Herbart, Johann Friedrich

[253] Herbart, Johann Friedrich, geb. 4. Mai 1776 in Oldenburg als Sohn eines Justizrates, studierte seit 1794 in Jena und hörte dort Fichte, 1797 ging er als Hauslehrer nach der Schweiz (Bern), wo er durch Pestalozzi angeregt wurde, lebte 1800-1802 in Bremen, habilitierte sich 1802 in Göttingen für Philosophie und Pädagogik, wurde 1805 außerordentlicher Professor und 1809 ordentlicher Professor in Königsberg. Seit 1835 lebte er in Göttingen und starb dort 14. August 1841, H. ist ein kritisch-systematischer Kopf, dem (gegenüber Fichte u. a.) eine gewisse Nüchternheit eigen ist.

H. bekämpft den »subjektiven« Idealismus Fichtes wie die »Identitätslehre Schellings« ( – zwei kritische Aufsätze hierüber legte H. in Jena seinem Lehrer Fichte vor – ) und bildet unter dem Einflusse der Eleaten, Platos und Kants die Leibnizsche Monadologie zu einem »Realismus« aus, indem er das empirische Sein als Erscheinung einer Vielheit von Dingen an sich, der einfachen, immateriellen »Realen« bestimmt. In erkenntnistheoretischer Beziehung steht er zwischen Empirismus und Rationalismus in der Mitte, indem er die Erkenntnis[253] als denkende Verarbeitung von Erfahrungsinhalten auffaßt. In der Ethik: bildet er die Platonische Ideenlehre weiter. In der Psychologie hat H. neue Bahnen eingeschlagen, Mathematik auf das seelische Leben angewendet und in mancher Beziehung der modernen Psychologie vorgearbeitet; als Psycholog ist H. Intellektualist.

Die Philosophie ist nach H. »Bearbeitung der Begriffe«, d.h. Läuterung, Klärung und Vereinheitlichung derselben durch das Denken, die Reflexion. Die Philosophie geht vom unmittelbar Gegebenen – den Empfindungen und deren Formen – aus und übt daran Kritik, wobei sie durch die Skepsis hindurchgeht. Sie zerfällt in die Logik, Metaphysik (allgemeine und angewandte) und Ästhetik, deren Anwendung die »praktischen« Wissenschaften ergibt.

H.s Logik ist formalistisch. Sie dient der Verdeutlichung der Begriffe, betrachtet die »Deutlichkeit in Begriffen und die daraus entspringende Zusammenstellung der letzteren«. Von der Psychologie ist sie scharf unterschieden, denn »sie beschäftigt sich nicht mit dem Aktus des Vorstellens..., sondern mit dem, was vorgestellt wird«, mit »Verhältnissen des Gedachten«. Es sollen lediglich »diejenigen Formen der möglichen Verknüpfung des Gedachten... nachgewiesen werden, welche das Gedachte selbst nach seiner Beschaffenheit zuläßt«. Begriff ist (logisch) die Vorstellung »in Hinsicht dessen, was durch sie vorgestellt wird«, »jedes Gedachte, bloß seiner Qualität nach betrachtet«, also mit Abstraktion von der psychologischen Entstehung der Vorstellungen. Auf die Verhältnisse der Begriffsinhalte zueinander kommt es an (disparate, konträre usw. Begriffe). Reine Begriffe sind »logische Ideale«. Wir denken sie tatsächlich nur vermittelst der Urteile auf Grund von Allgemeinvorstellungen. Das Urteil ist die Entscheidung der Frage, ob ein Paar sich im Denken begegnender Begriffe eine Verbindung eingehen können oder nicht; durch die Urteile entstehen erst bestimmte Begriffe.

Die Metaphysik ist die »Lehre von der Begreiflichkeit der Erfahrung«, von der »Ergänzung der Begriffe«. Sie bearbeitet die allgemeinen Begriffe (wie Ding, Kausalität usw.) so, daß sie die in ihnen liegenden »Widersprüche« durch die »Methode der Beziehungen« beseitigt. »In dem Zusammen, also in den Formen des Gegebenen, wie sie durch Begriffe zunächst gedacht werden, müssen Widersprüche stecken. Die Spekulation wird diese Widersprüche ergreifen und sie lösen, indem sie die Formen ergänzt, d.h. indem sie den durch die Erfahrung dargebotenen Begriffen diejenigen Begriffe hinzufügt, worauf dieselben sich notwendig beziehen.« Widerspruch ist Unmöglichkeit eines Gedankens. Das sich Widersprechende kann nicht real sein. Die Metaphysik zerfällt in allgemeine M. und angewandte M. (Naturphilosophie, Psychologie); erste zerfällt in »Ontologie«, »Synechologie« (Lehre vom Stetigen), »Eidologie« (Erscheinungslehre).

Überall forscht die Metaphysik nach dem Grunde der vorgefundenen Widersprüche, die sie beseitigt, indem sie das, was als Eines nicht gedacht werden kann, als Vielheit von Dingen in Beziehungen zu anderen denkt (Pluralismus). Gegeben ist nach H. die Erfahrung mit dem Empfindungsmaterial und[254] den Formen der Erfahrung. Letztere sind nicht (wie bei Kant) apriorisch, sondern gehen psychologisch aus »Reihen« hervor, deren Ordnungen schon mit den Empfindungen gegeben sind. Alles in Raum und Zeit Gegebene ist als solches nur Erscheinung, weist aber auf ein An sich hin, welches mittelbar erkannt wird. Das Sein ist »absolute Position«, die schon mit der Empfindung da ist, da uns diese zunächst (durch ihren Zwang) als das Seiende erscheint. Indem wir uns aber der' Subjektivität der Empfindung bewußt werden, sie als (objektiven) »Schein« erkennen, der doch, um da zu sein, ein wahres Sein fordert (»So viel Schein, so viel Hindeutung aufs Sein«), wird die Empfindung auf ein Ding an sich, die Vielheit der Empfindungen auf eine Vielheit des Seienden, ein System realer Wesen, Monaden (»Realen«) bezogen. Im Sein liegt die Anerkennung des »Nicht-Aufzuhebenden«. »In der Empfindung ist die absolute Position vorhanden, ohne daß man es merkt. Im Denken muß sie erst erzeugt werden aus der Aufhebung ihres Gegenteils.« Das Zurückbleibende, nach aufgehobenem Sein, ist Schein und dieser weist auf ein reales, nicht aufhebbares Sein hin. »Objektiv« ist ein solcher Schein, der von jedem einzelnen Objekt ein getreues Bild dem Subjekte darstellt. Das Sein muß ohne Negation und Relation sein; seine Qualität ist positiv, einfach, unveränderlich, absolut, an sich unbekannt. »Die Qualität des Seienden ist gänzlich positiv oder affirmativ, ohne Einmischung von Negativem.« Jedes »Reale« hat seine besondere Qualität, welche es gegen »Störungen« erhält, wobei nur die in der »zufälligen Ansicht« bestehenden Beziehungen wechseln, je nach dem »Zusammen« oder »Nichtzusammen« der Realen.

In dem Begriff des einen Dinges mit vielen Eigenschaften, also im Inhärenzverhältnis, liegt nach H. ein Widerspruch. Der Widerspruch löst sich, wenn das Ding als Komplex von »Realen« gedacht wird, deren »Zusammen« und »Nichtzusammen« der Erscheinung der Dinge und ihrer Veränderungen zugrunde liegt. Auch im Begriff der Veränderung liegen Widersprüche (wie in dem der Kausalität), indem wegen der veränderten Merkmale die Substanz anders, wegen der beharrenden dieselbe Komplexion sein soll. Auch hier handelt es sich in Wirklichkeit um ein »Zusammen mehrerer Seienden«, um Wesen, die vermöge der »Störungen« und »Selbsterhaltungen« als sich verändernde Dinge erscheinen. Kein Ding ist an sich Substanz, sondern nur im Verhältnis zu anderen, im »Zusammen« mit diesen. Da die »Störungen«, welche die Realen bedrohen, infolge der »Selbsterhaltung« derselben gar nicht erfolgen, so gibt es an sich kein eigentliches Werden (Eleatismus). »Die Wesen erhalten sich selbst, jedes in seinem eigenen Innern und nach seiner eigenen Qualität, gegen die Störung, welche erfolgen würde, wenn die Entgegengesetzten der mehreren sich aufheben könnten.« Der Wechsel von Zusammen und Nichtzusammen der Realen ist das wahre Geschehen, welches im An sich des psychologisch-subjektiven Raumes, im »intelligiblen Raum« erfolgt, den wir »zu dem Kommen und Gehen der Substanzen unvermeidlich hinzudenken«, für die Lagenveränderungen intelligibler Wesen konstruieren. Eine Stetigkeit gibt es in diesem »Raum« nicht. Das »Aneinander« der Realen ergibt die »starre Linie«. Alle Bewegung ist relativ, ist Ruhen der Wesen in bezug auf sich selbst. Reale mit[255] gleichartigen Qualitäten und an einem Punkte durchdringen einander. Die ausgedehnte Materie ist »objektiver Schein«, dem eine Summe einander partiell durchdringender Realen entspricht, deren Innenvorgänge in äußerlichen Veränderungen zur Erscheinung gelangt. Den inneren Zuständen, den Selbsterhaltungen gehören gewisse Raumbestimmungen als notwendige Auffassungsweisen für den Zuschauer zu, die eben, weil sie nichts Reales sind, nach jenen inneren Zuständen sich richten müssen. So entsteht die Erscheinung von Abstraktion und Repulsion, deren Gleichgewicht ein materielles Element, ein Atom ergibt. Je nach der Art und Stärke des Gegensatzes der Elemente (starker, schwacher, gleicher, ungleicher Gegensatz) entsteht die feste Materie, der Wärmestoff, das Elektrikum, der Äther.

Die Lebenskräfte sind nichts Ursprüngliches, sondern das Produkt der Selbsterhaltungen eines Wesens, die »innere Bildung« der einfachen Wesen. Entstanden sind sie nach den »Zweckbegriffen« der Vorsehung. Die Lebenskräfte erscheinen als bewegende Kräfte, sind aber nicht durch physikalisch-chemische Gesetze zu verstehen. Ohne Hilfe der Psychologie gibt es keine Definition des Lebens. Zwischen den inneren Zuständen des einfachen Wesens treten Hemmungen ein und die Zustände eines solchen Wesens haben in anderen, mit denen zusammen es den Organismus bildet, gleichartige Zustände zur folge (Assimilation usw.).

Widersprüche enthält nach H. auch der Ichbegriff. Das Ich soll (als Subjekt-Objekt) sich vorstellen, sein sich Vorstellen vorstellen und so fort ins unendliche, was zu einer unendlichen Reihe führt, bei der das Ich nicht zustande kommt. Ebenso ist das Ich als einfacher Träger einer Vielheit von Zuständen ein Unwesen. In Wahrheit nun setzt sich das Ich nur im Zusammen mit anderen Wesen und ist ein »Mittelpunkt wechselnder Vorstellungen«. Das Ich liegt in den jeweilig apperzipierenden Vorstellungsmassen. Unter Apperzeption versteht H. die Aufnahme und Bearbeitung anderer durch andere, neuer durch alte, zuweilen auch alter durch neue. Neue Vorstellungen werden apperzipiert, indem »ältere gleichartige Vorstellungen erwachen, mit jenen verschmelzen und sie in ihre Verbindungen einführen«.

Damit sind wir bereits bei der Psychologie H.s angelangt, welche er als »angewandte Metaphysik« betrachtet und, gegen die Vermögenspsychologie und die konstruktiv-dialektische Methode, mit Anwendung der Mathematik auf Vorgänge der inneren Erfahrung durchzuführen sucht. Als »Ergänzung der innerlich wahrgenommenen Tatsachen« überschreitet sie die Erfahrung, von der sie aber ausgeht. Sie ist die »Lehre von den inneren Zuständen einfacher Wesen«. Sie soll ihren Stoff nicht bloß sammeln, sondern begreiflich machen. Die Lehre von den »Seelenvermögen« macht die Psychologie zur Mythologie; in Wahrheit sind die Seelenvermögen nur »Klassenbegriffe«. Die inneren Zustände der Seele, ihre »Selbsterhaltungen« sind »Vorstellungen« (zu denen auch die Sinnesempfindungen gehören); Gefühle und Begehrungen sind nichts neben und außer den Vorstellungen, nur »veränderliche Zustände derjenigen Vorstellungen, in denen sie ihren Sitz haben« (Intellektualismus). Die Seele selbst ist eine einfache, immaterielle, unsterbliche Substanz, deren eigentliches »Was« unbekannt[256] ist, die aber wegen der Einheit des Bewußtseins als Träger desselben angenommen werden muß. Sie ist ohne Teile und an sich ohne Vielheit in ihrer Qualität, auch ist sie nicht eigentlich irgendwo im Raume. »Dennoch muß sie in dem Denken, worin sie mit anderen Wesen zusammengefaßt wird, in den Raum, und zwar für jeden Zeitpunkt an einen bestimmten Ort gesetzt werden. Dieser Ort ist das Einfache im Räume, oder das Nichts im Räume, ein mathematischer Punkt. Die Seele ist an sich auch nicht irgendwann, muß aber im Denken in die Zeit gesetzt werden. Sie hat weder Anlagen noch Vermögen, weder etwas zu empfangen, noch zu produzieren. Der Sitz der Seele im Organismus ist wechselnd; manche Tiere haben mehrere Seelen. Seele und Leib (als Komplex von Realen) stehen in Wechselwirkung miteinander, wobei das seelische Geschehen durch den Leib bald gehemmt, geschwächt, bald beschleunigt, verstärkt werden kann« (Physiologischer Druck – physiologische Resonanz).

Die Vorstellungen sind Ausdrücke für die innere Qualität der Seele, die sich gegen drohende Störungen erhält. An sich nicht dynamisch, werden sie zu Kräften, indem sie einander widerstehen; dies geschieht, wenn mehrere entgegengesetzte zusammentreffen. Vorstellungen können niemals ganz untergehen, sie werden durch andere nur verdrängt, gehemmt, bleiben aber als Strebungen erhalten. »Das Vorstellen also muß nachgeben, ohne vernichtet zu werden. Das heißt, das wirkliche Vorstellen verwandelt sich in ein Streben, vorzustellen«. Sobald das Hindernis weicht, kann die Vorstellung (auch ohne Assoziation) durch ihr eigenes Streben wieder hervortreten (»freisteigende Vorstellungen«). Unter den »Resten« nach der Hemmung sind jene Teile der Vorstellung zu verstehen, welche unverdunkelt bleiben. Indem gleichzeitig auftretende, einander partiell oder total entgegengesetzte Vorstellungen einander »hemmen« (schwächen, verdunkeln, aus dem Bewußtsein, d.h. dem aktuellen Erlebtwerden und dessen Zusammenhang, verdrängen), ist eine »Statik« und »Mechanik« des Geistes möglich, welche sich mit der Berechnung des »Gleichgewichts« und der »Bewegung« der Vorstellungen beschäftigt. Im Gleichgewichte sind Vorstellungen, wenn den notwendigen Hemmungen unter ihnen gerade Genüge geschehen ist; die fortgehende Veränderung ihres Grades von Verdunkelung ist ihre Bewegung. Zu bestimmen ist die »Hemmungssumme« und das »Hemmungsverhältnis«. Erstere ist »gleichsam die zu verteilende. Last, welche aus den Gegensätzen der Vorstellung entspringt«, also das »Quantum des Vorstellens, welches von den einander entgegenwirkenden Vorstellungen zusammengenommen muß gehemmt werden«. Das Hemmungsverhältnis ist jenes Verhältnis, in welchem sich die Hemmungssumme auf die verschiedenen Vorstellungen verteilt. »Die Summe sowohl als das Verhältnis der Hemmung hängt ab von der Stärke jeder einzelnen Vorstellung – sie leidet die Hemmung im umgekehrten Verhältnis ihrer Stärke – und von dem Grade des Gegensatzes unter je zweien Vorstellungen, denn mit ihm steht ihre Wirkung auf einander im geraden Verhältnis.« Die Hemmungssumme ist als möglichst klein anzunehmen. Das einfachste Bewegungsgesetz der Vorstellungen lautet: »Während die Hemmungssumme sinkt, ist dem noch[257] ungehemmten Quantum derselben in jedem Augenblick das Sinkende proportional.« Die Art und Weise, wie Vorstellungen aus dein Bewußtsein verdrängt und doch darin wirksam sind, laßt sich so ausdrücken: sie sind auf der »mechanischen Schwelle«. Unter der Schwelle ist eine Vorstellung, wenn sie nicht aktuell zu werden vermag.

Der Grund, weshalb entgegengesetzte Vorstellungen einander widerstehen, ist die Einheit der Seele, aus der auch die Verbindung der Vorstellungen zu erklären ist. Die Verbindungen sind Komplexionen (der nicht entgegengesetzten Vorstellungen; z.B. Ton und Farbe) oder Verschmelzungen. Vorstellungsfolgen, deren Glieder einander in bestimmter Ordnung reproduzieren, sind »Reihen« (z.B. Raum, Zeit). Diejenige Reproduktion ist »unmittelbar«, welche »durch eigene Kraft erfolgt, sobald die Hindernisse weichen« (Begriff der »Wölbung« und »Zuspitzung«). Bei der »mittelbaren« Reproduktion dienen Vorstellungen als »Hilfen«, d.h. sie unterstützen einander im Tragen der Hemmung und im Verluste derselben. Das Streben, vorzustellen, fällt nicht ins Bewußtsein. Von der »Apperzeption« von Vorstellungen war schon oben die Rede, ebenso von den Gefühlen und Begehrungen, welche H. als Zustände der Vorstellungen auffaßt. Der Wille ist eine Begierde, verbunden mit der Voraussetzung der Erlangung des Begehrten; er ist das »Inwendigste im Menschen und in der Gesellschaft«. Das Begehren selbst ist das »Hervortreten einer Vorstellung, die sich gegen Hindernisse aufarbeitet«. Der Verstand ist die Fähigkeit, sich im Denken nach der Qualität des Gedachten zu richten; die Vernunft ist das Vernehmen von Gründen und Gegengründen; beiden liegen Vorstellungsreihen zugrunde. Die Freiheit besteht in der Herrschaft der stärksten Vorstellungsmassen, in der Aktivität des Charakters.

Unter »Ästhetik« versteht H. die Wissenschaft von den Begriffen, mit welchen Urteile des Beifalls oder Mißfallens sich verbinden; sie umfaßt die Ethik und eigentliche Ästhetik. Die Ethik ist »praktische Philosophie« (Lehre vom Tun und Lassen), Lehre von den Billigungen und Mißbilligungen (»Geschmacksurteilen«) der Willensverhältnisse, die unmittelbar gefallen oder mißfallen und an sich (ohne Beziehung auf das Subjekt) mit Evidenz gewertet werden (Intuitionismus). Das Sittliche ist also Gegenstand absoluter Wertschätzung. Aus den ethischen »Geschmacksurteilen« über Willensverhältnisse gehen praktische, ethische Ideen hervor, welche das sittliche Leben leiten; aus den Ideen erst entspringt die Pflicht. Die Ideen sind Musterbilder des sittlichen Willens, Maßstäbe zur Beurteilung des Wertes des Wollens. Die fünf ursprünglichen Ideen sind: 1. die Idee der inneren Freiheit (Übereinstimmung des Willens mit der eigenen Beurteilung); 2. Idee der Vollkommenheit (Gefallen des Größeren neben dem Kleineren); 3. Idee des Wohlwollens (Harmonie zwischen eigenem und vorgestelltem fremdem Willen); 4. Idee des Rechtes. (beruht auf dem »Mißfallen am Streit«: »Recht ist die Einstimmung mehrerer Willen, als Regel gedacht, die dem Streite vorbeuge«; der Staat ist die »Gesellschaft durch Macht geschützt«); 5. Idee der Billigkeit (Vergeltung). Die abgeleiteten Ideen sind die Ideen der Rechtsgesellschaft, des Lohnsystems, des Verwaltungssystems, des Kultursystems, der beseelten Gesellschaft. Die Gesellschaft[258] ist von einem gemeinsamen Wollen beseelt, psychologische Kräfte wirken in ihr, mit Verhältnissen, die denen zwischen den Vorstellungen analog sind (Statik und Dynamik des Staates; »Schwelle« des gesellschaftlichen Einflusses).

Die Ästhetik H.s im engeren Sinne ist »formalistisch«, d.h. das ästhetische Gefallen haftet nach ihr nicht am Gehalt des Wahrgenommenen oder Dargestellten, sondern an der »Form«, an Vorstellungsverhältnissen, die als solche unmittelbar gefallen (bezw. mißfallen): Harmonie, Rhythmus, Einheit usw.

Die Pädagogik H.s hat bis in die Gegenwart hinein außerordentliche Geltung gehabt. Sie basiert auf der Psychologie und erhält ihr Ziel durch die Ethik. Die Bedeutung des Interesses wird stark betont. Zwischen »Regierung«. Unterricht und »Zucht« wird unterschieden.

Die Religion entspringt der Hilfsbedürftigkeit des Menschen, sie beruht auf Demut und dankbarer Verehrung. Sie ergänzt und stützt die Sittlichkeit, tröstet, bessert, beruhigt. Ein eigentliches Wissen von Gott ist unmöglich, aber wir müssen die Zweckmäßigkeit in der Welt auf eine zwecksetzende, göttliche Intelligenz beziehen.

Herbart hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Anhänger und Nachfolger, und auch jetzt finden sich ihrer, besonders unter den Pädagogen so manche. Außer in Leipzig wurde die Herbartsche Philosophie besonders in Osterreich (auch in den obersten Klassen der Gymnasien) gepflegt, durch F. Exner und H. Bonitz gefördert. Das Organ der Herbartianer war die »Zeitschrift für exakte Philosophie«, 1861-75, 1883-96; jetzt ist es die »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik«, 1894 ff. Von Lazarus und Steinthal, die von Herbart ausgingen, wurde (seit 1859) die »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« herausgegeben.

Herbartianer sind Drobisch, Hartenstein, Strümpell, Zimmermann, Thilo, Ziller, Flügel, Rein, C. S. Cornelius, Schilling, Stiedenroth (z.Teil), Griepenkerl, Bobrik, Drbal, Lott, Volkmann, Waitz (z. Teil), G. A. Lindner, Nahlowsky, Stoy, Wittstein u. a.

SCHRIFTEN: Über Pestalozzis neueste Schrift: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (Zeitschrift »Irene« I), 1802; 2. A. 1804. – De Platonici systematis fundamento, 1805. – Allgemeine Pädagogik, 1806; auch in der Universalbibl. – Über philosophisches Studium, 1807. – Hauptpunkte der Metaphysik, 1808. – Hauptpunkte der Logik, 1808. – Allgemeine praktische Philosophie, 1808. – Psychol, Bemerkungen zur Tonlehre, Königsberger Archiv I. – Psychol. Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung als Punktion ihrer Dauer betrachtet, ibid. – Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, 1813; 2. A. 1821; 5. A. 1883. – Lehrbuch zur Psychologie, 1816; 2. A. 1834; 3. A. 1887. – Gespräch über das Böse, 1817. – De attentionis mensura, 1822. – Über die Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, 1822. – Psychologie als Wissenschaft, 1824-25. – Allgemeine Metaphysik, 1828-29. – Kurze Enzyklopädie der Philosophie, 1831; 2. A. 1841. – De principio logico exclusi medii, 1833. – Umriß pädagogischer Vorlesungen. 1835; 2. A. 1841, auch in der Universalbibl. – Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens, 1836. – Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral, 1836. – Psychologische Untersuchungen, 1839-40. – Kleinere philos. Schriften, hrsg. von Hartenstein, 3 Bde.,[259] 1842-43. – Sämtliche Werke, hrsg. von Hartenstein, 12 Bde., 1850-52; 2. A, 13 Bde., 1883-93. – Sämtliche Werke. hrsg. von Kehrbach, 15 Bde., 1887 ff. – Pädagogische Schriften, hrsg. von Willmann, 2 Bde., 1873-75; 2. A. 1880. – Herbartsche Reliquien, hrsg. von Ziller, 1871. – Ungedruckte Briefe von u. an H., hrsg. von Zimmermann, 1877. – Vgl. DROBISCH, Über die Fortbildung der Philosophie durch H., 1876. – STRÜMPELL, Die Metaphysik H.s, 1896. – W. KINKEL. J. F. H., 1903. – F. FRANKE, H., 1909. – LIPPS, Zur H.schen Ontologie, 1874. – E. WAGNER, Vollst. Darstell. d. Lehre H.s, 1896. – ZIECHNER, H.s Ästhetik, 1908.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 253-260.
Lizenz:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon