Die Kreuzzüge

[331] Die Kreuzzüge gehören unter die sonderbarsten und merkwürdigsten Erscheinungen im Mittelalter, von welchen es immer noch zweifelhaft ist, ob sie mehr Schaden als Nutzen gestiftet, und mehr Böses oder Gutes befördert haben. Die nächsten Veranlassungen dazu lagen wohl mehr in dem enthusiastischen Eifer, womit man damahls die Reliquien verehrte, und in der Unzufriedenheit, welche man darüber bezeigte, daß Ungläubige im Besitze des heiligen Landes waren, als in einem künstlichen Plane der Päpste und der Römischen Clerisei. Die nach dem heiligen Grabe wallfahrtenden Christen [331] hatten eine geraume Zeit hindurch, gegen Erlegung eines kleinen Tributs, von den Arabern Schutz und Sicherheit genossen; da aber Saracenische Völkerstämme die Araber unterjochten, so wurden die Christen gemißhaudelt und vertrieben. Der Griechische Kaiser Alexius Comnenus, welcher die Annäherung der Türken an seine eignen Staaten befürchtete, bat den Papst um Hülfe, konnte aber nicht eher etwas ausrichten, als bis der Einsiedler Peter von Amiens, welcher eben aus dem heiligen Lande zurück kam, Frankreich und Italien durchzog, und durch seine Mitleid erweckende Gestalt, noch mehr aber durch die höchst klägliche Beschreibung, die er von dem traurigen Zustande des heiligen Grabes und den geängstigten Christen unter den Ungläubigen entwarf, die Gemüther erhitzte und mit wüthendem Haß gegen die Türken erfüllte. Einmüthig beschloß man auf einer Synode, welche Papst Urban II. im Jahre 1095 nach Clermont ausschrieb, einen allgemeinen Zug gegen die Ungläubigen, und verschwor sich zur Eroberung des heiligen Landes. Einer der edelsten und tapfersten Heerführer der damahligen Zeit, der Herzog von Nieder-Lothringen, Gottfried von Bouillon, stellte sich an die Spitze der Kreuzfahrer, und brach mit einem Heere von 90,000 Mann am 25. Aug. 1096 nach dem gelobten Lande auf. Ein Schwarm von allerlei losen Gesindel, der an 200,000 Menschen betrug, strömte aus Frankreich und Deutschland unter Anführung Peters von Amiens und anderer Heerführer dieselbe Straße, verübte am Rheine und in Ungarn die empörendsten Schandthaten und Grausamkeiten, und würde nachher von den Türken aufgerieben worden sein, wenn ihm nicht das Heer des Gottfried von Bouillon zu Hülfe geeilt wäre. Nach unsäglichen Beschwerden nahm man mehrere Städte des heiligen Landes ein, und bemächtigte sich zuletzt sogar der Stadt Jerusalem, von welcher Gottfried von Bouillon im Jahre 1099 den Beinamen eines Königs zu Jerusalem erhielt. Die übrigen Heerführer bekamen andere Besitzungen; und es schien, als wäre den Christen das gelobte Land auf immer gesichert. Allein die Uneinigkeiten der Fürsten unter sich veranlaßten bald Spaltungen; und die schändliche Aufführung der [332] Christen in Palästina, worin sie sich den schamlosesten Leidenschaften überließen, war Ursache, daß die Einwohner jener Gegenden dem Reiche der Europäer je eher je lieber ein Ende wünschten, und sehr froh waren, daß der tapfre Egyptische Sultan Saladin durch die Einnahme von Jerusalem im Jahre 1187 dem Unwesen der Kreuzfahrer auf einmahl ein Ende machte. Man hatte vorher nicht ohne tiefe Bekümmerniß die bedrängte Lage der Kreuzfahrer in Europa vernommen; und der heilige Bernhard von Clairvaux, ein würdiger Nacheiferer Peters von Amiens, hatte auch wirklich den König Ludwig VII. in Frankreich und den Deutschen Kaiser Conrad III. dahin vermocht, im Jahre 1147 mit 200,000 Menschen einen neuen Kreuzzug zu unternehmen. Allein es wurde eben so wenig damit ausgerichtet, als mit den nachherigen Kreuzzügen, welche Friedrich I. in Verbindung mit den Königen Richard von England und Philipp von Frankreich 1189, der Graf Montferrat 1202, der König Andreas von Ungarn auf Anrathen des Papsts Innocenz III. i. J. 1217, Kaiser Friedrich II. 1221, und Ludwig der Heilige, König von Frankreich, 1270 unternahmen. Die Provinzen im gelobten Lande gingen alle verloren; und den getäuschten Fürsten blieb bei dem empfindlichen Verluste, den sie in ihren Schatzkammern und an Mannschaft erlitten hatten, nichts übrig, als sich mit leeren Titeln gehabter Besitzungen zu trösten. – Wenn man den Zustand der Europäischen Reiche in dem Zeitpunkte bedenkt, worin die Kreuzzüge unternommen wurden; so wird man weniger über die ungeheuere Anzahl von Menschen, welche sich aus allen Ständen unter die Kreuzfahrer aufnehmen ließen, als über die Schwäche und Ohnmacht der Könige und Fürsten erstaunen, die es willig geschehen ließen, daß ihre Länder verödet und der Kern ihrer Mannschaft einem planlosen und unausführbaren Unternehmen aufgeopfert wurden. Allein wenn auch gleich ein ansehnlicher Theil der Heere, welche in das gelobte Land zogen, aus geübten Streitern und tapfern Kriegern bestand; so war doch die ungleich größere Menge aus einem Haufen des lüderlichsten Gesindels und der nichtswürdigsten Buben zusammen gesetzt, an welchen Europa bloß eine Anzahl Diebe und Mörder verlor. [333] Und hätten die Kreuzzüge auch keinen größern Nutzen gestiftet; hätten sie nicht den Handelsgeist befördert, die Erdkunde bereichert, zu vielen neuen Entdekkungen Veranlassung gegeben, und die Menschenkenntniß erweitert und vermehrt: so würden sie doch schon allein dadurch für Europa sehr nützlich geworden sein, daß sie es von einer Menge unnützer und schädlicher Menschen befreiten, und den Zurückgebliebenen Gelegenheit verschafften, sich aus dem Stande der Niedrigkeit empor zu arbeiten, und auf den Anbau der Länder mehr Sorgfalt zu wenden. Der in Europa herrschende Rittergeist, welchem die Classe der Bürger und Gemeinen beinahe unterlag, fand in den Kreuzzügen neue Nahrung und ein weites Feld für mannhafte Thaten; zugleich wurde aber der Adel durch die Mühseligkeiten und Beschwerden, welche er auf denselben auszustehen hatte, gedemüthigt und zu einem menschlichern Betragen gegen seine Untergebnen bewogen. Daß übrigens unter den Nachtheilen, welche aus den Kreuzzügen für die Europäischen Staaten erwuchsen, eine Anzahl neuer, vorher unbekannter Krankheiten waren, ist bekannt.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 331-334.
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