[284] Der Abbeʼ Emanuel Joseph Sieyes, am 3. Mai 1748 zu Frejus in der ehemahligen Provence [284] (dem jetzigen Bar-Departement) geboren, wo sein Vater Landeigenthümer war, zeigte zwar in seiner Jugend große Neigung zum Militairstand, allein sein Vater, der ihn lieber in den geistlichen eintreten zu sehen wünschte, schickte ihn, da er 14 Jahre alt war, auf ein Seminarium der Jesuiten nach Paris, wo er 10 Jahre lang blieb, und daselbst den Grund zu dem Charakter legte, den er nachher beständig behauptete. Durch die Abgeschiedenheit von der Welt, wozu ihn die Gegenwart auf dem Seminarium nöthigte, erzeugte sich in ihm eine Neigung für die Einsamkeit; und die schlechte Beschaffenheit des Unterrichts machte den lehrbegierigen Jüngling mißmuthig und düster. Da er von Jugend an gewohnt war, selbst zu denken, so fand er bald Geschmack an den philosophischen Schriften eines Locke, Condillac und Bonnet. Zwar vernachlässigte er auch andere Wissenschaften nicht; immer war ihm aber doch die Meditation über die wichtigsten Gegenstände der Menschheit die liebste Beschäftigung. Die Annehmlichkeiten der Musik, die er vorzüglich schätzte, waren dazu bestimmt, die Stunden seiner Erhohlung zu versüßen, und erhielten ihm das sanfte Gefühl, das er sonst durch die Einsamkeit vielleicht verloren haben würde. Nachdem er das Seminarium verlassen hatte, wurde er Doctor der Theologie und 1775 Domherr und Canzler der Kirche von Chartres. Sein beständiger Wohnort war Paris, wo er bei der Oberkammer der Geistlichkeit die Kirche von Chartres repräsentirte. Seine geistlichen Verrichtungen bestanden also bloß in Administrationsgeschäften, und er hat niemals weder gepredigt, noch Beichte gesessen. Uebrigens lebte er auch in Paris eingezogen, und die rauschenden Freuden dieser üppigen Hauptstadt unterbrachen keineswegs seine metaphysischen Speculationen. Im J. 1788 erklärte er sich zuerst öffentlich gegen die herrschenden Unordnungen in der Regierung: bald darauf gab er auch die Schrift heraus, der er zuerst seinen Ruhm verdankte, nehmlich die Abhandlung über die Rechte des Bürgerstandes (Quʼest ce que le tiers-état?). Die Ständeversammlung wurde eröffnet, und Sieyes befand sich unter den Abgeordneten des Standes, für welchen er sich so lebhaft interessirt hatte. Während der Sitzungen der zweiten Nationalversammlung war er auf einige Zeit [285] Mitglied des Pariser Departementsdirectoriums. Nachher hielt er sich auf dem Lande auf, und hier war es, wo er in einer Entfernung von 60 Meilen von Paris (1792) die Nachricht erfuhr, daß ihn drei Departements zu ihrem Deputirten bei dem neu eröffneten Nationalconvent erwählt hätten. Er folgte dem Rufe; erhielt sich unter allen den Stürmen, welche die Conventsherrschaft ausgezeichnet haben, und wurde nach der Einführung der neuesten Constitution von 1795 Mitglied im Rathe der 500, nachdem er eine Stelle im Directorium von sich abgelehnt hatte. Ein neuer Wirkungskreis eröffnete sich für ihn als Gesandter der Republik am Preußischen Hofe; und in der Folge hatte er in Verbindung mit Bonaparte den wichtigsten Antheil an dem 18. Brumaire. Er und Duclos regierten neben Bonaparte als Consul. In der Folge überließ er sich, als Mitglied des Erhaltungs-Senats, einer philosophischen Ruhe auf dem Landgute, das ihm von der Nation geschenkt worden.
Ueber den politischen sowohl als moralischen Charakter dieses merkwürdigen Mannes ein entscheidendes Urtheil zu fällen, möchte wohl schwer sein. Es giebt eine gewisse Partei, welche ihn an die Spitze der so genannten Propaganda stellt und die ganze Maschinerie der Revolution dirigiren läßt. Unter dem Ministerium des Brienne soll er schon gewirkt, nachher dem Herzoge von Orleans sich verkauft, und endlich den König aufs Schaffot gebracht haben. Alle Parteien, die nach und nach auftraten, soll er anfänglich unterstützt und endlich gestürzt haben, wenn er sie nicht mehr brauchte. Robespierre wird als sein letztes Opfer angegeben, dessen er sich mit echt jesuitischen Kunstgriffen gerade noch zur rechten Zeit entledigt hätte. Sieyes galt für einen Anhänger von Orleans; weil dieser einen Aufsatz von ihm den Instructionen seiner Deputirten zur Nationalversammlung beifügte. Niemahls hat aber Sieyes zu Gunsten Orleans etwas unternommen. In der Nationalversammlung sprach er so selten, daß Mirabean laut sein Bedauern darüber äußerte. Gewöhnlich arbeitete er in den Ausschüssen. Am 19. Juni 1791 klagten ihn die Jacobiner an, daß er ein Freund des Adels sei; und gerade dieser Stand war es, gegen den er am meisten eingenommen war. Die ganze [286] Anklage war eine Cabale der ränkevollen Partei der Lameths, welche es ihm nicht verzieh, daß er so genau ihre Schritte beobachtete, und überhaupt gegen die Minorität des Adels – die zum Bürgerstande übergetreten war – ein größeres Mißtrauen hegte, als gegen die erklärtesten Aristokraten. Hätte Sieyes mit einer Partei gemeinschaftliche Sache gemacht, so würde gewiß Robespierre oder ein anderes Parteihaupt ihn entlarvt haben. Am meisten näherte er sich vielleicht noch den Girondisten, aber dessen ungeachtet durfte es die Bergpartei nicht wagen, ihn mit diesen zu verdammen. Zwar wurde seiner einige Mahl nicht im Besten bei dieser Gelegenheit gehacht; dabei blieb es aber auch. Sieyes sprach im Convente noch weit seltner, als in der ersten Nationalversammlung, und das aus dem sehr begreiflichen Grunde, weil hier Menschen handelten, denen der wahrhaft philosophische Geist ein Gräuel war. Nach dem 9. Thermidor gewann die noch übrige Minorität des ehemahligen Adels – die so genannte gute Gesellschaft – wieder viel Einfluß, und das war denn abermahls kein Wirkungskreis für Sieyes. Er zog sich in die Einsamkeit zurück, erschien selten im Rathe der 500, und sprach noch seltner darin. Man machte es ihm zum Vorwurfe, daß er nicht habe Mitglied des Directoriums werden wollen. Aber warum hätte er den Heuchler machen, und eine Constitution mit vollziehen helfen sollen, an der er Verschiedenes auszusetzen fand, zu der er auch einen ganz andern Plan vorgelegt hatte, der aber nicht genehmigt worden war? Warum sollte er ein College Reubels werden, gegen den er – gewissen Nachrichten zu Folge – eine persönliche Abneigung empfand? Oder er fand sich endlich vielleicht wirklich zu so einer Stelle zu schwach, und dann war die scherzhafte Antwort, die er einem Freunde hierüber gab, – daß er zwar ein gutes Cabrioletpferd, aber nicht geschickt, an einem Wagen zu ziehen, sei, – das aufrichtigste Geständniß seines Bewußtseins. Warum mußte man immer geheime Pläne bei ihm suchen, warum ihn zum Anstifter aller Verschwörungen gegen den Thron und aller Schandthaten der Revolution machen? wie Mallet dü Pan und Mounier so gerne der Welt einreden möchten. Wie sollte ein einzelner Mann, der vor der Revolution unbekannt war, [287] auf einmahl zu so einem Ansehen gekommen sein, daß ihn die Anführer der unähnlichsten Parteien, von Orleans an bis zu Robespierre, und vielleicht noch weiter herunter, als ihren Führer verehrt, und die Ehre, von ihm als handelnde Personen auf dem Schauplatze aufgeführt zu werden, endlich sogar mit ihrem Blute bezahlt hätten? – Sieyes ist ein scharfsinniger Denker, der das Wohl seines Vaterlandes durch kluge Vorschläge gern recht dauerhaft gründen wollte: wenn das Spiel der Privatleidenschaften die Stimme der Weisheit überschrie, so schwieg er und beklagte es im Stillen, »daß schlechte Menschen sich in die schöne Sache der Revolution gemischt hätten.« So urtheilt ein glaubwürdiger Augenzeuge – der Domherr Meyer in Hamburg – über ihn, und dieses Zeugniß bedarf keiner neuen unterstützenden Beweise. Eben dieser Gelehrte, der bei seinem Aufenthalt in Paris Sieyes besuchte, widerlegt auch die Gerüchte, die man von einer Verbindung zwischen ihm und Kant ausgebreitet hatte. Sieyes versteht kein Deutsch, und gestand, daß er nach Deutschland gar keine Correspondenz hätte. – Seine Schriften, welche alle in einzelnen philosophischen Abhandlungen und in Vorschlägen, die er von Zeit zu Zeit in den Versammlungen gethan hat, bestehen, sind (1796) auch in das Deutsche übersetzt und mit einer kritischen Einleitung über seine politische Laufbahn versehen. Am 11. April 1797 wurde er in seiner Wohnung von einem Priester, Namens Poule, meuchelmörderischer Weise überfallen und in den Arm verwundet; er genaß jedoch bald wieder.
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