[258] Sicard (Rochus Ambrosius), der noch jetzt lebende erste Lehrer des Taubstummen-Instituts zu Paris, war 1742 zu Fousseret geboren, trat in den geistlichen Stand, und wurde Anfangs Lehrer der Taubstummen in Bordeaux, welche Stelle er, nach Absterben des Abts lʼEpee1, mit der in Paris vertauschte. Bei [258] den, nach Ausbruch der Französischen Revolution, und besonders nach dem 10. Aug. 1792, entstandenen großen Verfolgungen der Geistlichen, welche der Constitution zu schwören sich weigerten, kam Sicard, der sich unter dieser Anzahl befand, in große Gefahr. Er wurde arretirt, und am 2. Septbr. mit 15 andern Personen in 4 Wagen noch der Abtei geschickt, um dort in vorläufige Verwahrung genommen zu werden. Schon waren 13 Personen von diesen Unglücklichen theils unterwegs, theils in der Abtei selbst, durch die Septembermörder ermordet (s. Septembertage); schon schwangen die Mörder ebenfalls ihre Säbel über Sicard, als der Uhrmacher Monnot sich ihnen entgegen stürzte und rief: »Ehe ihr einen dem Vaterlande nützlichen Mann tödtet, müsset ihr zuvor mich durchbohren.« Während die Mörder über diese mit Feuer und Nachdruck ausgesprochnen Worte Monnotʼs einen Augenblick stutzten, wurde Sicard mit seinen zwei übrigen Begleitern [259] (dem zweiten Taubstummen-Lehrer und einem Advocaten aus Metz) in eines der hintern Zimmer der Abtei gebracht, in denen ein Ausschuß von Bürgern versammelt war, und alle drei nahmen an dem Tische des Ausschusses, gleichsam als Mitglieder desselben, Platz. Nur einen Augenblick darauf traten die wüthenden Mörder in dieses Zimmer, und verlangten mit fürchterlichem Geschrei Sicardʼs Kopf; gingen aber, da sie ihn nicht kannten, und ihn für ein Mitglied des Bürger-Ausschusses hielten, bei ihm vorbei, und verließen das Zimmer, in der Meinung, daß er sich bereits unter den Ermordeten befände. Nach dem völligen Sturz des Königthums wurde Sicard zwar Professor der philosophischen Sprachlehre an dem republikanischen Lyceum zu Paris und Mitglied des National-Instituts der Künste und Wissenschaften, für die Klasse der Sprachlehre; allein als ungeschwornem Geistlichen drohte ihm neue Gefahr, da besonders Druthe im J. 1796 im Rath der Alten auf Landesverweisung und Tod der ungeschwornen Geistlichen antrug. Sicard hatte jedoch Muth genug, in zwei Schriften, in einer an den Rath der Alten und in einer zweiten, die er an beide Räthe, das Directorium und das Volk richtete, wegen Verfolgung der Geistlichen Vorstellungen zu thun, unterzeichnete auch dieselben kenntlich genug mit dem Namen Dracis. Als daher am 26. Aug. dieses Jahres der Rath der Alten das Decret des Raths der Fünfhundert, in welchem die Deportation der ungeschwornen Geistlichen gebilligt worden war, verwarf, gerieth Sicard, der bei dieser Entscheidung sich unter den Zuhörern befand, in so große Freude, daß er seinen Beifall durch Händeklatschen zu erkennen gab. Dieses zog ihm zwar einen augenblicklichen Arrest zu, aus dem er jedoch, nach einem mit ihm angestellten Verhör, wieder entlassen wurde. Allein seine Freude war von keiner langen Dauer, indem am 5. Septbr. 1797 das Gesetz, welches die Rückkehr der deportirten Geistlichen erlaubt hatte, wieder aufgehoben wurde, und man ihn kraft dieses neuen Gesetzes zur Deportation verurtheilte und seiner Stelle im National-Institut verlustig erklärte. Um jener zu entgehen, verließ er seine Zöglinge und verbarg sich aufs strengste, gab jedoch während dieser Zeit einen Leitfaden für den Unterricht eines [260] gebornen Taubstummen (Cours dʼinstruction dʼun sourd muet de naissance) heraus. Mit der Rückkehr der bessern und ruhigern Zeiten der Französischen Regierung konnte Sicard endlich wieder aus seiner Verborgenheit hervortreten, und seine Lehrstelle bei dem Taubstummen-Institut wieder übernehmen; auch wurde er Ehrenmitglied des Athenäums zu Lyon, und nach des durch seine Grammatik bekannten Wailly Absterben (im April 1800) an dessen Stelle wiederum ordentliches Mitglied des National-Instituts zu Paris, im J. 1804 auch zugleich an Camüs2 [261] Stelle Mitglied der Verwaltungs-Commission für die Civilhospitäler in Paris. – Außer mehrern den Unterricht der Taubstummen betreffenden Schriften und Aufsätzen (von welchen letztern zwei von dem verdienten Lehrer des Taubstummen-Instituts zu Leipzig, Aug. Friedr. Petschke, in der Deutschen Monatsschrift, Leipz. 1797, im Monat August und December, übersetzt sind) hat Sicard auch eine Pasigraphie, oder erste Grundsätze einer allgemeinen Sprache, herausgegeben, von der er zwar nicht selbst Verfasser ist, die er jedoch mit dem Verfasser (de Memien) gemeinschaftlich bearbeitet hat. Er wurde, als er im J. 1804 dem Kaiser Alexander ein Exemplar dieses Werks übersendete, dafür mit einem Brillant-Ringe beschenkt. Ob übrigens Professor Eschke, Director des Taubstummen-Instituts zu Berlin, so glücklich gewesen ist, von Sicard (dessen Verdienste als Lehrer der Taubstummen und dessen Kenntnisse in Ansehung des Unterrichts dieser Unglücklichen wohl außer Zweifel sind) die Lobsprüche zu erhalten, die ihm in einem unter Sicardʼs Namen gedruckten Briefe (in Rambachʼs Kronos, Berlin 1801. II.) beigelegt werden, kann wohl, so wie die Echtheit oder Unechtheit des Briefes selbst, nach dem, was darüber im Allg. litter. Anzeiger 1801, S. 477–478, gesagt und belegt worden, kaum mehr einem Zweifel unterworfen sein.
1 Dieser edle Mann, der im J. 1790 in einem hohen Alter starb, war Anfangs Geistlicher, mußte aber, da man ihm Irrlehren Schuld gab, sich bald aller geistlichen Verrichtungen enthalten. Er wendete nun seine Aufmerksamkeit auf die Taubstummen, verbesserte deren Unterricht, und machte seine Lehrart im J. 1776 in einer eignen Schrift bekannt. Er war nicht bloß Lehrer seiner Zöglinge, sondern seine Liebe für sie war so groß, daß er von seinen Einkünften nur einen kleinen Theil zu seinen eignen Bedürfnissen, das Uebrige aber zum Besten seines Instituts verwendete. Diese Einrichtung war bei ihm so fest, daß er im Winter 1788, ob er gleich krank war, sich einige Zeit das Einheitzen versagte, um nur von der Summe, die er seinen Zöglingen bestimmt hatte, nichts wegzunehmen. Seine Haushälterin, die dieses endlich gewahr wurde, eilte nun in Begleitung seiner 40 Zöglinge (die in Thränen zerflossen, und ihm durch Zeichen zu verstehen gaben, daß er sich ihnen erhalten solle), zu ihm ins Zimmer, und nöthigte ihn, 300 Livres für sich zu verwenden. Er machte sich dieß aber nachher stets zum Vorwurfe, und äußerte oft gegen seine Zöglinge: daß er ihnen um 300 Livres Schaden gethan habe. Eine andere interessante Scene seines Lebens hat bekanntlich von Kotzebue in seinem Taubstummen bearbeitet, wozu ihm das Französische Stück: Lʼabbé de lʼEpée, instituteur des sourds et muets, die Veranlassung gab. Der Titel dieses Stücks veranlaßte einen merkwürdigen Uebersetzer-Unsinn, indem im Juli 1800 zu Mainz, wo es aufgeführt wurde, auf dem Anschlagszettel folgender Deutsche Titel beigefügt war: Der Degen-Abt, Stifter der Tauben und Stummen!!
2 Da dieses, in der Französischen Revolution denkwürdigen, Mannes Name im 1. Theile, S. 213 dies. Lex. bloß erwähnt ist; so werden einige Nachrichten von ihm hier nicht überflüssig sein. Armand Gaston Camus war zu Paris am 2. Apr. 1740 geboren, wurde Anfangs Parlaments-Advocat daselbst, königlicher Censor, auch Rath des Hauses Salm-Salm. Im J. 1789 wählte man ihn zum Mitglied der constituirenden National-Versammlung für den Bürgerstand, in der er sich besonders am 18. März 1790 durch seinen Bericht über das rothe Buch (dem Verzeichnisse der von dem Französischen Hofe ertheilten geheimen Pensionen und Gnadengehalte, die sich auf 227,981000 Livres beliefen) und die dadurch erfolgte Bekanntmachung desselben auszeichnete, daher man ihn auch 1792 als Deputirten der National-Convention und zum Aufseher des National-Archivs und Mitglied des National-Instituts für die Classe der Alterthümer wählte. Als im J. 1793 Dumonriezʼs Treue der National-Convention verdächtig wurde, schickte sie die Deputirten Camüs, Bancal, Quinette, Lamarque und Beurnonville an ihn, um ihn zu arretiren; allein Dumouriez ließ diese Deputirten selbst verhaften, lieferte sie an die Oestreicher ab, deren Gefangene sie nebst Drouet (s. dies. Art.), Semonville und Maret dreißig Monathe lang blieben, bis sie endlich am 26. Decbr. 1795 zu Basel gegen die königlich Französische Prinzessin Marie Therese ausgewechselt wurden. (Vergl. Bericht der Volksrepräsentanten Camüs, Bancal, Quinette, Lamarque und Drouet über ihre, des Kriegsministers Beurnonville und der Gesandten Semonville und Maret Gefangenschaft im Oestreichischen. Aus d. Französ. Frankf. u. Leipz. 1796. gr. 8.) Camüs erhielt nach seiner Rückkunft nach Paris die Stelle eines Mitglieds des gesetzgebenden Corps, wurde wieder Mitglied des National-Instituts, zuletzt auch Archivar des gesetzgebenden Corps, und starb am 2. April 1804. Als Schriftsteller hat er sich durch mehrere Schriften von verschiedenem Inhalte bekannt gemacht.
Buchempfehlung
Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.
246 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro