[396] Peter I. Alexiewitsch, mit dem Beinamen der Große, Zaar, nachher Kaiser von Rußland, der wahre Schöpfer der Größe seines Staats, nur mit Friedrich dem Einzigen vergleichbar (bei welcher Vergleichung jedoch der Unterschied Statt findet, daß Friedrich viel durch seinen großen Vater vorgearbeitet fand, Peter hingegen – weniger als nichts), war der Sohn des Zaars Alexei Michailowitsch, aus dessen zweiter [396] Ehe, und im J. 1672 den 11. Juni geboren. Sein Geist, der schon in der frühesten Jugend, trotz einer rohen und schlechten Erziehung, einen außerordentlichen Mann erwarten ließ, veranlaßte seinen Vorgänger, den Zaar Feodor Alexiewitsch, ihn, mit Uebergehung seines blödsinnigen Halbbruders Iwan III. allein zum Nachfolger zu ernennen (1682): seine herrschsüchtige Halbschwester Sophia Alexiewna zwang ihn jedoch durch einen Aufruhr der Strelitzen, denselben als Mitregenten anzunehmen; sie selbst herrschte während Peters Jugend unumschränkt. Allein Peters wachsames Auge entdeckte 1689 eine Verschwörung, durch die sich Sophie den Thron allein verschaffen und ihn ermorden lassen wollte: er ließ sie in ein Kloster setzen, und ward nun Alleinherrscher, da Iwan freiwillig die Krone niedergelegt hatte. Nicht minder zerstörte er alle andern von Sophien und den Strelitzen wider ihn nachher unternommenen Mordplane. Er faßte jetzt den weitaussehenden und bloß für einen Geist als der seinige ausführbaren Plan, der Reformator seines in Barbarei, Unwissenheit und Trägheit versunkenen Volks zu werden. Mit einer unbeschränkten Schnellkraft des Genieʼs, mit einem und bei seinem feurigen, leidenschaftlichen Charakter selten sich täuschenden Wahrheitssinn, mit einer Thätigkeit und Standhaftigkeit, die die unübersteiglichsten Hindernisse in einem Augenblicke niederwarf, mit einer großen durch eignes Beobachten erlangten Erfahrung und Menschenkenntniß bahnte er sich selbst die noch ganz unbetretenen Wege, und vollbrachte in wenigen Jahren, was vor ihm Jahrhunderte nicht bewirken konnten. Da er Rußland nach dem Muster andrer Europäischer Reiche zu bilden suchte, nahm und mußte er eine Menge der geschicktesten Ausländer aufnehmen, unter denen sich besonders der berühmte Genfer Le Fort auszeichnete, welcher sein Freund und Lehrer ward, und sich große Verdienste um Peter und seine Nation erwarb (gest. 1699). Er reiste ferner selbst 1697 unerkannt durch Holland, England und Deutschland, um Manufacturen, Handwerke, Armeen, besonders aber Schiffsbau und Seewesen durch eigne Erfahrung von Grund aus kennen zu lernen. [397] Seine Arbeiten in Holland als Schiffszimmermann sind bekannt genug. Auch würde er Italien durchreist und seine Kenntnisse noch mehr erweitert haben, wenn ihn nicht eine Verschwörung der Strelitzen 1698 in sein Vaterland zurückgerufen hätte. Allein eben dieser Vorfall, der auf seine Entthronung abzielte, veranlaßte ihn zur gänzlichen Umformung des Militairs und zur Gründung der großen Stärke der Russischen Landmacht. Er stürzte die Strelitzen und schaffte sie ganz ab, errichtete eine zahlreiche, nach Europäischer Art disciplinirte, großen Theils von Ausländern commandirte Armee, und verbesserte die Artillerie und den Festungsbau. Er diente selbst bei seiner neu gestifteten Leibgarde, um durch sein Beispiel den Dienst zu empfehlen, selbst von dem niedrigen Posten eines Trommelschlägers und Sergeanten an. Vorzüglich emsig war er aber in Errichtung einer Seemacht, zu deren Begründung der erlangte Besitz der Provinzen an der Ostsee in sehr anlockte; auch gelang es ihm wirklich (was bisher in Rußland unerhört war), schon 1696 die Türken durch eine neu errichtete Flotte auf dem Don zu schlagen und nachher Kriegsschiffe in die Ostsee zu schicken. Das Innere des Reichs gewann durch ihn nicht minder eine verjüngte Gestalt: er verbesserte Justiz und Gesetzgebung, schränkte durch große Strenge den Uebermuth der Großen ein, hielt durch pünktliche Gerechtigkeitspflege seine an Widerspenstigkeit und Unordnung gewöhnten Unterthanen im Zaume, und stiftete eine bessere Polizei; er demüthigte die stolze Herrschsucht der Geistlichkeit, ließ die Stelle des Patriarchen, der zu viel Gewalt hatte, unbesetzt, machte in kirchlichen Sachen die wirksamsten Verbesserungen, und stiftete 1721 die heilige dirigirende Synode, das höchste geistliche Gericht. Im Finanzfache ist sein Ruhm unsterblich; er vermehrte die Einkünfte so sehr, daß er die größten Kriege endigte und die kostbarsten Reformen bewirkte, ohne die geringsten Schulden zu machen. Auch für die Verbreitung der Wissenschaften sorgte er mit Eifer. Seit 1703 begann der mit unglaublicher Mühe unternommene und ziemlich vollendete Bau der Stadt Sanct Petersburg am Finnischen Meerbusen, welche er zu seiner Residenz und zu einer der[398] ersten Städte Europens machte. Im Jahr 1716 reiste er zum zweiten Mahle durch Europa, und studirte die Sitten und Staatskunst der Höfe. – Jetzt ist noch übrig, von seinen Kriegen zu reden. Gleich bei dem Antritt seiner Alleinherrschaft führte er den angefangenen Türkenkrieg fort, schlug die Türken 1696 durch die neue Flotte auf dem Donstrom, eroberte Asof, und behielt es vermöge des Tractats zu Carlowitz 1699. – Hierauf bekriegte er von eben diesem Jahre an in Vereinigung mit Dänuemark und Pohlen Carl XII. König von Schweden. Er verlor zwar anfänglich die Hauptschlacht bei Narva (1700), verbesserte aber nachher seine Truppen so sehr, daß er nicht nur während Carls Abwesenheit in Pohlen die Provinzen Ingermannland, Curland und einen Theil von Liefland eroberte, sondern auch dem wilden Carl, als er in das Herz des Russischen Reichs eingedrungen war und mehrere Schlachten gewonnen hatte, bei Pultawa 1709 eine so heftige Niederlage beibrachte, daß sein ganzes Heer vernichtet wurde. Peter wußte diese in den Annalen der Geschichte beinahe einzige Schlacht mit der größten Geschwindigkeit zu benutzen; er machte die Kosaken, deren Hauptmann Mazeppa auf Carls XII. Seite gewesen war, mehr als vorher sich unterwürfig, bildete aus ihnen eine treffliche Miliz, eilte dann nach Schweden, und eroberte 1710 den übrigen Theil von Liefland, nebst Wiborg und Kerholm. Bald aber hätte ein auf Carls Anstiften angefangner Türkenkrieg seine ganze Macht vernichtet. Er ging dem Türkischen Großvezier bis an den Pruth entgegen, wurde nebst seinem ganzen Heere umringt, und hätte sich ergeben oder alles verlieren müssen, wenn nicht seine berühmte Gemahlin Catharina durch kluge Unterhandlungen mit dem Großvezier einen Frieden gestiftet hätte (1711), in dem bloß Asof verloren ging. Er nahm den Schweden ganz Finnland weg, und nöthigte sie, da Carl 1718 erschossen worden war, durch mehrere Zerstörung und Verwüstung verbreitende Feldzüge (welche man deßwegen gewöhnlich die Brandcampagnen nenut), zu dem für ihn äußerst vortheilhaften Nystädter Frieden, 1721, der der wahre Grundstein der Russischen Uebermacht ist, und Rußland zu einer Seemacht erhob. Er erhielt durch [399] denselben ganz Ingermannland, Esthland und Liefland, nebst einem Theile von Wiborgslehn und Karelen in Finnland. Nach diesem Zuwachs verwandelte er den Titel eines Zaars in den Kaisertitel. Ein neuer, kostbarer und gefahrvoller Krieg gegen Persier, der letzte, den er führte, verschaffte ihm die Provinzen Schitwan, Daghestan, Ghilan und andere wichtige Bezirke, die jedoch nach seinem Tode nicht lange behauptet wurden. Er starb für das Wohl seiner Staaten viel zu früh, im drei und funfzigsten Jahre (1725. d. 8. Febr.); und sein Tod war weniger Wirkung eines von häufigen Ausschweifungen in der Liebe zurückgebliebenen Giftes, als Folge einer aus ungemein thätiger Menschenliebe unternommenen Handlung. Er sah nehmlich, als er schon von jenem Gifte fast gänzlich geheilt war, am 5. Nov. 1724 ein Both mit vielen Menschen bei Lachtsa im Finnischen Meerbusen zwischen Klippen stranden, und sprang, da alle zugeschickte Hülfe fruchtlos war, selbst bis au den Leib in die Fluthen1; er machte das Both los, erhielt mehr als zwanzig Menschen das Leben, wurde aber gleich darauf von seiner vorigen Krankheit so heftig befallen, daß er nach wenig Monathen seinen Geist aufgab. Seinen Geist haben wir oben geschildert; seinen von Natur heftigen Charakter betreffend, so ließ überdieß seine rohe Erziehung merkbare Spuren ungestümer Wildheit, Jähzorn und Starrsinnigkeit, ja selbst bisweilen von Grausamkeit zurück. Man muß aber auch bedenken, daß er nur zu oft durch Widerspenstigkeit und Bosheit seiner barbarischen Unterthanen, welche seinen wohlthätigen Neuerungen die schwersten Hindernisse in den Weg legten, zum Zorn gereitzt wurde. Bei einem solchen Volke bedurfte es in der That eines Regenten, der unerbittlich streng, schnell und unwiderstehlich durchdrang, entsetzliche Strafen und Blutgerichte verhängte, und mit Gewalt jene edeln Zwecke erreichte, die auf andern Wegen unmöglich erlangt werden konnten. Uebrigens war er der wohlwollendste Menschenfreund. Seine Günstlinge betreffend, denen er sich zu [400] sehr überlassen haben soll, so verdiente Le Fort es wirklich, Vertrauter Peters zu sein; und der weit unter ihm stehende, doch aber auch geistvolle Menzikof stieg nie so hoch, daß er nicht oft in Ungnade gefallen wäre. Indeß verleitete ihn Letzterer, und zwar allein, zu jener That, die immer ein Flecken seiner Regierung bleibt, zur Hinrichtung des Zarewitsch (oder Kronprinzen), Alexei Petrowitsch, 1718, eines Jünglings, der zwar sehr widerspenstig und zur Kaiserwürde untauglich war, auch ohne Wissen des Vaters das Land verlassen hatte, den aber Menzikof, sein Oberhofmeister, beständig als einen Auswurf von Bosheit und Niederträchtigkeit geschildert hatte.
Petern folgte in der Regierung seine zweite Gemahlin Catharina I. Petrowna Alexiewna, eine ausgezeichnet schöne und geistvolle Monarchin, die schon 1727 starb. Sie war aus dem allerniedrigsten Stande, wahrscheinlich 1684 geboren, und wird (die Nachrichten von ihrer Herkunft sind sehr dunkel) für ein Liefländisches oder Esthländisches oder auch wohl Schwedisches Bauermädchen gehalten; wahrscheinlicher aber war sie eine Leibeigene aus dem Dorfe Ringen bei Dörpst in Liefland. Der Propst Glück zu Marienburg in Liefland hatte sie erzogen; und als bei der Einnahme der letzt genannten Stadt alle Einwohner gefangen weggeführt wurden, fiel sie in die Hände Menzikofs, der sie lange Zeit bei sich behielt. Bei ihm lernte sie der Zaar kennen, und gewann sie so lieb, daß er sie endlich 1710 zu seiner Gemahlin erhob und 1724 als Kaiserin krönen ließ.
1 S. Stählings Original-Anekdoten von Peter dem Großen, Leipz. 1785, S. 528 – ein Werk, dem felbst Spittler viel Glaubwürdigkeit zugesteht.
Buchempfehlung
Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro