Marie Antoinette

[68] Marie Antoinette, die letzte und unglücklichste unter Frankreichs Königinnen. Sie war eine Tochter der Deutschen Kaiserin Maria Theresia, wurde 1755 geboren und 1770 mit Ludwig XVI. als Kronprinz vermählt. Wenn körperliche Reitze und blendende Gaben des Verstandes gewisse Fehler des Herzens verbergen oder unschädlich machen könnten, so würde Antoinette unter den größten Königinnen der alten und neuen Zeit eine der ersten Stellen behauptet haben; denn beide Eigenschaften besaß sie in so vorzüglichem Grade, daß sogar ihre erklärtesten Feinde zur Bewunderung derselben gezwungen wurden. Sie wurde eine lange Reihe von Jahren enthusiastisch von den Franzosen geliebt; und ein zahlloses Heer von Schmeichlern und Witzlingen war unaufhörlich beschäftigt, die Einfälle ihrer Laune und die einzelnen Züge aus ihrem Leben mit verschwenderischem Lobe zu erheben, und ihr auf alle mögliche Art zu erkennen zu geben, wie groß das Glück des Volks sei, das sich einer solchen Fürstin rühmen könne. Es kann nicht geläugnet werden, daß sie sehr oft die Armen mit Wohlthaten unterstützte, den Unglücklichen unerwartete Hülfe angedeihen ließ und mit wahrer königlicher Großmuth Beleidigungen vergaß; aber ihr Betragen gegen die Nation überhaupt war, wenigstens in den letzten Jahren, so beschaffen, daß sie unmöglich Beifall damit erwerben konnte. Sie duldete nicht nur die unmäßige Verschwendung ihrer Hofleute, sondern ging [68] ihnen darin selbst mit einem gefährlichen Beispiele vor. Ihre Günstlinge bestanden größten Theils aus Personen, welche wegen ihres zweideutigen Charakters und schlechten Herzens bei dem Volke verhaßt waren. Das Gefühl ihrer Größe, die sie durch die Revolution herabgesetzt zu sehen glaubte, beherrschte sie zu stark, als daß sie sich in entscheidenden Augenblicken, worin ein gewisser Anstrich von Popularität ungemein viel bei dem Volke bewirkt haben würde, hätte herabstimmen und unbefangen zeigen können; ihre erzwungene Heiterkeit führte in dergleichen Fällen sehr natürlich auf den Gedanken, wie sehr es ihr schmerze, die königlichen Rechte bei der neuen Ordnung der Dinge gekränkt zu sehen. Weit vortheilhafter erschien sie in den gefährlichen Zeitpunkten, worin es auf Würde und persönlichen Muth ankam; hier war ein einziger ihrer Blicke hinreichend, den wilden Pöbel zu schrecken und ihn in seine Schranken zurückzuweisen. Beispiele dieser muthigen Geistesgegenwart gab die Königin bei den gräuelvollen Scenen in Versailles am 5. und 6. Oct. 1789, und bei den eben so gefährlichen Auftritten im königlichen Schlosse am 20. Juni 1792. Selbst der fürchterliche 10. August raubte ihr nicht das Bewußtsein ihrer Würde; und sogar die Aufwärter im Temple mußten zuweilen einige Bitterkeiten von der erlauchten Gefangnen hören. Die schimpfliche Behandlung, die sie in den letzten Tagen ihres Lebens in dem abscheulichen Kerker der Conciergerie erfuhr, das fürchterliche Verhör, welches sie vor dem Revolutionsgerichte bestand, und die Kränkungen, die man ihr daselbst recht absichtlich anthat, um sie zu demüthigen, waren ihr gewiß weit empfindlicher als das angekündigte Todesurtheil, dem sie sich am 16. Oct. 1793 unterwerfen mußte. Sie starb mit der größten Standhaftigkeit, und hatte, ungeachtet ihrer durch Elend und Mühseligkeiten ganz veränderten und abgezehrten Gestalt, noch Kraft und Thätigkeit genug, um den Vollstrecker des Todesurtheils durch einen einzigen Blick in Unruhe und Verwirrung zu setzen.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 68-69.
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