[16] Anselmus von Canterbury, geb. 1033 zu Aosta (Piemont), wurde Schüler des Lanfrancs im Kloster Bec (Normandie), 1063 Prior des Klosters und Leiter der Klosterschule, 1078 Abt, 1093 Erzbischof von Canterbury, gest. 1109.
A. gehört zu den Begründern der Scholastik. Die Dogmen der Kirche sind unanfechtbar, an ihnen hat alles Denken seinen Prüfstein. Ohne Glauben gibt es keine Erkenntnis, vom Glauben ist zur Erkenntnis (der Gründe des Glaubens) fortzuschreiten: »Ich glaube, um zu verstehen« – »Credo, ut intelligam« (Proslog. 16; vgl. schon Augustinus, de vera relig. 5 u. ö.). Nie aber kann der Glaube durch die Erkenntnis erschüttert werden; das Unbegreifliche muß schließlich als Wahrheit hingenommen werden. Es gibt nicht nur ein Gutes an sich, sondern auch eine Wahrheit an sich und die ist Gott, das absolute Sein und Gute. Die Universalien sind etwas Reales (»Realismus«), existieren außerhalb unseres Denkens, vor den Dingen als Ideen, Urbilder der[16] Dinge im göttlichen Geiste. Gott hat die Welt aus Nichts geschaffen. Der menschliche Geist ist ein Abbild des göttlichen und hat wie dieser Gedächtnis, Verstand und Liebe, welche im Glauben wurzelt. Der menschliche Wille ist von Natur frei, auf das Gute gerichtet.
Berühmt ist A. durch sein »ontologisches« Argument für das Dasein Gottes (Proslogium). Aus dem Begriffe Gottes wird dessen Existenz gefolgert. Das Größte, was wir denken können, ist Gott. Gott ist zunächst als Inhalt unseres Denkens wirklich. Zur vollen Realität gehört aber noch das Sein außerhalb unseres Denkens, wie es die Außendinge haben. Würde nun Gott nicht real außer uns existieren, dann wäre er nicht das Größte, weil ihm etwas, eben die Existenz außerhalb des Gedachtwerdens, fehlte. Also muß Gott, zu dessen Begriff (als »Größtes«) das Sein gehört, existieren. Was aber das Größte ist, begreift selbst der Tor. der Gottlose. »Convincitur ergo insipiens esse vel in intellectu aliquid bonum quo maius cogitari nequit, quia hoc quum audit intelligit et quidquid intelligitur in intellectu est. At certe id quo maius cogitari nequit, non potest esse in intellectu solo. Si enim quo maius cogitari non potest, in solo intellectu foret, utique eo quo maius cogitari non potest, maius cogitari potest,... Existit ergo procul dubio aliquid, quo maius cogitari non valet, et in intellectu et in re« (Prosi. 2).
Hiergegen wandte der Mönch Gaunilo (aus dem Kloster Marmoutiers bei Torurs) in der Schrift »Liber pro insipiente« ein, aus dem Verstehen des Gottesbegriffs folge noch nicht das Sein Gottes im Intellekte und aus diesem nicht ein reales Sein Gottes. Auf diese Weise könnte man die Existenz aller möglichen Fiktionen erweisen, während in Wahrheit die Realität eines Objektes schon feststehen muß, bevor aus dessen Wesen etwas gefolgert wird. Anselm betont im »Liber apologeticus contra Gaunilouem«, sein Argument gelte eben nur für das »Größte«. In der Folge ist wiederholt der Versuch gemacht worden, das ontologische Argument neu zu formulieren und zu retten (vgl. Descartes).
In »Cur Deus homo« entwickelt A. die Lehre von der Erbsünde und von der »stellvertretenden Genugtuung« (Satisfaktionstheorie) für die unendliche Schuld des Menschengeschlechts durch den Mensch gewordenen Gott.
SCHRIFTEN: Dialogus de grammatico. – Dialogus de veritate. – Monologium. – Proslogium (Alloquium Dei). – De libero arbitrio. – Cur Deus homo? Opera, 1491, 1573, 1675 u. ö., ferner bei: Migne, Patrologiae cursus, T. 155, 1852-54. – Vgl. R. HASSE, Ans. T. Cant. 1843-52. – DOMET DE VORGES, Saint Anselm, 1901.