Joël, Karl

[301] Joël, Karl, geb. 1864 in Hirschberg, Prof. in Basel. J., der als Historiker der Philosophie Hervorragendes geleistet hat, ist in seinem eigenen Denken durch die Mystik und Romantik beeinflußt und zeigt manche Verwandtschaft mit Anschauungen, wie sie Kant, Fichte, Schelling, Nietzsche, Bergson u. a. hegen, indem er eine aktivistische Lebensauffassung vertritt. Die Naturphilosophie stammt nach J. nicht aus dem Mythus, sondern aus der Mystik, aus dem Gefühl. »Man entdeckte die Natur, indem man Gott in ihr suchte.« Das Gefühl ist werdende, indifferenzierte Erkenntnis; es schlägt die Brücken zwischen Subjekt und Objekt. Alle Mystik stammt aus einem gesteigerten Lebensgefühl, aus dem »Totalgefühl«, dem Gefühl des Unendlichen, in welchem Gott und Welt eins sind, alles ein Leben, eine Seele, Gott selbst ist.

Die Kausalität ist nach J. nicht etwas, was an sich besteht; zu Ursache und Wirkung wird ein Geschehen erst in bezug auf unsere Zwecke. Der Kausalsatz verurteilt die Welt nicht zur ewigen Gebundenheit und Unfreiheit. Der Mechanismus und Determinismus ist etwas Sekundäres: die Kausalität gilt, aber nur als Erkenntnisgesetz. An sich ist die Welt weder frei noch notwendig. Freiheit und Notwendigkeit gelten nicht als Tatsachen, sondern als Werte, als praktische Begriffe. Die Materialität und der Mechanismus der Welt besteht nur in bezug auf die Zwecke unseres Handelns, stehen im Dienste desselben. »Weil wir wirken wollen, Wirkungen suchen, müssen wir Ursachen setzen. Der Wille setzt Zwecke, und damit ist die Kausalität gegeben.« Teleologie und Mechanismus bedingen sich gegenseitig; der Mechanist erklärt aus Mitteln, der Teleologe aus Zwecken. Ohne »Perspektive« gibt es keine Kausalität, die also schon durch den Willen (zum Wirken) bedingt ist. »Wir erst machen die Dinge zu alledem. Und darum sage ich, die Kausalität ist praktisch«; sie ist eine Sache des Betrachtens und des Wirkens. Die Theorie selbst ist praktisch, die Kausalität ein Anthropomorphismus. Die Kausalität liegt im Denken und im Willen. »Durch den Willen allein... wird die Spannung erlebt zwischen Ursache und Wirkung.« »Unser Wille ist das Freie, das Selbständige, Wirksame, in uns, dessen Wesen es ist, Wirkungen zu setzen, also Abhängiges, Bedingtes, Notwendiges hervorzubringen. Der Wille kann gar nichts anderes als causa sein. Er ist das Aktive als solches, das als seine Folie, sein Gegenüber, sein Objekt das Passive fordert, das Abhängige.« »Aus unserer Freiheit, d.h. aus unserem Willen setzen wir Notwendigkeiten.« »Wir wollen wirken und damit werden die Erscheinungen Passiva für unsere Aktionen. Wir fühlen uns als Subjekt, Person, Kraft, und[301] dadurch werden sie Objekte, Dinge, Stoffe.« Nach der von uns erlebten Freiheit und Notwendigkeit deuten wir die Objekte. Das Körperliche ist das Beharrende, der Geist (das Bewußtsein) ist »das Variierende, Individualisierende«.

Freie und gebundene, gehemmte, erstarrte, mechanisierte, einseitig gewordene Aktivität – das ist's was den Determinismus und Indeterminismus zu höherer Einheit verbindet, die Bindung des Willens anerkennen und ihn doch als seinem Wesen nach frei bestimmen laßt. »Die Kausalität fordert die Freiheit.« Leiden ist nur gehemmtes Wirken. Das Ich, das Subjekt, der Wille ist das Freie als solche; Motive sind schon Momente des Wollens, durch die er sich selbst determiniert, bindet. Das Unfreie ist das Willenlose, ist Willenseinseitigkeit, Willenshemmung. Die Gesetze sind nicht selbständige Mächte, sondern Ausdruck unseres Handelns. Die Freiheit lebt nur in immer neuen Akten der Befreiung, durch »Überwindung der Konstanz«. Sie ist zugleich (innere) Notwendigkeit als Eigengesetzlichkeit. »In Freiheit dem Ganzen dienen, das ist das Höchste.«

SCHRIFTEN: Zur Erkenntnis der geistigen Entwicklung u. d. schriftstellerischen Motive Platons, 1887. – Zur Gesch. d. Zahlprinzipien in d. Griech. Philos., 1890. – D. Zukunft d. Philosophie, 1893. – Der echte und der Xenophontische Sokrates, 1893-1901. – Philosophenwege. 1901. – Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik, 1900. – Nietzsche und die Romantik, 1905. – Der freie Wille, 1908, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 301-302.
Lizenz: