Herakleitos von Ephesos

[251] Herakleitos von Ephesos (Heraklit), geb. um 540 v. Chr., aus einem vornehmen Geschlechte, von aristokratischer Gesinnung, ein Verächter der Menge und ihrer Beschränktheit, lebte nach der Verbannung seines Freundes Hermodoros einsam, gest. um 480. Wegen des Tiefsinnigen und zuweilen Schwieligen seiner (wohl aphoristisch) gehaltenen Lehren erhielt H. den Beinamen »der Dunkle« (ho skoteinos); wegen seiner Schwermut wurde er (gegenüber Demokrit) der »weinende Philosoph« genannt. Von seiner Schrift: Peri physeôs sind etwa 126-129 echte Fragmente erhalten.[251]

H. schließt die Reihe der älteren »jonischen Physiker« ab. Wie diese forscht er nach dem Urprinzip der Dinge, als welches er das ätherische, bildende »Feuer« findet, und wie sie ist er Hylozoist, denn das »Feuer« ist zugleich lebendig, beseelt, ja vernünftig, die Weltvernunft, der »Logos« logos. Zuerst aber erfaßt H. die Idee des Werdens als solche, insofern ihm das ruhige Sein, das Beharren als Sinnenschein, die beständige Veränderung, der Wechsel, der »Fluß« des Geschehens als das Wahre und Wesentliche, als die Wirklichkeit selbst gilt. H. ist Monist, denn die Mannigfaltigkeit der Dinge und Geschehnisse ist nur Ausdruck einer Welteinheit, und er ist Pantheist, denn diese Einheit, das Weltfeuer, ist zugleich die Gottheit. Diese Welt, sagt er, hat weder ein Gott noch ein Mensch gemacht, sondern ewig ist sie ein lebendiges Feuer, das gesetzmäßig sich entzündet und verlöscht (kosmon ton de ton auton hapantôn oute tis theôn oute anthrôpôn epoiêse, all' ên aei kai estin kai estai pyr aeizôon, haptomenon metra kai aposbennymenon metra). Aus Feuer besteht alles, in Feuer löst sich alles auf. Erde und Wasser sind Formen tropai des Feuers. Einen Doppelweg des Werdens gibt es, den Weg nach unten hodos katô, wo das Feuer in Wasser und Erde übergeht und damit an Lebendigkeit verliert, und den Weg nach oben hodos anô, wo alles sich in Feuer umsetzt – so aber, daß beide Wege eins sind. Immer wieder löst sich die Welt in das Weltfeuer auf (ekpyrôsis; vgl. die Stoiker; auch eine »Wiederkunft des Gleichen« wird hier gelehrt).

Die Vielheit der Dinge entsteht durch den Kampf (Streit), den »Vater der Dinge« (polemos pantôn men patêr esti, pantôn de basileus). Das Verschiedene, Gegensätzliche steht aber in Harmonie wie die des Bogens oder der Leier (palintropos harmoniê hokôsper toxou kai lyrês). Alles in der Welt geht in seinen Gegensatz über und alles enthält Gegensätze in sich vereinigt: Leben und Tod, Jugend und Alter usw.; Kaltes wird warm. Warmes kalt usw. Aus allem wird alles. Im »Gegenlauf« (enantiodromia) des Geschehens schlägt alles in sein Gegenteil um (vgl. Hegel), mit dem es identisch ist (taut' einai zôn kai tethnêkos...; ginesthai te panta kat' enantiotêta...; panta... metaballei eis enantion). Alles fließt (panta rhei), nichts beharrt, nichts »ist« absolut, sondern ist nur im Werden (hoti panta chôrei kai ouden menei). Da sich alles fortwährend verändert, so kann man nicht zweimal in denselben Fluß steigen (Nach dem Herakliter Kratylos auch nicht ein einziges Mal). Aber das Werden ist ein gesetzmäßiges, streng geregeltes. Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten, sonst würden die Erinnyen, welche das Recht (dikê) schützen, sie ereilen. Ist also auch der Auf- und Abbau der Welten eine Art Spiel der Gottheit, so ist es doch ein geregeltes Spiel, ohne Willkür. Das ewige Feuer (pyr aidion) ist zugleich der Logos, die Weltvernunft und das Weltgesetz (nomos, dikê, heimarmenê, gnômê), dem sich alles fügen muß. Alles geschieht »logisch«, dem Logos gemäß (gignomenôn gar pantôn kata ton logon), der den Dingen innewohnt und dessen die Menge der Menschen sich nicht bewußt ist, obzwar alles richtige Denken nur ein Denken im Sinne der Allvernunft ist, der wir folgen müssen (dei hepesthai xynô toutesti koinô) .

Die Seele des Menschen ist um so besser, je »trockener« (d.h. feuerartiger) [252] sie ist. Sie ist ein Teil des Urfeuers, eine Art Ausdünstung (anathymiasis) des Weltfeuers. Feucht zu werden, ist der Tod der Seelen. Wahre Erkenntnis ist ohne Denken, Vernunft nicht, möglich; die Sinne ohne Leitung seitens dieser sind »schlechte Zeugen« (kakoi martyres anthrôpoisin ophthalmoi kai ôta barbarous psychas echontôn). Bloße Vielwisserei ist nutzlos (polymathiê noon ou didaskei). Wir erkennen wahrhaft nur vermittelst der allgemeinen Vernunft in uns (tou logou de eontos xynou zôousin hoi polloi hôs idian echontes. phronêsin). Das Denken ist das dem Geiste Gemeinsame (xynon esti pasi to phroneein) und dieses ist die Quelle der Wahrheit. Für das Allgemeine müssen wir kämpfen wie die Stadt für die Gesetze, die sich ja alle von dem einen göttlichen Gesetz nähren; für das Gesetz, wie das Volk für die Stadtmauern kämpft (hokôsper nomô polis...; machesthai chrê ton dêmon hyper tou nomou hokôsper teichous). Überhebung (hybris) ist zu bekämpfen; zufrieden ist nur der dem Gesetze Gehorchende. Der Charakter des Menschen ist sein Schicksal (êthos anthrôpô daimôn). Den, Menschen erwartet nach dem Tode Unverhofftes.

SCHRIFTEN: Heracliti Ephesii reliquiae, rec. Bywater, 1877. – H. v. Ephesos, griechisch und deutsch von Diels, 1901; 2. A. 1909. – Die Briefe (ed. Westermann, 1857) sind unecht. – Vgl. DIELS, Vorsokratiker I. – SCHLEIERMACHER, H. der Dunkle, WW. Abt. III, Bd. II, 1838. – J. BERNAYS, Heraclitea, 1848. – F. LASSALLE, Die Philosophie H.s des Dunklen, 1858. – TEICHMÜLLER, Neue Studien I, 1876. – M. KOHN, Also sprach Herakleitos, 1907. – E. PFLEIDERER, Die Philos. des H., 1886. – PRESSLER, D. metaphys. Anschauungen H.s, 1908.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 251-253.
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