[428] Phocion, ein berühmter Athenienser, der seinem Vaterlande als Staatsmann und Feldherr gleich wesentliche Dienste geleistet hat, lebte ungefähr vierthalb hundert Jahr vor der christlichen Zeitrechnung. Seine strenge Rechtschaffenheit und edle Denkungsart erhoben ihn weit über seine ausgearteten Zeitgenossen. Im höchsten Grade uneigennützig, war er bei den wichtigsten Ehrenstellen, die er bekleidet hatte, in den dürftigsten Umständen geblieben. So groß aber auch seine Verdienste waren, so schützten sie ihn doch nicht vor der Undankbarkeit seiner Mitbürger. Er begünstigte die aristokratische Partei, weil er glaubte, daß die Volksregierung nicht mehr für die verdorbenen Athenienser passe. Aber eben [428] dieses machte man ihm zum Verbrechen, als das Volk die Oberhand erhielt; und so wurde er noch in einem Alter von 80 Jahren zum Tode verurtheilt, den er mit der größten Gelassenheit erduldete, indem er bei dem Hingange zu demselben sagte, »daß ihm dieß Schicksal nicht unerwartet begegne, da er es mit den meisten großen Männern Athens gemein habe.« Die Reue, welche das Atheniensische Volk bald nach seiner Hinrichtung blicken ließ, rechtfertigte ihn bei der Nachwelt.