Vicarius

[324] Vicarius heißt 1) im weitläufigen und uneigentlichen Sinne derjenige, der die Stelle eines andern [324] bei gewissen Geschäften vertreten muß, z. B. Dom-Vicare (s. Th. V. S. 407.*), 2) im eigentlichen Sinne: der Stellvertreter dessen, dem eine Regierung, oder eine geistliche Gerichtsbarkeit zusteht. Es giebt daher entweder geistliche, oder weltliche Vicare. Auch theilt man sie, besonders die geistlichen, in so genannte geborne Vicare (vicarii nati) (d. h. solche, die vermöge ihres Amtes Vicare sind), und in ernannte Vicare (vicarii dati), (die zu ihrer Verwaltung einer besondern Bestellung oder eines besondern Auftrags bedürfen).

I) Geistliche Vicare kommen in der Regel bloß in der katholischen Kirche vor, und unter ihnen sind vorzüglich die päpstlichen und bischöflichen Vicare zu bemerken. Der Vicar des Papstes, den man Groß-Vicar nennte, und welcher ein Cardinal sein mußte, hatte die Gerichtsbarkeit in Rom über alle Priester, in- und außerhalb der Klöster, auch sogar über weltliche Personen und Fremde, die Mitglieder einer Innung waren, über Witwen, Waisen und andre so genannte mitleidswerthe Personen, so wie über die Juden. Den Vicaren der Bischöfe ist entweder die Verwaltung derjenigen Geschäfte, die zum geistlichen Amte, oder derer, die zur geistlichen Gerichtsbarkeit geboren, aufgetragen. Zur erstern Classe der bischöflichen Vicarien gehörten 1) in ältern Zeiten die Archipresbyter, oder Erzpriester (d. h. diejenigen Geistlichen, die das Meßopfer und die übrigen priesterlichen Handlungen in der Cathedralkirche (s. Stift, Th. V. S. 407.) des Bischofs zu verrichten hatten. Diese eigentlichen Erzpriester fielen aber nach Einführung der Domcapitel weg, weil alle Geistliche der Cathedralkirche in das Domcapitel aufgenommen wurden, und nun die Erzpriester ihr Amt nicht mehr selbst verwalteten. Dagegen erhielt die Benennung Erzpriester späterhin eine neuere uneigentliche Bedeutung. In den katholischen Ländern sind nehmlich über gewisse Districte geistliche Inspectoren gesetzt, die unter dem Cousistorium eines Bischofs stehen, Landdechante (diaconi rurales) heißen, und mit den Superintendenten [325] der Protestanten einige Aehnlichkeit haben. Diese Landdechante nennt man in manchen Ländern Erzpriester. 2) Die Weihbischöfe (d. h. Bischöfe, die zwar die bischöfliche Würde bekommen haben, aber kein Bisthum besitzen, sondern bloß die geistlichen Handlungen eines Bischofs verrichten können). Diese Weihbischöfe erhalten jedoch allezeit den Titel von einem Bisthume, aber nur von einem solchen, das nicht mehr vorhanden ist, oder nicht unter dem päpstlichen Stuhl gehört. (So gab es Bischöfe von Heliopolis etc. der berühmte Hontheim (s. dies. Art.) war z. B. Bischof zu Miriofidi.) Bischöfliche Vicarien in Ansehung der Geschäfte, die zur Gerichtsbarkeit gehören, sind: 1) die Archidiaconen (d. h. diejenigen Vicare, welche vermöge ihres Amtes gewisse Rechte der geistlichen Regierung in einem Theile des Bisthums ausüben), 2) die Officiale, oder Vicare in geistlichen Sachen (d. h. diejenigen Vicare, die zu Ausübung solcher Rechte besondern Auftrag haben).

II) Weltliche Vicare. Zu diesen gehörten besonders: 1) die Reichsvicarien (s. Vicariat), 2) die Erbbeamten der weltlichen Churfürsten, die an deren Statt bei gewissen Gelegenheiten die Erzämter1 verwalten mußten, 3) kommen sie noch jetzt in manchen Deutschen Ländern vor. So ist z. B. in der Oberlausitz der Amtshauptmann von Bautzen der beständige Vicar des Landvoigts der Oberlausitz, so wie der erste Landesälteste des Bautzner Kreises so genannter geborner Vicar des erstern.


Fußnoten

1 An den Höfen der ältesten Deutschen Kaiser und Könige, z. B. Carls des Großen, hatte man einen gewissen Hofstaat, oder eine Anzahl von Personen, die für die vorzüglichsten Bedürfnisse des Königs zu sorgen hatten, nehmlich: 1) einen Obermarschall oder Oberstallmeister, der die Oberaufsicht über die königlichen Pferde hatte, 2) einen Truchseß, der das Essen auf die königliche Tafel brachte, 3) einen Mundschenken, der dem König den ersten Trunk reichte, 4) einen Kämmerer, der die königlichen Revenüen zu besorgen hatte. Die Hofbedienten, denen diese Aemter aufgetragen waren, verrichteten dieselben aber nur bei feierlichen Gelegenheiten, und waren übrigens Räthe und Feldherren des Königs. Aus ihnen bildeten sich nach und nach die weltlichen Churfürsten, und man nannte ihre obgedachten Hofämter Erzämter. Allein nur in den ältesten Zeiten verwalteten die Churfürsten diese Aemter einige Mahle persönlich; und da sie die Regierung ihrer Lande übernahmen, übertrugen sie die Berwaltung derselben einigen vornehmen adlichen, gräflichen oder fürstlichen Familien für sich und ihre Nachkommen, welche deßhalb Erbbeamte nießen. Es gab eigentlich anfangs nur die vier oben gedachten Erzämter, nehmlich: 1) das Erzschenken-Amt, welches dem König von Böhmen, der zugleich Churfürst war, gehörte, 2) das Erz-Truchseß-Amt, welches Chur-Pfalz, 3) das Erz-Marschall-Amt, welches Chursachsen, 4) das Erz-Kämmerer-Amt, welches Churbrandenburg zustand. Erst späterhin kam 5) das Erzschatzmeister-Amt hinzu, welches seit dem Anfange des 18ten Jahrhunderts der Churfürst von Braunschweig-Lüneburg verwaltete. Die Verrichtungen der Erz-Aemter kamen bei der Krönung eines Kaisers vor, und bestanden besonders darin: daß der Erz-Kämmerer dem Kaiser Waschwasser in einem silbernen Gießbecken reichte, der Erzmarschall in einen großen Haufen Hafer ritt, etwas von demselben wegnahm, das Uebrige aber dem Volke überließ, der Erz-Truchseß in einer silbernen Schüssel ein Stück von dem bei der Krönung des Kaisers gebratenen Ochsen dem Kaiser überreichte, der Erzschenke demselben in einem silbernen Gefäße Wein überbrachte, und der Erzschatzmeister die auf die Krönung des Kaisers geschlagnen Münzen unter das Volk auswarf.


Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 324-327.
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