Avenarius, Richard

[35] Avenarius, Richard, geb. 1843 in Paris, 1876 Dozent in Leipzig, seit 1877 Prof. in Zürich, gest. 1896.

A. vertritt eine Art Positivismus, den »Empiriokritizismus«, d.h. einen Empirismus, der die Erfahrung von allen metaphysischen »Zutaten« reinigen will und nur Erfahrbares, »Vorgefundenes« anerkennt. Nachdem A. in[35] einer seiner ersten Schriften die Bedeutung des Ökonomieprinzips für das seelische Leben und das Erkennen erörtert, gab er in der zweiten die Grundlegung zum Empiriokritizismus, der nicht vom Bewußtsein, Ich oder Denken, auch nicht von transzendenten Dingen, sondern vom unmittelbar Gegebenen ausgeht und die eigene und fremde Erfahrung prinzipiell für gleichberechtigt hält. Die Kritik geht darauf aus, alles zu eliminieren, was nicht reine Erfahrung ist. d.h. was nicht Aussageinhalt (»E-Wert«) ist, der durch die »Umgebung« selbst bedingt ist. Reine Erfahrung enthält nichts anderes als Erfahrungsbestandteile, welche wiederum nur Umgebungsbestandtteile voraussetzen. A. gibt seiner Erkenntnislehre eine biologische Grundlage. Das vorfindende Individuum ist repräsentiert und zentralisiert im »System C« (im Großhirn), welches beständig einem Erhaltungsmaximum seiner Kräfte zustrebt, indem die »unabhängigen Vitalreihen« auf Minderung und Aufhebung der »Vitaldifferenzen«, der jeweiligen »Störungen« ausgehen. Durch diese Prozesse sind die »abhängigen Vitalreihen«, die Bewußtseinsprozesse und Erkenntnisinhalte (zu deren »Elementen« die »Charaktere«, d.h. gefühlsmäßigen Auffassungsweisen hinzukommen) funktional bedingt; die Prozesse im »System C« sind wiederum von den Umgebungsbestandteilen (R) abhängig, ferner von Stoffwechselveränderungen (S), also von zwei »partialsystematischen Faktoren«. Das »System C« ist im Erhaltungsmaximum, wenn f (R) = f (S) ist. »Vitaldifferenz« ergibt sich durch die Entfernung vom Maximum der Erhaltung, von der »Systemruhe«. Was wir nun »Erfahrung« und »seiende Sachen« nennen, steht in bestimmter Abhängigkeit vom »System C« und der »Umgebung«. Sie ist »rein«, wenn alle von dieser nicht abhängigen Aussageinhalte eliminiert sind.

Von der »Multiponiblen« höchster Ordnung, der Endbeschaffenheit des »System C«, ist der »Weltbegriff« abhängig, der sich auf die »Allheit der Umgebungsbestandteile« bezieht und der den »natürlichen« Weltbegriff restituiert, indem er die »Introjektion« ausschaltet, welche die ursprüngliche Weltanschauung verfälscht. Die ursprüngliche »Prinzipialkoordination« besteht in der Existenz eines »Zentralgliedes« (Individuum) und seiner »Gegenglieder«, über die es Aussagen macht. Durch die »Introjektion« (Einlegung von Innenzuständen in die Menschen) werden die wahrgenommenen Umgebungsbestandteile zu »Vorstellungen in uns«. Aus dem »vor mir« wird ein »in mir«, ein Bewußtseinsinhalt, eine Erscheinung u. dgl., es entsteht so der Gegensatz von Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt, wodurch die Welt verdoppelt, die Erkenntnis verfälscht wird. In Wahrheit gibt es nur eine einzige Art des Seins. Es gibt auch keine Dualität von Physischem und Psychischem. »Psychisch« ist ein Vorgang nur als »Abhängige« einer Änderung im »System C« und insofern er »mehr als mechanische« Bedeutung hat, d.h. ein Erlebnis bedeutet.

Anhänger des A. sind besonders Carstanjen, Petzoldt, Willy, C. Hauptmann, W. Heinrich, J. Kodis, M. Klein u. a., beeinflußt sind R. Wahle, H. Gomperz u. a. Vgl. E. Mach.

SCHRIFTEN: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, 1876; 2. A. 1903. – Kritik der reinen Erfahrung, 1888-90. – Der menschliche Weltbegriff, 1891, 2. A. 1905. – Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos.[36] Bd. 18-19, 1894-95 u. a, – Vgl. CARSTANJEN, K. Avenarius' biomechan. Grundleg. d. reinen allgem. Erkenntnistheorie, 1894. – WUNDT, Philos. Sind. XIII, 1896. – EWALD, B. Avenarius, 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 35-37.
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