Vergreifen

[1052] Vergreifen, verb. irregul. act. & recipr. S. Greifen. 1. Durch Greifen alle machen, der Quantität nach erschöpfen, wo es doch nur im figürlichen Verstande von Waaren gebraucht wird, wenn sie bereits verkauft sind, oder häufig Liebhaber finden. Man gebraucht es hier sowohl im Passivo: die Waare ist schon vergriffen, wird bald vergriffen seyn, die ganze Auflage ist schon vergriffen. Als auch in der Gestalt eines Reciproci. Die Waare, das Buch hat sich vergriffen. Eine gute Waare vergreift sich bald. Als ein Hauptwort ist hier weder das Vergreifen noch die Vergreifung, üblich. Ver hat hier die Bedeutung der Entfernung, wie in verkaufen, vertauschen, verschenken u.s.f. Daher Gottscheds Ausspruch, daß diese Bedeutung gar nichts tauge, voreilig und ungegründet ist. 2. Durch Greifen das Gelenk der Hand beschädigen, wie verrenken, verstauchen, verletzen, die Hand durch einen falschen Griff verrenken, als ein Reciprocum, sich die Hand vergreifen, auch wohl, sich vergreifen. Daher das Vergreifen. 3. Fehl, falsch greifen, das Unrechte ergreifen, als ein Reciprocum. Man vergreift sich, wenn man aus Versehen ein Ding anstatt des andern ergreift. Ich habe mich vergriffen. Daher das Vergreifen. 4. Unbefugter Weise nach etwas greifen, vermuthlich eine Fortsetzung der vorigen Bedeutung. (1) In mehr eigentlichem Verstande, sich eines fremden Gutes unbefugter Weise bemächtigen. Sich an fremden Geldern vergreifen, sie sich unbefugter Weise anmaßen, sie in seinen Nutzen verwenden; oft als ein glimpflicher Ausdruck für das härtere stehlen. Sich an den Feldfrüchten, an jemandes Eigenthum vergreifen. Daher, obgleich selten, die Vergreifung. (2) Sich an jemanden vergreifen, ihn unbefugter Weise beleidigen, es sey mit Worten oder mit der That, im letztern Falle als ein glimpflicher Ausdruck für das härtere schlagen, prügeln u.s.f. Sich mit Worten an jemanden vergreifen, die schuldige Achtung in hohem Grade durch Worte verletzen. Laßt uns ihn den Ismaeliten[1052] verkaufen, daß sich unsere Hände nicht an ihn (ihm) vergreifen, 1 Mos. 37, 27. Wenn eine Seele sündigen würde, und sich an dem Herren vergreifen, 3 Mos. 6, 2. Der sich am Könige vergriffen hat, Bar. 6, 17. Aber absolute, mit Verschweigung der Person, wie 3 Mos. 5, 15: Wenn sich eine Seele vergreift, daß sie es versiehet und sich versündigt, ist es im Hochdeutschen veraltet. Daher die Vergreifung. Das Vergreifen ist seltener; Ahab machte des Vergreifens am Herrn noch mehr, 2 Chron. 28, 22. Die Vergreifung absolute für Versündigung, ist eben so veraltet, als das absolute sich vergreifen. Es versammelten sich zu mir alle – um der großen Vergreifung willen, Esra 9, 4. Kap. 10, 6.

Vergreifen scheint in der letzten Bedeutung gleichfalls fehl greifen, aus Versehen unrecht greifen, zu bezeichnen, welchen Begriff die Partikel auch in sich vergehen, sich versehen u.s.f. hat.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1052-1053.
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