[964] Zweifellos ist die Heranziehung von Kindern zur Arbeit keine Erscheinung der Neuzeit; besonders aus Nachrichten über die Zunftzeit ist zu ersehen, daß die Kinder damals vielfach schon sehr früh in die Lehre traten. Immerhin ist anzunehmen, daß besondere Mißstände durch vorzeitiges und übermäßiges Anhalten der Kinder zur Arbeit in jener Zeit im allgemeinen nicht vorhanden waren, dieses Problem beginnt vielmehr mit der Entwicklung der Großindustrie, mit der Entstehung des Fabrik- und Maschinenwesens, welches nicht nur ganz neue und ausgedehnte Verwendungsmöglichkeiten für die kindliche Arbeitskraft schuf, sondern überhaupt im Anfange sehr ungeordnete Arbeitsverhältnisse aufwies. Maßnahmen zugunsten der in der Industrie arbeitenden Kinder, die vereinzelt vor und mit Beginn, häufiger schon in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. getroffen wurden, kennzeichnen daher auch die ersten Arbeiterschutzgesetze, sie bewirken im Zusammenhang mit der fortschreitenden gewerblichen Entwicklung, daß, wenngleich nicht so sehr die Arbeit jugendlicher Personen, so doch die der ganz unreifen Kinder in der Industrie zurückgeht und, soweit K. besteht, sie infolge der Beschränkungen der Arbeitszeit, der bessern hygienischen Vorkehrungen in den Werkstätten, der Ausgestaltung des Volksschulwesens etc. eine angemessenere Gestalt annimmt. Die neuere Zeit sieht sich aber genötigt, sich noch von einer andern Seite her mit der Frage der K. zu befassen. Das durch den Wettbewerb der Großindustrie bedrängte Kleingewerbe bedient sich häufig der wohlfeilen, wenngleich unreifen Arbeitskräfte der Jugendlichen, denen oft mit Unrecht die Bezeichnung als Lehrlinge beigelegt wird, während es sich in Wahrheit nicht um die Ausbildung, sondern um die Verwertung ihrer Arbeitskraft handelt; desgleichen gibt die moderne Hausindustrie nur zu oft die Gelegenheit, daß Kinder schon vom frühesten Alter an verwendet werden. Einem staatlichen Einschreiten stehen dabei besondere Schwierigkeiten entgegen, da sich die zerstreuten, von den Wohnräumen oft gar nicht getrennten Arbeitsstätten nur zu leicht der Aufsicht entziehen und die mißliche Vermögenslage der beteiligten Familien Beschränkungen des Erwerbs sehr empfindlich macht. Minder bedenklich ist im allgemeinen die K. in der Landwirtschaft, obwohl auch diese (durch Beeinträchtigung des Schulbesuchs, Übermaß, vorzeitige Verdingung zu Fremden etc.) häufig unter Bedingungen vor sich geht, welche geeignet sind, das günstigere Urteil wesentlich einzuschränken. Zu ernsten Besorgnissen gibt hingegen eine Reihe von Erwerbszweigen Anlaß, die zumeist gar nicht als eine normale Berufsausübung erscheinen, wie die Verwendung von Kindern zum Hausieren, Austragen, bei Schaustellungen etc.
Vergleichende Angaben, welche den vollen Umfang der K. in den einzelnen Ländern erkennen lassen, sind kaum vorhanden, teils wegen der Verschiedenheit der berufsstatist. Nachweisungen, teils weil bei den großen Volkszählungen die Erwerbstätigkeit der Kinder oft übersehen oder verschwiegen und daher nicht vollkommen zum Ausdruck gebracht wird. Immerhin sei eine Zusammenstellung (von Zahn) auf Grund neuerer berufsstatist. Erhebungen hier angeführt. Nach dieser befanden sich 1899 unter den Erwerbstätigen (einschließlich Dienstboten) Kinder:
Eingehender und zuverlässiger belehren gewisse Einzelerhebungen aus neuerer Zeit, die teils von amtlicher, teils von privater Seite, namentlich auch durch die Lehrerschaft, vorgenommen wurden. So wurden im Deutschen Reiche 1898 Erhebungen von den einzelnen Staaten durchgeführt, die sich mit Ausnahme gewisser Teile von Württemberg und S.-Coburg-Gotha auf das ganze Reichsgebiet erstreckten und die gewerbliche K. außerhalb der Fabriken zum Gegenstand hatten. Hierbei wurden ermittelt gewerblich tätige Kinder unter 14 Jahren:
Die gewerblich tätigen Kinder stellen 6-7 Proz. der vorhandenen volksschulpflichtigen dar; diese Verhältnisziffer schwankt aber sehr nach Gebieten, sie betrug für Berlin 12,8, für Sachsen 22,8 etc. Vielfach liegen auch Nachweisungen über die Dauer der Beschäftigung vor; so wurde für Preußen ermittelt, daß 41 Proz. der gezählten Kinder mehr als drei Stunden täglich arbeiteten.
In Österreich kam 1900 eine durch Lehrervereine veranstaltete Erhebung über die Erwerbstätigkeit der Schulkinder zustande, welche sich auf 786 Schulen mit 127.624 Kindern erstreckte, von denen 32.786 oder 25,7 Proz. als erwerbstätig befunden wurden.
Eine vom Minister des Innern ernannte Kommission schätzte 1901, daß in England 1898 rund 300.000 schulpflichtige Kinder in Arbeit standen, wovon eine beträchtliche Anzahl (etwa 50.000) durch mehr als 20 Stunden, und zwar ein großer Teil durch 30-40 und einige sogar bis zu 50 Stunden in der Woche beschäftigt waren.
Unter den Gesetzen, welche zur Regelung und Einschränkung der K. erlassen wurden, sind diejenigen die häufigsten, welche die Verwendung zu gewerblicher Tätigkeit betreffen. Die Gesetze unterscheiden oft zwischen Kindern und jugendlichen Arbeitern, wobei unter letztern jene verstanden werden, die zwar dem eigentlichen Kindesalter entwachsen sind, aber doch noch nicht die volle Reife erlangt haben. Zu den wichtigsten Bestimmungen gehören dabei jene, welche das für die Aufnahme in die Arbeit erforderliche Mindestalter sowie die zulässige Arbeitszeit betreffen. Die Regelung dieser Fragen weist in den einzelnen Staaten erhebliche Verschiedenheiten auf. Das in England geübte System besteht darin, die Zulassung zur Arbeit in Fabriken und Werkstätten verhältnismäßig früh zu gestatten (nach dem neuen Arbeiterschutzgesetz von 1901 mit dem vollendeten 12. Lebensjahre), dafür aber für eine gewisse Periode (bis zum zurückgelegten 14. Jahre, bez. bis zum Nachweise einer bestimmten Volksschulbildung) nur die Beschäftigung während der halben Arbeitszeit zu erlauben, d.h. das Kind darf nur am Vormittag oder nur am Nachmittag oder nur an jedem zweiten Tage arbeiten. In andern Staaten hingegen ist das Halbzeitsystem nicht angenommen, die Arbeitszeit anders geregelt, das Aufnahmealter aber zum Teil höher angesetzt. In Österreich z.B. dürfen Kinder zu regelmäßigen gewerblichen Beschäftigungen nicht vor vollendetem 12. Jahre, in fabrikmäßigen Unternehmungen nicht vor dem 14. Jahre verwendet werden; die Dauer der Arbeit der 12- bis 14jährigen Hilfsarbeiter darf acht Stunden täglich nicht übersteigen. In Italien soll in Zukunft (nach dem Gesetze von 1902) die Zurücklegung des 12. Jahres gefordert werden; die Arbeitszeit der Personen unter 15 Jahren ist auf 11 Stunden beschränkt. In den Niederlanden ist die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren, nach dem schweiz. Fabrik- gesetz jene von Kindern unter 14 Jahren, in Frankreich die von Kindern unter 12 Jahren unbedingt, die von ältern Kindern unter gewissen Voraussetzungen untersagt. Neben diesen allgemeinen Bestimmungen spielen aber auch die Vorschriften eine große Rolle, welche die zur Arbeit zugelassenen Kinder gegen die Verwendung zu den für das jugendliche Alter ungeeigneten Beschäftigungsarten schützen sollen. Manche Länder (Frankreich, Belgien, Italien) haben ausgedehnte Verzeichnisse von Betrieben und Betriebszweigen herausgegeben, in welchen keine Kinder oder jugendlichen Arbeiter beschäftigt werden dürfen; andere begnügen sich mit Einzelanordnungen oder fallweisen Beanstandungen durch die Arbeitsinspektion. Häufig sind auch Verbote der Arbeit unter Tag in Bergwerken; für Mädchen kommt dabei in Betracht, daß diese Arbeit in vielen Staaten für weibliche Personen überhaupt untersagt ist. Ferner ist regelmäßig die Nachtarbeit der Jugendlichen verboten oder mindestens beschränkt.
Im Deutschen Reiche enthält bereits die Reichsgewerbeordnung wichtige Bestimmungen über die K. Sie untersagt die Verwendung von Kindern unter 13 Jahren in Bergwerken, Fabriken, gewissen diesen gleichgestellten Anlagen, Werkstätten mit durch elementare Kraft bewegten Triebwerken; im Verordnungswege kann das Verbot auch auf andere Werkstätten sowie auf Bauten (mit Ausnahme solcher, wo nur Familienangehörige beschäftigt erscheinen) ausgedehnt werden. Dies geschah (1897) in betreff der Werkstätten, in welchen Kleider oder Wäsche im großen angefertigt wird, ferner (1904) in betreff solcher, in welchen Frauen- oder Kinderkleider nach Maß hergestellt oder Frauen- und Kinderhüte aufgeputzt werden. Kinder über 13 Jahre dürfen in den früher genannten Betrieben aber auch nur dann beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr schulpflichtig sind. Der Bundesrat kann ferner die Verwendung von jugendlichen Arbeitern (bis zu 16 Jahren) für gewisse Fabrikationszweige, welche mit besondern Gefahren für Gesundheit oder Sittlichkeit verbunden sind, gänzlich untersagen oder von bestimmten Bedingungen abhängig machen. In Fabriken etc. dürfen Kinder nicht länger als 6 Stunden, jugendliche Arbeiter (von 14 bis 16 Jahren) nicht länger als 10 Stunden und nicht zwischen 81/2 Uhr abends und 51/2 Uhr morgens beschäftigt werden.
Eine wichtige Ergänzung haben die Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung durch das Gesetz vom 30. März 1903, betreffend die K. in gewerblichen Betrieben, erfahren (Kinderschutzgesetz). Dieses hält die bereits bestehenden Vorschriften aufrecht und bezieht sich auf alle gewerblichen Betriebe und alle Kinder unter 13 Jahren sowie auf Kinder über 13 Jahre, die noch zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Unterschieden wird im Gesetz die Beschäftigung eigener Kinder, d.h. der zum Hausstand des Arbeitgebers gehörigen, mit ihm oder seinem Ehegatten in bestimmten Verwandtschafts- oder familienrechtlichen Beziehungen (durch Annahme an Kindes Statt, Vormundschaft, Aufnahme in Fürsorgeerziehung) stehenden, und der Beschäftigung fremder Kinder. Schlechtweg verboten ist die Beschäftigung sowohl eigener wie fremder Kinder bei Bauten aller Art, im Betriebe derjenigen Ziegeleien sowie Brüche und Gruben über Tage, auf welche die Arbeiterschutzbestimmungen (§§ 134-139 b) der Gewerbeordnung keine Anwendung finden, beim Steineklopfen, im Schornsteinfegergewerbe, in dem mit dem Frachtgeschäft verbundenen Fuhrwerksbetriebe, beim Mischen und Mahlen von Farben, beim Arbeiten in Kellereien. Desgleichen enthält das Gesetz ein Verzeichnis derjenigen Werkstätten, in deren Betrieb, abgesehen vom Austragen von Waren und von sonstigen Botengängen, Kinder nicht beschäftigt werden dürfen. Der Bundesrat ist ermächtigt, weitere ungeeignete Beschäftigungen zu untersagen und das Verzeichnis abzuändern. Dieses selbst enthält derzeit eine größere Anzahl von Betriebszweigen, bei denen wegen Staubentwicklung, Ansteckungsgefahr etc. die Verwendung von Kindern nicht rätlich erscheint. Im Betriebe von Werkstätten, in denen die Beschäftigung von Kindern nicht nach dem Vorstehenden verboten ist, im Handelsgewerbe und in Verkehrsgewerben dürfen fremde Kinder unter 12 Jahren oder eigene Kinder unter 10 Jahren nicht beschäftigt werden; soweit die Verwendung hiernach statthaft ist, muß sie gewissen Bestimmungen entsprechen, d.h. nicht in der Zeit zwischen 8 Uhr abends und 8 Uhr morgens und nicht vor dem Vormittagsunterricht stattfinden, um Mittag durch eine mindestens zweistündige Pause unterbrochen werden etc. Im Betriebe von Gast- und von Schankwirtschaften dürfen Kinder unter 12 Jahren überhaupt nicht und Mädchen nicht bei der Bedienung der Gäste beschäftigt werden; für die Beschäftigung der eigenen Kinder können unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen von diesem Verbot zugelassen werden. Auf die Beschäftigung von fremden Kindern beim Austragen von Waren und bei sonstigen Botengängen in den gewerblichen Betrieben finden die für die Verwendung in Werkstätten etc. erlassenen Beschränkungen Anwendung; diese gelten auch beim Austragen von Zeitungen, Milch und Backwaren, wenn die eigenen Kinder mit für Dritte beschäftigt werden, so z.B. die zum Austragen von Zeitungen durch einen Zeitungsversender bestellte Frau sich der Mithilfe ihres Kindes bedient. An Sonn- und Festtagen ist im allgemeinen, also mit gewissen Ausnahmen namentlich für Austräger- und Botendienste, die Beschäftigung von Kindern unstatthaft. Als Überwachungsvorschriften enthält das Gesetz insbes. die Festsetzung einer Anzeigepflicht für Arbeitgeber, die fremde Kinder beschäftigen, dann die Ausstellung von Arbeitskarten für solche Kinder, endlich eine Bestimmung über die Heranziehung der Gewerbeaufsichtsbeamten zur Überwachung der Durchführung des Gesetzes. Endlich setzt das Gesetz die Strafen bei Zuwiderhandlungen fest, enthält verschiedene Übergangsbestimmungen und sieht für die zuständigen Polizeibehörden die Möglichkeit vor, eine nach dem Vorstehenden zulässige Beschäftigung, sofern dabei erhebliche Mißstände zutage getreten sind, für einzelne Kinder einzuschränken oder zu untersagen etc.
Eine besondere Bestimmung des erwähnten Gesetzes betrifft die Verwendung von Kindern bei öffentlichen theatralischen Vorstellungen und andern Schaustellungen; sie ist untersagt, sofern nicht ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet. Die deutsche Gesetzgebung stimmt hierbei überein mit dem Vorgehen anderer Länder, die gleichfalls gesetzliche Maßnahmen gegen die Verwendung von Kindern zu öffentlichen Vorstellungen getroffen haben, so Frankreich (1874 und 1892), gewisse nordamerik. Staaten u.a.
An das deutsche Gesetz erinnert das englische Kinderschutzgesetz vom 14. Aug. 1903, welches die Bestimmungen der Fabrik- und Werkstättengesetzgebung dahin ergänzt, daß unter Festsetzung gewisser grundsätzlicher Gesichtspunkte den Ortsbehörden die Ermächtigung zur Erlassung verschärfter Bestimmungen über und gegen K. übertragen wird. Es richtet sich insbes., unter Festsetzung verschiedener Altersstufen, gegen die Nachtarbeit, den Straßenhandel, das Auftreten in öffentlichen Vergnügungsräumen, das Tragen und Bewegen von Lasten etc. durch Kinder.
Nicht berührt durch das Reichsgesetz wurde die Verwendung von Kindern bei der Landwirtschaft. Nach der Berufs- und Gewerbezählung von 1895 waren bei der Landwirtschaft (im Hauptberuf) tätig 30.604 Kinder unter 12 und 104.521 Kinder von 12 bis 14 Jahren, Zahlen, die gewiß unter der Wirklichkeit bleiben. Daß es auch hierbei an Auswüchsen nicht fehlt, ist nicht zu bezweifeln. Nähere Angaben werden jene Erhebungen bringen, die gemäß der vom Deutschen Reichstage 23. März 1903 gefaßten Resolution über den Umfang und die Art der Lohnbeschäftigung von Kindern im Haushalte (Aufwartung, Kinderpflege etc.) sowie in der Landwirtschaft und deren Nebenbetrieben 1904 beschlossen wurden.
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