Das Serail

[234] Das Serail (eigentlich Serai oder Sarai, d. h. ein Pallast, oder vielmehr ein großes Gebäude) bedeutet das Schloß, wo der Türkische Sultan residirt. An dem einen Ende von Constantinopel, in einer vortrefflichen Gegend, auf einer in das Meer hervorragenden Landspitze gelegen, enthält es vermöge seiner ungeheuern Größe mehrere Tausende von Einwohnern, und hat ein prächtiges, obgleich nicht geschmackvolles Aeußere. Es besteht aus sehr vielen Gebäuden, Thürmen und Balkons, begreift verschiedene Gärten in sich, und hat drei Höfe. Auf dem ersten stehen, außer den Häusern vieler Hofbedienten, die Hauptmoschee und die Münze; auf dem zweiten, wo ebenfalls Hofbediente und die vornehmsten Staatsbeamten wohnen, erhebt sich der Divan, ein sehr hohes und weitläuftiges Gebäude; der dritte Hof aber ist den Augen des Volks ganz entzogen, und zur Wohnung des Sultans und seiner Favoritinnen bestimmt. Diese Letztern leben in einem Pallast, Harem, gewöhnlich aber schlechthin Serail genannt, welchen sie, so wie die daran stoßenden und mit hohen Mauern umgebenen Gärten, nie verlassen dürfen. Sie sind in eine höhere und niedere Classe abgetheilt: zu der erstern werden bloß diejenigen gerechnet, die der Sultan eines vertrautern und mehrmahligen Umgangs gewürdigt hat; sie führen den Namen Sultaninnen oder Assaki, erhalten die ansehnlichsten Jahrgelber und Geschenke, werden von den übrigen Mädchen abgesondert und bekommen einen besondern [234] Hofstaat. Den höchsten Rang unter ihnen erhält diejenige, die so glücklich war, dem Sultan den ersten Prinzen zu gebären; und ihr Einfluß wird außerordentlich bedeutend, wenn dieser Prinz zur Thronfolge gelangt ist. Sie führt dann den Namen Valide Sultane, d. i. Königin Mutter, verlangt von ihrem Sohne Nachricht von allen Staatssachen, kann bei Besetzung der Aemter und allen öffentlichen Angelegenheiten sehr viel ausrichten; und ihr Sohn darf sogar ohne ihre Beistimmung keine neue Geliebte annehmen. Die Bewohnerinnen des Harems sind, die äußerliche Pracht und Hoheit abgerechnet, nicht besser als Sclavinnen, werden aufs strengste bewacht, dürfen, den Leibarzt und ihre nächsten Anverwandten ausgenommen, keine Mannsperson sehen, und stehen unter der despotischen Aufsicht alter Hofmeisterinnen und häßlicher weißer oder schwarzer Verschnittener, die ihnen unaufhörlich nachfolgen; sie müssen die schimpflichste Behandlung und selbst Peitschenhiebe ausstehen, und werden bei der geringsten Ausschweifung in Säcken ins Meer gestürzt. Dessen ungeachtet aber begehen sie häufig Untreue; und überhaupt treiben sie, um die Gunst ihres Gebieters zu erbuhlen, die schändlichsten Cabalen. Nur dann, wenn ein Pascha sie heirathet, werden sie aus dem glänzenden Kerker befreit. Die Prinzen und Prinzessinnen werden hier unter der Aufsicht ihrer Mütter erzogen: Erstere bekommen im sechsten Jahre Verschnittene zu Lehrern; Letztere, die man gleichfalls Sultaninnen nennt, müssen lebenslang im Serail schmachten, wenn nicht ein Pascha ihnen seine Hand bietet. Nach dem Tode des Sultans werden die Sultaninnen in ein altes Serail transportirt, um daselbst seinen Tod lebenslang zu beweinen.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 5. Amsterdam 1809, S. 234-235.
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