Anna von Bullen

[189] Anna von Bullen, (Bolen, Boleyn) war die Tochter eines Englischen Edelmanns, und ging mit Marien, Ludwigs XII. Gemahlin, nach Frankreich, von wo sie mit einem sehr lebhaften Geschmack für das Vergnügen und einer sehr angenehmen Conversation zurückkehrte. Sie war keine vollkommene Schönheit, aber interessant durch ihren Umgang. Sie war fein und ehrgeitzig. Heinrich VIII. König von England, sahe sie und wurde von ihr entzückt. Er erklärte ihr seine Liebe, worüber sich Anna anfangs mehr beleidigt als geschmeichelt zu fühlen schien. Dieses erhitzte seine Leidenschaft nur noch mehr; er machte den Plan, seine Gemahlin zu verstoßen und Annen zu heirathen, den er auch, trotz den Schwierigkeiten, die ihm der päpstliche Hof in den Weg legte, ausführte. Die Koketterie, die sie am Französischen Hofe gelernt hatte, verließ sie jedoch auch als Königin nicht. Die Liebe hatte sie auf den Thron gesetzt, die Liebe setzte sie wieder herunter. Um ihr den Stolz, als Königin zu sterben, zu rauben, ließ sich Heinrich, unter dem Vorwande, daß sie schon vorher mit dem Lord Percy verheirathet gewesen sei, erst von ihr scheiden. »Sie haben mich immer stufenweise erhoben:« schrieb sie an Heinrich, ehe sie das Schaffot bestieg – »von einer Demoiselle haben Sie mich zur Marquise (de Pembrock), von der Marquise zur Königin gemacht; von der letztern erheben Sie mich heute zur Heiligen.« Sie starb sehr gelassen, den 19. Mai 1536. Die Urtheile der katholischen und protestantischen Schriftsteller über diese Person sind sehr verschieden; während die einen sie vertheidigen und rühmen, machen sie die andern zu einem Ungeheuer, als ob die eine oder die andere Religion durch Annens gutes oder schlechtes Betragen gewinnen könne.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 1. Amsterdam 1809, S. 189-190.
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189 | 190
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