aloisia die Szene einstudiert, empfiehlt er ihr die größte dramatische Wahrheit (30. Juli 1778): »... ich empfehle Ihnen so viel als möglich Ausdruck – bedenken Sie wohl den Sinn und die Gewalt der Worte – versetzen Sie sich ernstlich in den Zustand und die Lage Andromedas! – und stellen Sie sich vor ein und dieselbe Person mit ihr zu sein ...« In der Tat: dies ist keine Kantate mehr im herkömmlichen Sinn, in der zwei im Ausdruck gegensätzliche Arien durch Rezitativ eingeleitet und verbunden werden. Die Beseelung, die Feinheit der musikalischen Erfindung, die Schönheit und Gewalt des Ausdrucks bei sparsamsten Mitteln – kleines Orchester, nur Oboen und Hörner zu den Streichern – sind von Mozart selbst nie übertroffen worden, und in der Lauterkeit und Wahrheit seines Gefühls vergißt er diesmal vollständig auf das, was er selber »geschnittne Nudeln« genannt hat: auf die kleinste Koloratur.
In folgenden Konzertarien, für Aloisia selbst geschrieben, vergißt er sie leider nicht. Denn die Geliebte soll ihre ganze Kunst zeigen, und zur Kunst des Gesangs gehört Koloratur. Die erste dieser Arien, »Alcandro, lo confesso ... Non so, d'onde viene«, vom 24. Februar 1778, war ursprünglich bestimmt für den Tenoristen Anton Raaff, eins der berühmten Erbstücke der Mannheimer Oper, für den Mozart wenig später die Rolle des Idomeneo schreiben sollte, und damals schon ein alter Herr von 64 Jahren. Und gleichzeitig ist es ein Stück des Wettbewerbs mit einer Lieblingsaria Mozarts von Johann Christian Bach: – Mozart hatte sie 1765 in jener Aufführung des »Ezio« von dem Tenoristen Ciprandi singen hören, für den er selber seinen ersten Arienversuch beigesteuert hatte. Über die Entstehung keines andern Werkes von Mozart sind wir so genau unterrichtet wie über dieses (28. Februar 1778): »... Diese aria habe ich anfangs dem Raf zugedacht, aber der anfang gleich schien mir für den Raff zu hoch, und um ihn zu ändern gefiel er mir zu[413] sehr, und wegen sezung der instrumenten schien er mir auch für einen sopran besser, mithin entschloß ich mich diese aria für die Weberin zu machen; ich legte sie beyseit, und nahm die Wörter se al labro &c. für den Raff vor: ja, da war es umsonst; ich hätte ohnmöglich schreiben können, die erste aria kamm mir immer in kopf. mithin schrieb ich sie und nahm mir vor, sie accurat für die weberin zu machen. es ist ein Andante sostenuto (vorher ein kleins Recitativ), in der mitte der anderte theil, nel seno à destarmi, dann wieder das sostenuto ...« Der Text der Aria, aus Metastasios »Olimpiade«, hat Sinn nur im Mund eines Mannes: König Clistene erblickt einen Unbekannten, der in Wirklichkeit sein totgeglaubter Sohn ist, und wird der seltsamen Gefühle der Sympathie inne, die ihn unwillkürlich ergreifen. Bei Mozart verwandelt sich der Text in eine Liebeserklärung: »Ich weiß nicht, woher mir jene zärtliche Zuneigung kommt, jene Erregung, die unbewußt die Brust mir füllt, der Frost, der mir die Adern durchläuft: – So heftige Gegensätze in meinem Busen zu erwecken, genügt – so scheint mir – nicht das bloße Mitleid.« Nichts ist lehrreicher als der Vergleich der beiden Arien Johann Christians und Mozarts, für den Beweis, was Mozart von seinem Vorbild gelernt hat und was er von keinem Vorbild lernen konnte. Mozart folgt Johann Christian genau in der äußern Anlage: Hauptteil im Dreivierteltakt, Mittelteil (Allegro assai) im geraden; Wiederholung oder Rückkehr. Aber bei allem melodischen Reiz: wie schematisch in der Form und wie neutral im Ausdruck ist das alles bei Johann Christian gehalten, im Vergleich zu Mozarts Reichtum, Feinheit der Übergänge, zitternder Belebung jeder Einzelheit! Wir begreifen, wenn Mozart selber sagen muß: »Das ist nun ihre beste Aria, die sie hat ... Der Orchestre« (diesmal verwendet Mozart Flöten, Klarinetten, Fagotte, Hörner) »hat nicht aufgehört, die Aria zu loben und davon zu sprechen.« Sie wird in der Tat ein Favoritstück Aloisias und bleibt das noch in Wien.
Noch zwei Konzertarien hat Mozart in Mannheim geschrieben: die eine endlich für den alten Raaff selber (K. 295) und die andre für Dorothea Wendling, die Gattin des Flötisten der Hofkapelle und einstige Mätresse des Kurfürsten (»Basta, vincesti« – »Oh, non lasciarmi, no«, K. 486a). Über die Entstehung[414] der ersten hat er uns wieder sehr genaue Auskunft gegeben (28. Februar 1778): »... gestern war ich beym Raff, und bracht ihm eine aria die ich diese täge für ihn geschrieben habe. Die wörter sind: se al labro mio non credi, bella nemica mia etce: ich glaub nicht das der text vom Metastasio ist. Die aria hat ihm überaus gefallen. mit so einem Mann mus man ganz besonders umgehen. ich habe mit fleis diesen text gewählet, weil ich gewust habe, daß er schon eine aria auf diese wörter hat; mithin wird er sie leichter und lieber singen, ich habe ihm gesagt, er soll mir aufrichtig sagen, wenn sie ihm nicht taugt, oder nicht gefällt; ich will ihm die aria ändern wie er will, oder auch eine andere machen. behüte gott, hat er gesagt, die aria muß bleiben, denn sie ist sehr schön, nur ein wenig bitte ich sie, kürzen sie sie mirs ab, denn ich bin izt nimmer so imstande zu soutenieren. von herzen gern, so viell sie wollen, habe ich geantwortet; ich habe sie mit fleis etwas länger gemacht, denn wegschneiden kann man allzeit, aber dazusezen nicht so leicht. nachdemm er den andern theil gesungen hat, so that er seine brülle herab, sah mich groß an, und sagte – – schön, schön! das ist eine schöne seconda parte; und sange es 3 mahl. als ich weggieng, so bedanckte er sich sehr höflich bey mir; und ich versicherte ihn im gegentheil, daß ich ihm die aria so arangieren werde, daß er sie gewis gerne singen wird; denn ich liebe daß die aria einem sänger so accurat angemessen sey, wie ein gutgemachts kleid ...« Man sieht, Mozart war noch sehr unähnlich moderneren Musikern, die ihre Gesangslinien sozusagen in die Luft hineinzogen und auf eine Generation von idealen Sängern der Zukunft rechneten. Mozart war nicht gehemmt durch die Vorstellung seiner Sänger und und Darsteller, sondern im Gegenteil beflügelt. So ist uns diese Aria zum vollendeten Stimm- und Vortragsporträt des berühmten alten Tenoristen geworden, der, wie eine alte Quelle (Lipowsky, Baierisches Musiklexikon) sagt, »noch in alten Tagen mit Gefühl und einer entzückenden Anmuth sang«: im Umfang einer Dezime eine vollendete, ruhige, lyrische Kantabilität; der Mittelteil, der Raaff so besonders gut gefiel, ein Dokument Mozartscher Schalkhaftigkeit, denn er wirkt ein wenig altväterisch à la Hasse – da Mozart natürlich den alten[415] Herrn durch keinen Exzeß, keine Kühnheit, keinen revolutionären Zug erschrecken wollte. Im Orchester »sitzt« jede Note: wie weit entfernt ist Mozart jetzt von seinem jugendlichen Eifer, jedes Instrument so viel als möglich »arbeiten« zu lassen! Dabei ist keiner der Bläser etwa konzertierend behandelt; es ist eine Aria ohne jede Virtuosität.
Ganz ähnlich, nur im kleineren Format, ist die Aria für Dorothea Wendling, die Mozart am 27. Februar skizzierte und später auch im Orchester (Flöten, Fagotte, Hörner) ausführte. Den Text, aus Metastasios »Didone«, hatte die Sängerin selber ausgesucht, und er ist nicht unangemessen: Dido, nach einer Szene geheuchelter Verachtung oder Gleichgültigkeit, streckt plötzlich die Waffen – es ist ein verzweifelter Ausbruch, ein hemmungsloser Umschlag des Gefühls. Auch diesmal nimmt Mozart Rücksicht auf die Konvention der Arienform, auf die offenbar nicht mehr allzu reichen Mittel der Sängerin; aber auch diesmal ist ihm unmöglich, dem Schema treu zu bleiben. Er komponiert nicht etwa eine besondere Seconda parte, sondern den ganzen achtzeiligen Text in einem innig fortfließenden melodischen Strom, und schiebt vor der – stark gesteigerten – Wiederholung lieber ein kurzes, freies Rezitativ ein. »Andantino espressivo«! lautet die Überschrift: aus der Monumentalaria ist die Szene geworden. In Paris, im Juni 1778, entwirft Mozart für Aloisia eine neue große Szene und wählt dafür als Vorwurf die Ansprache der Königin ans tessalische Volk aus Calzabigi-Glucks italienischer Fassung der »Alceste«. Vollendet hat er sie erst am 8. Januar 1779 in München, einige Wochen nach dem Bruch mit der Geliebten – es ist, als wenn er damit den Schlußstrich unter das Verhältnis hätte setzen wollen. Ob er damals noch der Ansicht über das Stück war, die er in einem Brief an Aloisia vom 30. Juli 1778 geäußert hat: »... non posso dir altro, che, trà le mie composizioni di questo genere – devo confessare che questa scena è la megliore ch'hò fatto in vita mia ... ich kann nichts andres sagen, als daß unter meinen Arbeiten dieser Art ich gestehen muß, daß diese Scene die beste ist die ich in meinem Leben gemacht habe ...«[416] Das ist sie vielleicht im Sinn der äußeren Steigerung, vom Rezitativ (Andantino sostenuto e languido) zur Aria (Andantino sostenuto e cantabile) und bis zur »Stretta« (Allegro assai). Und sie ist es vielleicht in der orchestralen Behandlung: diesmal zu den Streichern und dem Hörnerpaar eine Solo-Oboe und ein Solo-Fagott; eine Behandlung, die an Feinheit wirklich einen Gipfel darstellt. Aber je weiter Mozart in der Komposition fortschreitet, um so mehr denkt er an den Erfolg der geliebten Virtuosin mit ihren erstaunlichen Spitzentönen, und um so weniger an die dramatische Situation, an die Königin, die Gattin, die Mutter. Er übertrifft Gluck bei weitem an Musikalität, Können, Erfindung, aber sein Vortragsstück »riecht nach Musik«. Weit höher steht die Szene »Ma, che vi fece, o stelle ... Sperai vicino il lido« (K. 368) aus Metastasios »Domofonte«, die er nach Vollendung des »Idomeneo« in München geschrieben hat, vermutlich für Elisabeth Wendling, die Darstellerin seiner Elettra. Sie ist ebenso bravourös wie die für Aloisia, wenn auch für eine pastosere, heroischere Stimme geschrieben, aber die Bravour ist bis zum höchsten Ton erfüllt von echter Passion, und die Freiheit der Form ist so weit getrieben, daß von der »aria monumentale« nichts mehr übriggeblieben ist: Form wird diktiert von der Seele. Wenn es im Text heißt: »Will ich einen tückischen Felsen vermeiden – stoß' ich auf einen andern, viel schlimmer als der erste«, schleudert Mozart wirklich die Modulation gleichsam von Klippe zu Klippe: in 13 Takten werden wir von Es nach A geworfen. Das gewaltige Stück ist der Werke würdig, in deren Zeit es fällt: des d-moll-Kyrie, der »Gran partita«. Es ist ebenfalls ein Stück innerer Revolte: viel zu frei und groß für Salzburg. Das letzte Stück dieser Art, und überhaupt das letzte Werk, das Mozart vor der Übersiedlung nach Wien geschrieben hat, am 8. März 1781 in München, ist eine Scena aus Metastasios »Ezio«: »Misera dove son ... Ah! non son'io che parlo« (K. 369) – eine Gefälligkeitsarbeit für die damalige Favoritin Karl Theodors, die Gräfin Baumgarten, née Lerchenfeld. Aber sie ist, trotz der bescheidenen Besetzung, viel mehr als ein Gefälligkeitsstück, und die dramatische Situation ist diesmal aufs vollste erfaßt. Es ist die letzte Aria der Fulvia, jener uns von einer früheren Arie her bekannten leidenschaftlichen Dame; es ist ein Moment, wo[417] alles verloren scheint und die Leidenschaft der hoffnungslosen Resignation weicht. Im 18. Jahrhundert, da jeder den hundertmal komponierten Text kannte, hatte man noch das Verständnis für die Situation; für spätere Zeiten ist ein solches Stück fast ganz verloren. Mozart hat einen wunderbaren Ausgleich gefunden zwischen den Forderungen des Textes und den Mitteln der hochgestellten Sängerin, von der er nicht verlangen konnte, was er von einer professionellen verlangt hätte. Ein reines Konzerstück für einen Kastraten dagegen ist das Gesangsrondo »Or che il cielo a me ti rende«, das Mozart im April 1781, noch im Dienst des Erzbischofs, für den Salzburger Sänger Ceccarelli geschrieben hat (K. 374). Ceccarelli sang es in einer Akademie am 8. April und mußte es wiederholen. Man kann es genießen ganz wie ein Instrumental-Rondo, und es ist von ebenso feiner Sinnlichkeit und Grazie – ohne jede Passion – wie das Rondo für Violine, das der Salzburger Geiger Brunetti im selben Konzert vortrug (K. 373), nur daß es eben durch ein Rezitativ eingeleitet ist.
In Wien beginnt nun eine ungleiche Kette von Arien und andern Gesangsstücken –, ungleich je nach Gelegenheit und Bestimmung. Da ist eine Art von »Licenza« in deutscher Sprache (K. 383), die Aloisia im April 1782 beim letzten Auftreten auf einer der Wiener Bühnen gesungen haben muß: sentimental und philiströs, wie Mozart sehr selten und nur auf deutsch ist. Dagegen hat er seinen vollen Ehrgeiz wieder an eine Scena (»Mia speranza adorata« – »Ah non sai«, K. 416) gewandt – eine große Abschiedsszene, der Text entnommen einer »Zemira« Anfossis, die im Karneval 1782 in Venedig aufgeführt worden war. Sie ist das Gegenstück zu jener Mannheim-Münchner-Scena, die Mozart für sein bestes Stück erklärt hatte; sie ist ebenso bravourös, aber noch freier in der Form und innerlicher in der Erfindung; und man merkt deutlich, die Stimme, die Künstlerschaft Aloisias war ihm noch nicht gleichgültig geworden, und vielleicht auch noch nicht ihre Trägerin. Er hat bald Gelegenheit, sich ihr weiter nützlich zu machen und ihr seine Zeit und Kunst zu opfern. Ende Juni 1783 wird Pasquale Anfossis Opera buffa »Il curioso indiscreto« von der italienischen Truppe zum erstenmal in Wien gegeben, aber die[418] beiden Hauptrollen werden gesungen von Deutschen: von Aloisia (Clorinda) und von Valentin Adamberger (Conte). Um ihnen den Erfolg zu sichern, komponiert Mozart für Aloisia zwei Arien und für Adamberger eine: nicht etwa Einlagen, sondern Ersatzstücke. Das gibt – nach Mozarts allerdings einseitigem Bericht – den Italienern Gelegenheit, ein wenig zu stänkern, und Salieri erreicht es auch, daß Adamberger aus Furcht auf den Vortrag seiner Aria verzichtet ...
Am 2. Juli schreibt Mozart dem Vater: »... Die opera il curioso indiscreto vom Anfossi worinn die Lange und Adamberger zum erstenmale aufgetretten ist vorgestern Montags zum erstenmale gegeben worden. – es gefiel gar nichts als die 2 arien von mir. – und die 2te, welche eine Bravour arie ist, mußte wiederhollet werden. – Nun müssen sie wissen daß Meine feinde so boshaft waren schon vorhinein auszusprengen: Mozart will die opera des anfossi Corrigiren. – ich hörte es. – ich ließ also dem graf Rosenberg sagen, daß ich die arien nicht hergebe, ausgenommen es wird folgendes so wohl teutsch als wälsch den bücheln beygedruckt. Avertimento. Le due Arie à carte 36 e a carte 102 sono State messe in Musica dal Signor Maestro Mozart, per compiacere alla signora Lange, non essiendo quelle State scritta (!) dal signor Maestro anfossi secondo la di lei abilità, mà per altro soggetto, questo si vuole far noto perchè ne vada L'onore à chi conviene, senza che rimanga in alcuna parte pregiudicata la riputazione e la fama del più molto cognito Napolitano. es wurde beygedruckt – und ich gab die arien her, welche so wohl mir als meiner schwägerin unaussprechliche Ehre Machten. – und die Herren feinde sind ganz betroffen! ...« Die Naivität Mozarts, als Diplomat und als Künstler, ist kaum zu überbieten. Denn vermutlich hat er keinen seiner »Feinde« durch die Reverenz vor Anfossi besänftigt; und um den Rollen Aloisias und Adambergers aufzuhelfen, hätte er sie von Anfang bis Ende neu komponieren müssen. Ganz unbekümmert um den Stil der Oper Anfossis – die übrigens schon sechs Jahre alt war und nie großen Erfolg gehabt hatte – schreibt er für die Schwägerin[419] eine Szene (»Vorrei spiegarti«, K. 418) und eine Aria (»No che non sei capace«, K. 419) kontrastierenden Charakters: die erste gleichsam halb lyrisch, halb konzertant, die zweite dramatisch und bravourös; die erste voll feinster Psychologie, die zweite ein halber Rückfall in die »Categorie«, das Schema heroischer Entrüstung; aber beide ein wenig veräußerlicht und gehemmt durch die Rücksicht auf die kalte Virtuosität Aloisias. Viel höher steht das für Adamberger komponierte »Rondo« (»Per pietà, non ricercate«, K. 420), das Mozart nie zu hören bekommen hat. Es ist eine Steigerung von verhohlener zu offener höchster Erregung: Mozart hat kaum woanders so viel Tremoli, Crescendi, Sforzati in den Streichern gehäuft. Das Stück wäre weltberühmt, stünde es in den »Nozze« oder dem »Don Giovanni«.
Bis zum Ende seines Lebens fährt Mozart fort, Arien und Ensembles zu schreiben, die sich bald mehr der Bühne nähern, bald mehr dem Konzertsaal, und er hat noch öfter die Naivität wiederholt, seine italienischen Kunstgenossen durch Einlagen in ihre Opern seine Überlegenheit als Musiker fühlen zu lassen. So kann die durch ein knappes Rezitativ (»Così dunque tradisci«, K. 432) eingeleitete Aria »Aspri rimorsi atroci« unmöglich ein Konzertstück gewesen sein: sie ist vermutlich für den Bassisten Karl Ludwig Fischer komponiert, Mozarts ersten Osmin, und gehört in eine Aufführung von Metastasios »Temistocle«. Sie liegt sonderbarerweise im Mund eines Sekondariers, des verräterischen Vertrauten des Königs Xerxes, und der Situation nach ist sie ein Ausbruch seiner Gewissensbisse nach erfolgter Entlarvung. Für uns ist das schauerlichstes »Melodram«, aber Mozart hat es ganz ernst genommen und ein düsteres f-moll-Stück von einer Kraft und Wucht geschrieben, wie es sich in keiner seiner Opere serie findet und nur einer Hauptrolle zukommt. Und mir scheint, eine große Scena für Tenor aus derselben Zeit, Ende 1783, »Misero! ò sogno, ò son desto?« (K. 431) könnte der gleichen Gelegenheit angehören – Themistokles im Gefängnis –, wenn die Haltung des Stückes nicht zu wenig heroisch und nicht allzu lyrisch wäre. Es ist eher ein Florestan oder Manrico, der zwischen Entsetzen über seine Lage und weichem Gedenken an die Geliebte schwebt und mit explosiver Anklage[420] gegen das Schicksal endet: – ein Stück großartigster Erfindung in Gesang und Orchester.
Kurz vor und einige Monate nach Vollendung der »Nozze«, im März und im Dezember 1786, hat dann Mozart auf denselben Text zwei seiner merkwürdigsten Konzertstücke für eine Singstimme und ein obligates Instrument geschrieben: die erste eine »Scena con Rondo mit Violin Solo für Baron Pulini und Graf Hatzfeldt zu meiner Oper Idomeneo« (»Non più, tutto ascoltai«, K. 490); die zweite, mit Änderung des einleitenden Recitativo accompagnato, das »Recitativo con Rondo«, »composto per la Signora Storace dal suo servo ed amico W.A. Mozart« (»Ch'io mi scordi di te?«, K. 505), mit obligatem Klavier, über dessen biographische Bedeutung in diesem Buch bereits gesprochen worden ist. Beide Stücke sind demselben künstlerischen Drang entsprungen, sozusagen Knospen von demselben Strauch, und doch sehr verschieden; man könnte an ihnen ebenso gut beweisen, wie sehr Mozart und wie wenig Mozart ein Formalist war. Die Bestimmung des ersten ist einigermaßen rätselhaft. Im März 1786 holte Mozart seinen »Idomeneo« wieder hervor für eine Privataufführung beim Fürsten Karl Auersperg und komponierte dafür ein Duett für zwei der adeligen Sänger, Frau von Pufendorf und Baron Pulini, als Ersatzstück für das ursprüngliche Duett in der 20. Scena des II. Aktes (»Spiegarti non poss'io«, K. 489) sowie unsre Scena con Rondo. Während aber im Duett Baron Pulini Tenor singt und sein Part auch im Tenorschlüssel notiert ist, ist sein Part in der Aria ein Sopranpart, und auch kaum denkbar als Tenorpart. Hat Mozart bei der Niederschrift noch an den Idamante seiner Oper gedacht, der eine Kastratenrolle war? Oder hat er bereits Nancy Storace im Sinn gehabt? Wie dem sei, die erste Aria, die noch dialogisch eingeleitet ist, wirkt wie eine Vorstudie zur zweiten; wie ein vollkommenes Konzertstück etwas neutraler Haltung zu einem Stück, in das Mozart seine ganze Seele gelegt hat. Die Violine konzertiert in der ersten Version mit der Gesangsstimme; aber in der zweiten findet ein Dialog zwischen Stimme und Klavier statt, so innig, so verflochten, daß man die besondere Absicht in jedem Takte spürt; so ausgesponnen, daß man eher von einem Konzertsatz als von einer Arie reden möchte. Es ist, als ob[421] Mozart für sich selber die Erinnerung hätte festhalten wollen an diese Stimme, die gar kein glänzender Sopran war, gar nicht gemacht für Exhibition von Virtuosität, aber voll Wärme und Weichheit; und es ist, als ob er im Klavierpart ihr ein Andenken hätte hinterlassen wollen an den Geschmack und an die Tiefe seines eigenen Spiels, die Tiefe seines Gefühls für sie:
2. Aria und Lied

Es gibt wenig Werke der Kunst, die so persönlich und zugleich voll Kunst sind, die die Intimität eines Briefes mit großartigster Gestaltung vereinigen. Bei Goethe mag es dergleichen noch geben – vielleicht in der »Trilogie der Leidenschaft«, die ja auch ein ewiger Abschied ist.[422] Wieder wandelt Mozart auf alten Spuren, indem er nach zehn Jahren zurückkehrt zu der Scena aus Metastasios »Olimpiade«, die er einst für Aloisia komponiert hatte: »Alcandro, lo confesso« – »Non so, d'onde viene« (K. 512, März 1787). Diesmal erinnert er sich der Väterrolle und der dramatischen Situation und komponiert sie für den herrlichen Baß Karl Ludwig Fischers, im größten Stil, mit den schärfsten Kontrasten der Rhythmik, der Harmonik, des Tempos. Die »Monumentalität der Aria« hat einen ganz neuen Sinn gewonnen. Ein paar Tage darauf schreibt er eine »Väter-Aria« für eine andre Baßstimme, die seines jugendlichen Freundes Gottfried von Jacquin (»Mentre ti lascio, o figlia«, K. 513), noch größerer Ausdehnung, mit wundervollem konzertantem Orchester, die sich über dunkle harmonische Regionen vom pp zum ff steigert, im Gegensatz zu der fragend verklingenden Aria für Fischer. Und nun folgt, aus der Zeit der Aufführungen des »Don Giovanni« in Prag, im Spätherbst 1787, wieder ein Stück für Josefa Duschek (»Bella mia fiamma« – »Resta, o cara«, K. 528), das einer äußersten Situation mit äußersten Mitteln gerecht wird: kein Stück fürs Publikum, sondern das, was man in der Künstlersprache ein »Atelierstück« zu nennen pflegt. Auf Mozarts Sohn geht die Anekdote zurück, daß Mozart es für Josefa als Herausforderung ihres Könnens geschrieben habe, und das ist ganz glaublich. Denn im Andanteteil der Aria findet sich folgende, für eine Sängerin des 18. Jahrhunderts sehr unliebenswürdige Stelle, die einen Halbton tiefer später wiederkehrt:
2. Aria und Lied

Die ganze Aria, beginnend mit der brütenden Polyphonie des Orchesters im Rezitativ bis zur leidenschaftlichen »Stretta«, spielt sich ab in einer Region gesteigerter Erregung, die der infernalen Nähe des »Don Giovanni« entspricht: ein Held schreitet zum Opfertod und nimmt Abschied von drei Personen,[423] darunter der Geliebten (Proserpina? – denn die am Ende des Rezitativs erwähnten Namen Cerere und Alfeo deuten auf eine Szene in der Unterwelt). Wir werden das grandiose Stück ganz erst verstehen, wenn wir die Situation rekonstruieren können.
Ein paar Monate später, am 4. März 1788, hat Mozart dann der virtuosen Kehle seiner Schwägerin Aloisia das letzte Opfer dargebracht mit einer Aria »Ah se in ciel, benigne stelle« (K. 538), deren Text dem »Eroe cinese« Metastasios entnommen ist – ein »Concerto vocale«, an dessen Gestaltung diesmal nur der wunderbare Routinier Mozart beteiligt ist – worüber wir uns freuen, da es ein glänzender Beweis dafür ist, daß damals auch alle inneren Beziehungen zu der fatalen Dame zu Ende waren. Mit Leib und Seele dabei aber ist er wieder, wenn es gilt, für den Bassisten Francesco Albertarelli, der in der Wiener Aufführung des »Don Giovanni« die Titelrolle sang, eine Aria in Anfossis »Le gelosie fortunate« hineinzukomponieren. (Anfossis »Dramma giocoso«, 1786 in Venedig zuerst aufgeführt, kam nach Wien am 2. Juni 1788). Die Arie (»Un bacio di mano«, K. 541) gehört in den Buffo-Bereich von »Così fan tutte«: ein witziger Franzose, Monsieur Giraud (Girò), gibt einem etwas blöden Liebhaber ironische Ratschläge. Sie ist berühmt geworden, da sie bereits wortwörtlich das dritte Thema im ersten Satz der Jupiter-Sinfonie vorausnimmt und damit beweist, wieviel Buffo-Elemente auch in dieser königlichsten aller Sinfonien geistern. Aber daneben ist sie ein Meisterstück an Witz, Lebendigkeit, Kürze und Bühnenblick. Für den trüben Rest seines Lebens hat Mozart auf dem Feld der Aria sich begnügt mit ein paar Gefälligkeits-Stücken für seine Sänger. Aloisia bekam eine Nachfolgerin in ihrer älteren Schwester Josefa, die den Geiger Hofer geheiratet hatte und die erste »Königin der Nacht« in der »Zauberflöte« werden sollte: für sie schrieb Mozart die »teutsche Aria«. »Schon lacht der holde Frühling« (K. 580, Sept. 1789). Das Stück war als Einlage gedacht für eine beabsichtigte Aufführung von Paisiellos »Barbiere« in deutscher Sprache am Theater auf der Wieden, an dem Josefa engagiert war. Aber das Werk wurde offenbar wieder abgesetzt, und das erklärt den skizzenhaften und unfertigen Charakter von Mozarts Niederschrift. Der Hauptteil des Stückes[424] gleicht einer Komposition für Aloisia wie ein Ei dem andern; aber ein Mittelteil in g-moll ist doch für eine Sängerin von tieferer und echterer Empfindung konzipiert – dieselbe Sängerin, die einmal das Larghetto (»Zum Leiden bin ich auserkoren«) in der »Zauberflöte« singen sollte. Auch eine andre, dem Inzipit nach sentimentale deutsche Aria (»Ohne Zwang, aus eignem Triebe«, K. 569) vom Januar 1789, scheint für Josefa bestimmt gewesen zu sein – sie ist verloren. Ein wenig pathetisch ist auch das erste der drei Stücke (»Alma grande e nobil core«, K. 578, August 1789), die Mozart für seine erste Dorabella, Louise Villeneuve, geschrieben hat. Es gehörte in Cimarosas Intermezzo »I due baroni di Rocca Azzurra« und atmet die Entrüstung einer jungen Dame, über die Mozart im Orchester sich heimlich lustig macht – ein reizendes Stück. Die beiden andern Arien (»Qui sa, chi sa, qual sia« K. 582, und »Vado, ma dove?«, K. 583) vom Oktober 1789 sind Einlagen in Vicente Martins »Burbero di buon core« – desselben »Martini lo spagnuolo«, wie die Italiener ihn hießen, den Mozart auch sonst gelegentlich in die Unsterblichkeit hinübergenommen hat. Der Text des »Burbero«, von da Ponte bearbeitet, geht natürlich zurück auf Goldonis Meisterwerk, aus dem nur eine halb rührsame, halb buffoneske Commedia in musica zu machen war; und so gehören die beiden Arien der sentimentalen Seite an, ja beiden ist der synkopierte Rhythmus der Erregung in der Begleitung gemeinsam. Die zweite mündet in ein Tempo die Menuetto von feinster lyrischer Kantabilität: Mademoiselle Louise muß ein charmantes Persönchen mit charmantem Vortrag und geschmackvoller – nicht leer brillanter – Koloraturfertigkeit gewesen sein.
Bleibt eine Aria für Baß und obligaten Kontrabaß »Per questa bella mano« (K. 612), die Mozart Anfang März 1791 »für Herrn Görl und Pischlberger« geschrieben hat. Franz Gerl sollte sein erster Sarastro werden; Pischlberger, der dem Orchester im Freihaustheater angehörte, war ein Virtuos auf seinem ungefügen Instrument, und Mozart hat ihm denn auch das Unglaubliche zugemutet. Der Text, eine Liebeserklärung, ist nur möglich im Mund eines Tenoristen, und so hat das Stück, mit seinem gemütlichen Sechsachteltakt, ungewollt oder gewollt einen etwas parodistischen Anhauch, der durch die[425] Bemühungen des instrumentalen Behemots noch verstärkt wird. Man wäre traurig über die Gutmütigkeit Mozarts, der sich zu solchen Gefälligkeitsstücken hergab, wäre da nicht noch eine kleine Aria für Baß (»Io ti lascio, o cara, addio«, K. Anh. 245) aus der Zeit der »Clemenza di Tito«, die Konstanze ganz zu Unrecht als unecht verdächtigte, die aber in ihrer empfundenen Einfachheit die Kette von Mozarts Arien feiner und würdiger abschließt als jedes Bravourstück.
Hat Mozart deutsche Lieder komponiert? Ja und nein. Er hat sicherlich deutsche Texte komponiert, aber ob deutsche Lieder daraus geworden sind, das ist die Frage. Die beiden »Chansons«, die er in seinen Mannheimer Monaten, 1777/78, für Mademoiselle Gustl (Auguste) Wendling geschrieben hat (»Oiseaux, si tous les ans« und »Dans un bois solitaire«, K. 307 und 308), sind viel mehr französisch als seine Lieder deutsch: französisch trotz aller Verstöße gegen die Prosodie der Sprache; französisch vor allem in der Pikanterie der rhythmischen Erfindung; lebendige Szenen, die jeder Partitur Phi-lidors oder Grétrys Ehre machen würden. Denn beide Szenen sind »durchkomponiert«, und das Klavier folgt jeder Wendung der Singstimme mit lebendigem Kommentar. Beide sind Vortragsstücke feinster Art, abgerundet bei aller Freiheit, das erste durch kurzes Vor- und Nachspiel, das zweite durch Wiederkehr der Melodie für die erste Strophe. Die Verse, durch Auguste Wendling aus einer Anthologie ausgewählt, stammen von Antoine Ferrand und Houdart de la Motte: – typisch anakreontische Texte, besonders der zweite mit dem spät-antiken Motiv: Weckt mir den Amor nicht auf! Und es ist Watteau in Musik, nicht etwa Boucher oder Lancret, was Mozart hier gelungen ist; denn er ist zu ernst und passioniert für Tändeleien. Vier deutsche Lieder, oder vielmehr zweimal zwei, hat er zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, und sie heißen auf dem Titel bezeichnenderweise: deutsche Arien. Genauer: deutsche Arien zum Singen beim Klavier; nicht deutsche Lieder; nicht einfach: Lieder. Mozart hat kein wirkliches Lied geschrieben, wenn wir als Maßstab das Lied Schuberts nehmen, ja auch geringerer Zeitgenossen, wie Zumsteeg oder Schulz oder Zelter. Im Lied Schuberts sind Gesang und Begleitung in vollkommenem[426] Gleichgewicht, es ist weder eine Melodie mit Klavier-Akkompagnement noch ein Klavierstück mit Singstimme. Schubert mit seinem feinen Sinn für Poesie hat fast niemals gleichgültige Reimereien komponiert und hat niemals einen Text gewählt, um ihn als Anlaß zu Musik zu benutzen. Er erhöht den Text durch seine Musik, ohne ihn zu vergewaltigen, zu verdunkeln. Mozart hat weder das Glück noch das Verlangen gehabt, in seinen Liedern seinen Namen mit dem Namen großer oder auch nur wirklicher Dichter zu verbinden. Wenn man dar auf die Reihe seiner Lieder durchsieht, so begegnet man, mit einer einzigen Ausnahme, nur kleineren und kleinsten, heute völlig in Vergessenheit geratenen Größen, den Canitz, Günther, Uz, Weiße, Hermes, Miller, Ratschky, Blumauer, Schmidt usw., und man atmet angesichts all dieser Mediokrität schon auf, wenn man auf die deutschen Anakreontiker Hagedorn und Hölty stößt. Mozart ist nicht zu tadeln, wenn er keine Ehrfurcht hat vor seinen Texten. Für ihn ist ein Gedicht wirklich nur ein Anlaß, um Musik daranzuhängen – er hat all diese Dichtungen und Dichternamen in seiner Musik konserviert wie der Bernstein die Fliege. Und er schreibt, ungleich Schubert, immer ein wenig arios. Schuberts Lied ist auf geheimnisvolle Weise aus dem Volkslied hervorgewachsen, es ist eine Rose, veredelt, hundertblätterig, ein Produkt des kundigsten Gärtners; aber diese Rose ist und bleibt verwandt mit der bescheidenen, wildgewachsenen Heckenrose. Mozarts Lied hat mit Volkslied gar nichts zu tun. Es ist, wie immer bei ihm, »Musik aus Musik«. Es hat viel mehr zu tun mit der italienischen Canzonetta oder der französischen Romance, die selber mehr auf dem Boden der Opera oder der Opéra-comique gewachsen sind. Auf der andern Seite: Mozart bleibt auch fast ganz unberührt von den Experimenten, die nicht nur in Norddeutschland, sondern auch in seiner nächsten Umgebung mit dem Lied an gestellt wurden. Ende 1785 hatte Mozarts Verleger, Artaria, Glucks »Oden und Lieder beim Klavier zu singen« herausgebracht, sieben Stück, die handschriftlich jedoch schon seit zehn Jahren kursierten und Mozart unmöglich unbekannt geblieben sein können. Sie waren Produkte einer gewollten äußersten Einfachheit und vollkommener Unterordnung der Musik unter das Wort des Dichters, seiner[427] antikisierenden Metrik. Der einzige Beweis, daß diese Lieder Eindruck auf Mozart gemacht haben, ist die sogenannte Bildnis-Arie Taminos, die unzweifelhaft ihren Beginn Klopstock-Glucks »Die frühen Gräber« verdankt. Aber es ist nicht bloß die Abneigung gegen Klopstocks »übertriebene« Dichtung und gegen Glucks rationalistische Methode, die dem Lied Mozarts hier jede Nachahmung verbot. Für Mozart stand die Dichtung im Dienst der Musik. Und Musik war für ihn nicht »deutsch«, eher italienisch oder französisch; aber ganz sicher mozartisch. Er wollte frei bleiben auch im Lied. Mozart war Dramatiker und Instrumental-Komponist, beides von Haus aus – und von beiden Seiten wurde der Stil seines Liedes gefährdet. Und gerade weil er ein echter Dramatiker war, kann man sagen, daß in seinen »teutschen Opern«, »Bastien und Bastienne«, »Entführung«, »Zauberflöte«, seine echtesten und besten Lieder zu finden sind.
Nicht als ob auch in seinem Lied nicht alle Stadien der Entwicklung der Gattung anzutreffen wären. Sie war noch jung, diese Gattung, und ihre Geschichte trotz ihrer Jugend bereits recht kompliziert. Wir brauchen ihr nicht im einzelnen zu folgen: es genügt, zu sagen, daß es eine Art von Krankheitsgeschichte, von Kindheitskrämpfen war. Das erste Stadium war der Krampf des Tanzliedes, des instrumental konzipierten Lieds; das Stadium, in dem man Menuetten, Couranten, Giguen, Sarabanden mehr oder minder passende Texte unterlegte, und man findet Beispiele dafür besonders in Mozarts Jugendliedern: »An die Freude« (K. 53, 1767), das ein »sinfonisches« Andantino ist, oder »O heiliges Band« (K. 148, 1772), das ein langsames Menuett ist und trotz des im freimaurerischen Sinn deutbaren Textes unmöglich in die Wiener Zeit fallen kann. Das zweite und dritte Stadium der Kinderkrankheit ist zurückzuführen auf Norddeutschland und heißt Künstlichkeit auf der einen, falsche Naivität auf der andern Seite. Der Vertreter der Künstlichkeit – und manchmal auch der beiden andern Symptome – war Philipp Emanuel Bach, der ja im Hause Mozart wohlbekannt war. Schon Leopold hatte ihm mit ein paar Liedern einen Tribut dargebracht, und wenn die drei Lieder nach Günther und Kanitz (K. 149, 150, 151) wirklich von Wolfgang Amadeo und nicht ebenfalls von Leopold stammen, sind sie[428] ein Beweis, wie gut Mozart sich in den Berlin-Hamburger kantatenhaften Liedstil hineingefunden hatte. Was sich aus diesem Stil machen ließ, hat Mozart dann am Ende der Salzburger Zeit, um 1780, bewiesen mit drei Liedern (K. 390, 391, 392), die er offenbar im Auftrag eines Almanach-Herausgebers komponiert hatte, und zwar als Einlagen in einen damaligen Moderoman, »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen«, von J.T. Hermes. Die Texte sind so ungenießbar wie der ganze Roman, und hier ist Mozart ein einziges Mal ein Opfer der »Empfindsamkeit« seiner Zeit geworden, was schon die Vortragsanweisungen der Lieder ankündigen: »Gleichgültig und zufrieden«, »Traurig, doch gelassen«, »Mäßig, gehend«. Dem entspricht das eigentliche Ausdrucksmittel in zweien dieser Lieder: die Harmonik; die Chromatik, die verminderten Akkorde. Das konzentrierteste ist »An die Hoffnung« (K. 390, »Ich würd' auf meinem Pfad«), in dem Mozart nicht die erste Strophe komponiert hat, sondern die letzte, denn nur in dieser decken sich Textsinn und Ausdruck ganz, wieder ein Beweis für Mozarts dramatische Feinfühligkeit.
1781 kam Mozart nach Wien und wird da, wenn überhaupt ein Liederkomponist, ein spezifisch Wiener Liederkomponist. In Wien war die Geschichte des Liedes noch kürzer als im übrigen Deutschland, denn Wien war in Dingen der Musik eine Stadt der italienischen Instrumentalmusik und der italienischen Oper – es gab kein wirkliches Lied, denn das Volk hatte seine Gassenhauer, und die Stelle des Liedes nahm bei den Gebildeten die Canzonetta ein. Erst 1778 erscheint die erste Sammlung eigentlicher Kunstlieder, von einem begabten Manne, Josef Anton Steffan, dem andre Kleinmeister folgen: Johann Holzer; Carl Friberth; Leopold Hoffmann; Fr. A. Hoffmeister – Mozarts Freund, und andre. 1782 und 1784 erschienen Haydns beide Sammlungen »deutscher Lieder«, auf die der Autor selber sehr mit Unrecht große Stücke hielt. Mozart hat all diese Sammlungen aufmerksam verfolgt, und sie entsprachen, in ihrer Mischung von Italianismen und Instrumentalismen, seiner eigenen künstlerischen Herkunft. Haydns Lieder können den instrumentalen Ursprung fast nie verleugnen, und Lieder zugleich anakreontischer und instrumentaler Prägung wie Mozarts[429] »kleine Spinnerin« (1787, K. 531) oder die köstliche Parodie eines antiquierten Liedes mit Basso Continuo (»Die Alte«, K. 517) gehen unmittelbar zurück auf Haydns »Eine sehr gewöhnliche Geschichte« oder »Die zu späte Ankunft der Mutter« oder »Lob der Faulheit«.
Wert gelegt hat Mozart auf seine Lieder nicht den geringsten. Sie waren Nebenprodukte, Paralipomena, Abfall seiner Opern- und Instrumentalkomposition. Wir haben dafür den dokumentarischen Beweis in der Geschichte des Verhältnisses zu seinem jugendlichen Freund Gottfried von Jacquin. Aus der Zeit der Aufführung des »Don Giovanni« in Prag schreibt Mozart an Jacquin (9. November 1787): »... – mit überraschenden vergnügen erhalte ich ihren zweiten brief; – wenn es erst noth hat Sie durch das lied en question meiner freundschaft zu versichern, so haben sie weiter keine ursache daran zu zweifeln; – hier ist es ...« Dem Briefpassus voraus gehen väterliche Ermahnungen an Gottfried, sein Schmetterlingsdasein zugunsten einer tieferen Neigung aufzugeben. Wir kennen den Kreis der jungen Damen und Herren, in dem der Schmetterling Jacquin sich bewegte: es ist derselbe, für den Mozart seine reizenden »geselligen Lieder«, Terzette mit Begleitung eines Bläser-Trios komponiert hat – die Texte meist aus Metastasio (K. 436, 437, 346, 438, 439, 537, 549, 562): und vielleicht nicht bloß diese anakreontischen melodischen Blüten, sondern auch eine Reihe seiner derberen musikalischen Späße in Form von Ensembles und Kanons. Nun, die Familie Jacquin hat das von Mozart übersandte Lied (»Das Traumbild«, K. 530) um 1803 zusammen mit fünf andern Liedern Gottfrieds (der 1792 gestorben war) bei Cappi in Wien veröffentlicht, unter Gottfrieds Namen, und sicherlich in gutem Glauben. Denn Mozart hatte die Autorschaft Jacquin zediert. Noch mehr: in einem Manuskript der Bibliothek des Istituto musicale zu Florenz findet sich ein Heft mit sechs Liedern aus Gottfrieds Besitz, in dem er sich nicht nur das »Traumbild« angeeignet hat, diesmal mit dem Titel »An eine Unbekannte«, sondern auch eins der schönsten Lieder Mozarts, »Louise, als sie die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte« (K. 520); und er hat es einer seiner Flammen, dem Fräulein von Altomonte, ausdrücklich gewidmet. Mozart hat auf dem Manuskript[430] vermerkt: »26. Mai 1787. Landstraße ... in Herrn Gottfried von Jacquins Zimmer.« Er hat es also sozusagen in Klausur komponiert und es Jacquin sogleich zediert – es auch nicht selber veröffentlicht. Es ist kein Lied, sondern eine dramatisch geschaute Szene, in der man nicht nur der in c-moll chromatisch klagenden jungen Dame ins verwundete Gemüt schaut, sondern auch die Flamme im Kamin sieht – ein kleines Meisterwerk von Freiheit und Abrundung.
Aber für ein paar andre Lieder aus diesen Wiener mittleren Jahren hat Mozart sich seines Autorenrechtes nicht begeben. Es sind, im ersten der beiden erwähnten Hefte von 1789, die »Abendempfindung« und »An Chloe« (K. 523 und 524), und »Das Veilchen« und »Das Lied der Trennung« (K. 476 und 519). »An Chloe« ist ein Klavier-Rondino mit Text: sehr charmant, aber kein Lied. »Abendempfindung« aber ist ein feiner lyrischer Erguß von einer Tiefe des Gefühls und Ausdrucks und von einer kantablen Vollkommenheit, die die Frage vergessen macht, ob das nun eine Szene oder ein Lied, ob es italienisch oder deutsch sei. Und von ähnlicher Tiefe und Schönheit ist das »Trennungslied« (»Die Engel Gottes weinen«), wenn auch von ganz andrer Form: es ist strophisch angelegt, aber von der fünften Strophe an wird die Melodik, die Begleitung, der Ausdruck immer freier und voller – und die tränengesättigte Sentimentalität des modischen Textes völlig überwunden. Im »Veilchen« ist Mozart ein einziges Mal zusammengestoßen mit einer wirklichen Dichtung – mehr durch Zufall, denn er fand den Text in Steffans »Sammlung deutscher Lieder« von 1778, wo es unter – Gleims Namen statt unter Goethes veröffentlicht war. Es ist Mozarts bekanntestes und berühmtestes Lied, und mit Recht. Aber ist es ein Lied? Vielleicht charakterisiert man es am besten, wenn man erkennt und fühlt, daß es seine Entstehung sowohl beim Dichter wie beim Musiker einem ganz besondern persönlichen Erlebnis verdankt haben muß. Es ist ein »Gelegenheitswerk« höchster Art. Das Gedicht findet sich zuerst in Goethes erstem Singspiel, in »Erwin und Elmire«; unter seine Balladen hat er es erst nach Jahren aufgenommen. Nun, »Erwin und Elmire« spiegelt im Frühlingslicht[431] der Dichtung das stürmische und schmerzliche Verhältnis zweier Liebenden wider, wie Goethe es erst bei seinem Freund Herder und dessen Braut, und dann bei sich selber und Lili beobachten konnte: wie ein sprödes und übermütiges Mädchen einen guten Jungen quält und mit seiner Neigung spielt, obwohl es ihn liebt. Aus der Seele dieses guten Jungen ist das »Veilchen« gesungen. Und wenn, in Goethes Singspiel, die bereuende Schöne es aus der Erinnerung nachsingt, so ist ihr »jedesmal, da sie's endet, als hätte sie einen Gifttrank eingesogen«.
Eine ähnliche Bewandtnis muß es mit Mozarts »Veilchen« haben. Das ist kein Lied wie andre Lieder. Der Text traf auf eine verwandte Seele. Es ist eine lyrische Szene, und auf dem Lyrischen, dem Strom der musikalischen Empfindung, wie auf dem Szenischen, der gefühlsgesättigten Malerei des Vorgangs, liegt der gleiche Nachdruck. Wie lieblich geht das an, Vorspiel und die beiden ersten Zeilen; wie männlich und stark wird der Abschluß betont; wie zierlich, »mit leichtem Schritt und munterm Sinn« kommt die junge Schäferin daher, wie unbeschwert tönt ihr Gesang über die Wiese (sie hat Oper gehört, die kleine Schöne!). Wie bescheiden und empfunden die Meditation des Veilchens, wie bang und unentrinnbar das Nahen der Katastrophe! Denn eine Katastrophe ist es, symbolisiert im Fortissimo der Akkorde der Begleitung, im nackten Rezitativ der Stimme. Wie rührend ist der Abgesang, von Mozart – wie oft ist das bemerkt worden! – eigenmächtig hinzugefügt: »Das arme Veilchen! – es war ein herzigs Veilchen.« Mozart hat die Form des Liedes zerbrochen, gesprengt; nicht aus Willkür, aus Gefühllosigkeit gegen das Dichterwort, gegen den Sinn der Liedform, sondern aus innerer Nötigung. Über den Urgrund dieser Nötigung ist nur Vermutung erlaubt. Er liegt in Tiefen der Persönlichkeit und des Erlebnisses. Mozart war körperlich klein und unscheinbar, und die unheilbare Krankheit hatte ihn längst gezeichnet; er hat, bei dem starken Bewußtsein seiner Größe als Künstler, an dieser Unscheinbarkeit bezeugtermaßen sehr gelitten. Aber wie dem sei: in diesem Lied, das kein Lied ist, hat ein Genius sich entzündet an einem andern. Auch auf diesem Gebiet, wie auf dem der Aria, hat Mozart das letzte gesagt und die höchste Beseelung erreicht.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 403-432.
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Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

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