[57] Bergson, Henri, geb. 1859 in Paris, seit 1890 Prof. in Paris (Collège de France).
Beeinflußt ist B. von Ravaisson, Lachelier, Boutroux u. a. Wie diese vertritt er einen »Neo-Spiritualismus«, der zugleich »Panvitalismus« ist, insofern nach ihm das »Leben« das wahre Sein ist. Verwandtschaft hat seine Lehre in einzelnem mit Anschauungen von Leibniz, Schelling, Schopenhauer, James, Mach, Nietzsche, Wundt u. a. Methodisch (nicht erkenntnistheoretisch, da er ein A priori; z.B. in der Raumvorstellung zugibt) ist B. Empirist und zwar betont er die innere Erfahrung als Erkenntnisquelle. Im Gegensätze zur dialektischen, panlogistischen Philosophie ist B.s Lehre ein »Irrationalismus«.
Die Metaphysik B.s stellt sich in Gegensatz zu der abstrakten Verstandesauffassung,[57] deren praktische, für die Zwecke des Handelns, des Lebens berechtigte und notwendige Leistung aber anerkannt wird. Dort, wo es sich um Beherrschung, Antizipation, Berechnung der Dinge und des Geschehens handelt, da hat die äußerliche, mechanistische, analytische Auffassung und Zurechtlegung der Wirklichkeit ihre Berechtigung. Denn dieses Erkennen dient ja ursprünglich nur praktischen Zwecken (insoweit nur ist B. »Pragmatist«). Aber das wahre, unmittelbare, absolute Sein der Dinge kann uns keine verstandesmäßige, begriffliche, abstrakte, symbolische, analytische Erkenntnis enthüllen. Die aus dein Instinkt geborene Intuition leistet hier viel mehr. Durch »Intuition« (und Einfühlung) erfassen wir in und außer uns das konkrete, individuelle, absolut wirkliche, einheitliche, stetigwerdende, sich schöpferisch entfaltende, lebendige Sein und Geschehen, welches die begrifflich-analytische Erkenntnis verräumlicht, veräußerlicht, mechanisiert, stabilisiert, zerstückelt (Gegen den Intellektualismus). Der Verstand ist nur »la faculté de fabriquer des objets artificiels« (Evol. créatr. p. 151). Er hat es nur mit Relationen, nicht mit Dingen selbst zu tun. Der Mechanismus ist mir ein Denkmittel. Es gibt eben zwei Richtungen des Geistes; die eine geht auf das Relative, Äußerliche, Mechanische, Starre, Notwendige, die andere auf das Absolute, Aktive, Stetige, Lebendige, Freie (l. c. p, 243).
Das über alle Kategorien (Einheit, Vielheit. Kausalität usw.) erhabene Sein ist das Leben. Es ist innere, stetige Entwicklung, Streben, Aktivität, ist schöpferisch (»évolution créatrice«). Mit einem »élan originel«, der sich in Individuen und Gattungen differenziert, durch alle Generationen nachwirkt, setzt es ein. Es ist eine Tendenz, auf die anorganische Materie einzuwirken, ihre Energie zu verwerten, in die Materie die größtmögliche Summe von Freiheit einzuführen; nur infolge von Hemmungen wird die Entwicklung divergent. Die Entwicklung ist »schöpferisch«, indem das Leben beständig neue Elemente entfaltet (Evol. créatr. p. 31 ff.). Sie ist weder mechanisch, noch »final« in dem Sinne, als ob sie auf äußerliche Ziele eingestellt wäre. Das Leben ist eine »Tendenz« (Voluntarismus), ein Streben, das beständig neue Ziele setzt und durchläuft, ein fortwährendes Neuschaffen von Formen und Werten. Es ist in seiner positiven Richtung geistig, Bewußtsein (im weiteren Sinne), das erst in der Stauung und Rückströmung unbewußt wird und sich materialisiert, so aber, daß das Körperliche gleichsam in das Geistige eingebettet ist.
Das Bewußtsein bedeutet »hésitation ou choix«, Wahl. Intensiv ist es, wo viele mögliche Aktionen bestehen; es mißt den »Abstand zwischen Vorstellung und Handeln«. Die assoziationistische und atomistische Psychologie verfälscht das Seelenleben, indem sie die Äußerlichkeit, Koexistenz, kurz die Eigenschaften des Räumlichen auf die innere Erfahrung überträgt. Aus der rein qualitativen Bestimmtheit, des innern, stetigen Bewußtseinsverlaufes (der »reinen Dauer«) machen wir etwas Quantitatives, Intensives, Extensives, Mechanisches; wir verräumlichen, mechanisieren das Seelische. Der Raum ist apriorisch und subjektiv und die äußerliche, »homogene« Zeit der äußeren Erkenntnis eigentlich nur ein Raum, während die wahre, reine Dauer (»durée pure«), der stetige Fluß des sich in allen seinen Momenten selbst erhaltenden und steigernden, vorwärts[58] strebenden Geschehens, die schöpferische Zeit (»temps-inventeur«), absolut real ist. Sie ist das innere Werden, sich Entfalten und Wachsen des (seelischen) Lebens selbst, das Sichdurchdringen aller Momente des Bewußtseins in der Einheit des sich im Flusse seiner Erlebnisse stetig setzenden und erhaltenden Ichs, wobei die Vergangenheit im Gegenwärtigen nachwirkt und die Gegenwart sich in die Zukunft erstreckt (Ess. p. 74 ff., 170 ff.; Mat. et mém. p. 225 ff.). Die »reine Dauer« ist »le progrès continu du passé« (Evol. créatr. p. 5). Das seelische Geschehen ist keine Summe von Elementen oder Zuständen, sondern ein Strom, ein stetiger Verlauf, ein Hineinwirken der Vergangenheit in die Gegenwart. So ist das reine, geistige Gedächtnis der Kern des Bewußtseins; es ist »durée agissante et irréversible«. Das »reine Gedächtnis« ist mit der Vorstellung verbunden und seinem Wesen nach vom Gehirn unabhängig (Mat. et mém. p. 67 ff.). Es ist vom körperlichen Gedächtnis zu unterscheiden, d.h. von der Aufspeicherung von Gewohnheiten, von motorischen Mechanismen. Reproduziert werden in der Regel nur die nützlichen Erinnerungen. Das Gehirn ist keine Quelle des Bewußtseins, sondern nur ein motorischer Apparat, ein »intermédiaire entre los sensations et les mouvements«, ein Werkzeug zur Auswahl der Bewegungen; es speichert nur die »mécanismes moteurs« der Vorstellungen auf. Der psychophysische Parallelismus ist ein »Paralogismus«. Es ist nicht wahr, daß allen Bestimmtheiten der psychischen Vorgänge Bestimmtheiten der Gehirnprozesse parallel gehen. Im Gehirn, einem bloßen Teile der Welt, kann diese selbst nicht in der Darstellung vertreten sein. Den Gehirnprozessen entsprechen nur motorische Wirkungsmöglichkeiten der Vorstellungen, nicht diese selbst als reine Bilder. Demselben Gehirnzustand können verschiedene psychische Zustände korrespondieren, nämlich alle, welche dieselben Bewegungstendenzen haben. Das Gehirn ist ein Werkzeug, durch dessen zahlreiche Aktionsmöglichkeiten der Gewohnheit, dein Automatismus entgegengewirkt und die Freiheit aufrechterhalten wird, also ein Instrument des Geistes; Geist und Materie sind nicht zwei Wesenheiten, denn die Materie besteht selbst schon aus den objektiven Wahrnehmungsbildern (vgl. Mach, Avenarius u. a.), mit denen unsere Empfindungen usw. verbunden sind. Der »Dualismus« ist dahin zu deuten, daß die Materie die »Umkehrung«, Stabilisierung, Erstarrung des Lebensstromes darstellt, daß sie die »Zerstreuung«, Auflösung des stetigen Werdens in eine Summe statischer Elemente, eine »Entspannung« des Geistes ist. Das Leben in der reinen, schöpferischen Zeit ist das Geistesleben; das Materielle ist das verräumlichte Geschehen. Der Geist strebt immer über die Automatisierung hinaus, gestaltet (in und durch das Nervensystem) die Materie zu einem Werkzeug für seine Aktivität, für seine Freiheit, welche eine (rein begrifflich nicht zu bestimmende) Spontaneität des aus den Tiefen des zentralen Ichs entspringenden Strebens und Handelns ist.
Anhänger B.s sind Luquet, E. Le Roy, Wilbois, Dwelshauvers u. a.
SCHRIFTEN: Essai sur les donnés immédiates de la conscience, 1889, 6. éd. 1910; deutsch 1910. – Matière et mémoire, 1896, 5. éd. 1909, (deutsch 1908) – Le rire, 1900, 5. éd. 1910; deutsch 1910. – L'évolution créatrice, 6. éd. 1910. – Abhandlungen: L'effort intellectuelle, Rev. philos., 1902. – L'idée de néant, Rev philos., 1906. – Introduct. á la[59] métaphys., Rev. de mét. et de morale, 1903; deutsch 1910. – Le paralogisme psycho-physiol., Rev. de mét. 1904. – Le souvenir da présent et la fausse reconnaissance, Rev. philos., 1908. – Vgl. über B.: DELBOS, Rev. de mét., 1897. – RAUH, ib. 1897. – COUTURAT, ib. 1896. – GUREWITSCH, Archiv f. syst. Philos. II. – A. STEENBERGEN, H. Bergsons intuitive Philos., 1909. – R. KRONER, H. Bergson, Zeitschrift »Logos«, 1910.
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