[425] Lotze, Rudolf Hermann, geb. 21. Mai 1817 in Bautzen, studierte in Leipzig Medizin und Philosophie (bei C. H. Weisse), habilitierte sich 1839 in Leipzig, wurde 1842 Philosophie-Professor daselbst, 1844 in Göttingen, 1881 in Berlin, wo er am l. Juli 1881 starb.
L. ist ein etwas vorsichtiger, besonnener Denker, der mit voller Anerkennung der Ergebnisse und Prinzipien der Naturwissenschaft den Ausblick ins Metaphysische und mit dem Realismus der Wissenschaft den metaphysischen und ethisch-religiösen Idealismus (bezw. Spiritualismus). verbindet, für den der Mechanismus der Natur das Symbol und Mittel für einen universalen Zweckzusammenhang ist (»Teleologischer Idealismus« mit. dem Grundsatz: »Nur die Einsicht in das, was sein soll, wird uns auch die eröffnen in das, was ist«). Beeinflußt ist L., der in gewisser Hinsicht Leibniz mit Spinoza verbindet, außer von diesen beiden noch von Herbarts »Realismus«, ferner von Kant, Fichte, Hegel u. a. Zu vollem Ausgleich sind die von L. verwerteten philosophischen Elemente nicht überall gekommen, es[425] fehlt nicht an Schwankungen und Unentschiedenheiten. Eine Synthese von Theismus und Pantheismus, Dualismus (Pluralismus) und Monismus, Mechanismus und Teleologie, durch welche der dogmatische Naturalismus überwunden werden soll, ist das Ziel des L.schen Denkens, welches auf wissenschaftlicher Basis, nicht aprioristisch-konstruktiv, sich gestaltet, aber vielfach ethisch-ästhetischen Gesichtspunkten folgt. Die Philosophie hat zum Gegenstande die Begriffe, welche in den Einzelwissenschaften wie im Leben als Prinzipien der Beurteilung der Dinge und der Handlungen gelten. Ihr Ziel ist eine Weltanschauung, welche dem Leben dient, es besser ertragen hilft und ihm Ziele gibt.
In erkenntnistheoretischer Beziehung modifiziert L. den Kantschen Idealismus nach Leibniz und Herbart hin (Idealrealismus), auch den Apriorismus Kants legt er sich in seiner Weise zurecht. Erst nach Abschluß der Denkarbeit, nicht von vornherein, stimmt unsere Erkenntnis mit dem Verhalten der Dinge überein, das wir aber, wenn es auch unsere Erkenntnistätigkeit beeinflußt, nicht so erfassen, wie es an sich ist. Das Ding an sich ist unerkennbar, wir erkennen nur die Verhältnisse der Dinge und zwar in symbolischer Weise. Die Erscheinungen sind nicht das einzig Existierende, sondern sie setzen ein Sein voraus, in dessen »inneren Verhältnissen« die »bestimmenden Gründe« für die Form des Erscheinens liegen (Objektiver Phänomenalismus, Ideal-Realismus). In der Erkenntnis wirken Denken und Erfahrung zusammen, ebenso Subjekt und Objekt, indem die in der Erfahrung gegebenen Eindrücke seitens der Dinge nur die Gelegenheitsursachen zur Entfaltung der Erkenntnistätigkeit aus dem Wesen des Geistes selbst abgeben. Die Empfindungen sind nicht Abbilder objektiver Eigenschaften, sondern subjektive Erscheinungen in uns als Folge von äußeren Reizen und durch diese ausgelöst. Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) sind als solche ebenfalls subjektiv, sie entspringen aus der Gesetzmäßigkeit des Vorstellens, haben aber einen Grund in den Verhältnissen der Dinge selbst (vgl. Leibniz, Herbart). Die raum- und zeitlosen Eindrücke übersetzt das vereinigende und beziehende Tun des Geistes in eine eigene neue Sprache; die Seele selbst produziert unbewußt (aber notwendig, durch die Empfindungen selbst gereizt) die Raum- und Zeitanschauung, erstere vermittelst der »Lokalzeichen«. Angeboren ist keine Erkenntnis, es gibt keinen ursprünglich bewußten Besitz des Geistes vor aller Erfahrung. Die Anschauungsformen und die Kategorien (Kausalität usw.) sind in keinem anderen Sinne »angeboren«, als daß »in der ursprünglichen Natur des Geistes ein Zug liegt, der ihn nötigt, unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlich diese Auffassungsweisen des Erkennens auszubilden«. Der Gedanke einer notwendigen Verbindung zwischen den Vorstellungen ist eine »Forderung« des Geistes, der einen »Drang« zur Erzeugung eines solchen Zusammenhanges hat. Der Geist ist eine Einheit und strebt das Mannigfaltige der Eindrücke im Sinne eines »zusammenhängenden Ganzen zu deuten und es in das Bild einer Welt zu verwandeln.., in deren innerlicher Verknüpfung er den Widerschein seiner eigenen Einheit findet«.
Das Denken ist eine selbständige, aktive Geistestätigkeit, eine »fortwährende[426] Kritik, welche der Geist an dem Material des Vorstellungsverlaufes ausübt«, indem er die Vorstellungen trennt, deren Verknüpfung sich nicht auf ein in der Natur ihrer Inhalte liegendes Recht der Verbindung gründet. Das geschieht im Urteil, welches zugleich das Subjekt als selbständiges Ding auffaßt, als Träger von Eigenschaften. Die sichtende, kritische Tätigkeit des Denkens durchdringt die ganze sinnliche Weltauffassung, welche schon kategorial verarbeitet ins Bewußtsein tritt, als ein innerlich zusammenhängendes Ganzes. Die logischen Denkformen sind formal und real zugleich, nämlich jene subjektiven Verknüpfungsweisen unserer Gedanken, die uns notwendig sind, wenn wir durch Denken die objektive Wahrheit erkennen wollen. Die Kategorien (Kausalität usw.) sind oberste Voraussetzungen, die wir an die Erfahrung (bei Gelegenheit derselben) heranbringen, Forderungen unseres Einheitstrebens (vgl. Eisler, Einführung in die Erkenntnistheorie, 1907). Die Vernunft ist auf Einheit unserer Weltauffassung, auf Abschluß der Erfahrung gerichtet; sie ist eine eigene Form des beziehenden Denkens (vgl. Wundt). · Die Ideen sind ursprüngliche Einheiten in den Dingen, ihr Wesen, ihr Daseinsgrund, der beständige Sinn veränderlicher Gestalten. Nur das ist, »was in dem vernünftigen Zusammenhange der ewigen Ideen seine Stelle hat«. Alles Endliche hat seinen Grund im göttlichen Ideenzusammenhange; es ist seine Bestimmung, eine Idee zu realisieren.
So kommen wir zur Metaphysik Lotzes mit ihrer teleologischen Weltanschauung. »Sein« heißt nach L. »in Beziehung stehen«, ein beziehungsloses Sein ist undenkbar. Diese Beziehungen sind das, was das Dasein der Dinge ausmacht, wenn wir sie nicht wahrnehmen. Den räumlichen Beziehungen, die nur Erscheinung sind, entsprechen nun unräumliche Verhältnisse der Dinge, eine Wechselwirkung der Elemente derselben, die uns als bloße Beziehung erscheint. Die realen Elemente der Dinge sind Monaden (»unräumliche Atome«), einfache Wesen mit inneren Zuständen, rein qualitativen Eigenschaften, ohne räumliche Größe und Gestalt, also an sich immateriell und erst in ihrer Verbindung die Erscheinung der Körperlichkeit, der Materie bewirkend (vgl. Leibniz). Die Materie hat ein »doppeltes Dasein«: äußerlich mit den bekannten Eigenschaften des körperlichen Stoffes sich verhaltend, innerlich von »geistiger Regsamkeit« belebt. Alle Wirklichkeit ist schließlich Fürsich-Sein, »geistig« im weitesten Sinne, d.h. sie hat eine Innerlichkeit, die allerdings erst in den höheren (Seelen-) Monaden zu eigentlichem psychischen Leben und Bewußtsein erwächst, so daß die Unterscheidung von Geist und Körper, Seele und Leib voll berechtigt bleibt. Die Monaden sind einfache Substanzen mit inneren Zuständen, vermittelst welcher sie die Welt spiegeln, so daß kein Teil des Seienden unbelebt und unbeseelt ist (Dieser »Panpsychismus«, wird von L. später abgeschwächt). Die Gesetze der physischen Erscheinungen gehen aus der Natur der geistigen Regsamkeit der Dinge hervor. Die »Seelen« sind aber eine besondere Art von Monaden, nämlich jene, welche den Monadenkomplex eines organischen Leibes beherrschen.
Die realen Wesen sind Substanzen, nicht als starre Wesen, sondern weil sie sich so verhalten, wie sie sind, als permanente, sich selbst erhaltende[427] Einheiten und Kräfte. Die Monaden sind aber nicht absolut selbständige und voneinander getrennte Individuen, sondern haben ihre Gemeinschaft im göttlichen Absoluten, ihrem Urgrunde, aus und in dem sie sind und durch dessen Einheit ihre Wechselwirkung erst ermöglicht wird. Die Monaden sind »Akte, Modifikationen, Zustände oder Teile« des Absoluten, des allein absolut Seienden und Wirkenden. Eine Wechselwirkung ist nur möglich, wenn dasjenige, was dem einen Wesen zustößt, unmittelbar auch ein Zustand des anderen Wesens ist; eine Übertragung von Zuständen ist nicht möglich. »Nur wenn die einzelnen Dinge nicht selbständig oder verlassen im Leeren schwimmen, über das keine Beziehung hinüberreichen kann, nur wenn sie alle, indem. sie endliche Einzelheiten sind, doch zugleich nur Teile einer einzigen, sie alle umfassenden, innerlich in sich hegenden unendlichen Substanz sind, ist ihre Wechselwirkung aufeinander oder das, was wir so nennen, möglich.« Die Dinge wirken aufeinander durch Vermittlung der Zustände des Absoluten, die zugleich die der Dinge selbst sind, indem das unendliche in den Dingen seine stets gleiche, mit sich identische Natur notwendig in zusammenpassenden Formen ausprägt.
An sich wirkt nur ein innerer Zustand eines Dinges auf die innere Natur des anderen und dies erscheint als räumliche Bewegung, als Mechanismus. Diese »schrankenlose Gültigkeit des Mechanismus« ist ein Postulat des das Erfahrungsmaterial konsequent verarbeitenden Denkens. Nirgend in der Natur besteht eine Ausnahme, nirgend geschieht etwas ohne Vermittlung des Mechanismus, des gesetzlichen Zusammenhanges von Bewegungen. Aber der Mechanismus ist nicht das Letzte, Absolute, er ist nur Erscheinung einer geistigen Regsamkeit und Wechselwirkung und Mittel zur Realisierung von Ideen und Zwecken, deren Zusammenhang in Gott ewig hergestellt ist. So ist die Teleologie die Grundlage und metaphysische Voraussetzung der Kausalität und des Mechanismus, dieser eine notwendige Bedingung der Zweckverwirklichung, die nie von selbst, mit eigenen Kräften, sondern nur vermittelst der Kräfte der Dinge und der kausalen Zusammenhänge dieser und deren Zustände erfolgt. Aber dennoch ist der Zweck das Höchste, der tiefste Grund für jedes Geschehen; alles Sein und Geschehen ist ein Glied im universalen Zweckzusammenhang, hat darin seine Bestimmung, seine Rolle, trägt in seiner Weise dazu bei. Das Sollen, das Gute, das Zweckvolle hat so das logische Prius vor dem Sein, bestimmt das Sein, das Geschehen, die Entwicklung, ohne daß der Kausalnexus durchbrochen wird, ja nur vermittelst dieses Nexus selbst. Eine Idee, ein Plan, ein Zweck verwirklicht sich nur, wenn die Stoffe durch eine ursprüngliche Anordnung ihrer Verhältnisse von selbst genötigt sind, durch ihre Kräfte nach den allgemeinen Gesetzen des Naturlaufes das hervorzubringen, was der Zweck gebietet, der so nur eine »scheinbare Macht« ausübt.
So ist es verständlich, daß L. trotz seines »Spiritualismus« den Begriff der Lebenskraft ablehnt und das Leben, so sehr es auch Zwecken dient und zweckgemäß ist, kausal-mechanisch erklärt wissen will. Gewiß sind die Lebensvorgänge wie alle Naturprozesse an sich psychische (oder doch »innere«)[428] Zustände und die Bewegungen als solche nur Erscheinungen, aber der Mechanismus besteht im Organischen gerade so wie im Anorganischen und die Erklärung von Lebensprozessen aus der Formung des Organismus durch die Seele kann – mag sie auch wenigstens für die Anfänge des Organismus bestehen – wenig nützen. Woher die Zweckmäßigkeit der Organismen selbst herrührt, ist eine metaphysische Frage, aber auf Grund der zweckmäßigen Komplexion des Organismus sind alle (physischen) Prozesse in ihm mechanisch (physikalisch-chemisch), ohne Berufung auf eine »Lebenskraft« oder eine »Seele« zu erklären, wenn auch zu beachten ist, daß der Organismus eine eigenartige Form und Wechselwirkung der Teile aufweist, die ihn unseren Maschinen überlegen macht. Von der bestimmten Form, zu welcher die Teile des Organismus vereinigt sind, hängen die Lebenserscheinungen ab; diese Form ist so geartet, daß sie viel mehr als die äußeren Reize wirkt, nämlich hemmend, steigernd, mindernd, verteilend, regulierend. Das Leben ist eine Funktion von Elementen mit »zusammenstimmender Wirksamkeit«.
Die Seele ist nach L. eine immaterielle Substanz, d.h. ein einheitliches wirkungsfähiges, in ihren inneren Zuständen sich erhaltendes und entfaltendes, sie zur Einheit zusammenfassendes, unräumliches, übersinnliches Wesen aber nicht ein starres Atom; denn Substanz ist sie nur als »relativ feststehender Mittelpunkt ankommender und ausgehender Wirkungen«. Die Einheit des Bewußtseins, die nicht Resultante einer Vielheit von Zuständen sein kann fordert die Annahme einer (in ihrem Wirken unmittelbar gegebenen) Seele. Die physischen Vorgänge sind nur Bedingungen, nicht die zureichenden Ursachen der Empfindungen usw., sie können nicht in solche innere Zustände übergehen, welche vielmehr die Regsamkeit eines besonderen Prinzips voraussetzen. Schon daß wir uns überhaupt »erscheinen« können, bezeugt ein solches Prinzip. Ein Wesen, dem etwas erscheinen kann, muß »in einer vollkommenen Unteilbarkeit seiner Natur als Eines das Mannigfaltige des Scheines zusammenfassen können«. Die Annahme eines Innenseins der Atome macht den Begriff einer besonderen Seele nicht überflüssig, denn von selbst können die Empfindungen der Atome nicht zu einer gemeinsamen Gesamtempfindung zusammenfließen. Leib und Seele sind nicht qualitativ, aber numerisch verschieden; immer bleibt »die eine und individuelle herrschende Seele in völliger Sonderung den gleichartigen aber dienenden Monaden gegenüberstehen, deren verbundene Menge den lebendigen Körper bildet«. Seele und Leib stehen – vermittelst des Gehirns – in Wechselwirkung. Die Ungleichartigkeit. beider ist kein Hindernis dafür, da jedes Wirken nur Auslösung von Zuständen eines Dinges ist, die aus dessen eigenen Natur in spezifischer Weise sich entfalten. Überdies wirkt die Seele nicht auf den Körper, sofern er Materie ist, sondern sofern er selbst aus (seelenartigen) Monaden besteht, auf die inneren Zustände dieser; und der Körper wirkt auf die Seele nicht als Stoff, sondern durch sein Innensein, so daß bei Lotze die »psychophysische Wechselwirkung« im Grunde nur eine psycho-psychische Wechselwirkung ist, die dann als physio- physische erscheint (Annäherung an die idealistische Parallelismustheorie; vgl. Eisler, Leib und Seele, 1906). Die Seele findet in[429] ihrem Leibe einen Mechanismus vor, dessen Ablauf streng naturgesetzlich abläuft, dessen sie sich zu ihren Zwecken bedienen kann, ohne aus sich allein heraus den zweckmäßigen Zusammenhang der Bewegungen zu verursachen. Der »Seelensitz« ist nichts als der Punkt oder Ort, bis zu welchem alle Einwirkungen sich fortpflanzen und von welchem sie ausgehen. Die höheren geistigen Tätigkeiten des beziehenden Denkens und der sittlichen Beurteilung haben kein besonderes körperliches Organ. Die Substantialität der Seele involviert noch nicht deren Unsterblichkeit. »Nichts. berechtigt uns zu der Annahme, was einmal sei, müsse notwendig immer sein.« Aber sicher ist dies: »Das wird ewig dauern, was um seines Wertes und seines Sinnes willen ein beständiges Glied der Weltordnung sein muß; das alles wird zugrunde gehen, dem dieser erhaltende Wert gebricht.« Entstanden ist die Seele als Entwicklung des Unendlichen selbst mit der Entwicklung des organischen Keimes, welche das Absolute dahin erregt, »aus sich selbst die Seele hinzu zu erzeugen, die dem werdenden Organismus gebührt«.
Die Psychologie L.s berücksichtigt überall die physiologischen Bedingungen des Seelischen. Sie forscht nach den Bedingungen und Kräften, welche die seelischen Vorgänge auslösen und nach dem Zusammenhange derselben. Die »Seelenvermögen« (Vorstellen, Fühlen, Wollen) sind nur Äußerungsweisen der einheitlichen Seele, Möglichkeiten in ihr, die erst durch Reize aktualisiert werden. Das Bewußtsein ist kein Raum, innerhalb dessen etwas geschieht, sondern ein alles Psychische durchdringendes unmittelbares Wissen, ohne welches vom Psychischen gar nicht die Rede sein könnte. Die Empfindung ist eine subjektive Reaktion der Seele auf äußere Reize. Das Gefühl mißt die augenblickliche Übereinstimmung zwischen Reiz und Nervenfunktion, die Übereinstimmung oder den Widerstreit, in welchen sich die Erregungen der Nerven mit den Bedingungen unseres Lebens befinden. Das Wollen enthält ein nicht ableitbares Element geistiger Regsamkeit; es ist vom Triebe (dem »Innewerden eines Getriebenwerdens«) verschieden. Für den Willen charakteristisch ist das Element der Billigung, der Zulassung oder Absicht, die »Entscheidung über einen gegebenen Tatbestand«. Der Wille kann nur jene inneren Zustände erzeugen, welche der Naturlauf zu Anfangspunkten der Wirkung nach außen bestimmt hat. Frei ist der Wille seinem Entschluß nach, in der Wahl zwischen den Motiven, denen er nicht nachgeben muß, in der Einleitung neuer Anfänge, die in dem früheren Geschehen keine Begründung finden, die aber, nachdem sie einmal in den Zusammenhang der Wirklichkeit eingetreten sind, jene Folgen nach sich ziehen, die ihnen in ihrer jetzigen Verknüpfung mit der übrigen Welt nach allgemeinen Gesetzen gehören. Jede Ursache hat ihre Wirkung, aber nicht jedes Geschehen ist eine bloße Wirkung, es gibt auch ein ursprüngliches Geschehen. »Der Anfänge, deren Ursprung nicht in ihm selbst enthalten ist, kann der Weltlauf in jedem Augenblicke unzählige haben, aber keinen, dessen notwendige Fortsetzung nicht in ihm anzutreffen wäre.« Das Ich ist (als Ichheit, Subjektivität) etwas Ursprüngliches, dessen unmittelbares Für sich-Sein von allem anderen, auch vom eigenen Leibe unterschieden wird;. wenn auch das Ich nur in Beziehung auf das Nicht-Ich denkbar ist, so ist es[430] doch für sich allein erlebbar, so abhängig der Inhalt des Ichs von äußeren und inneren Reizen ist. Das Selbstbewußtsein entwickelt sich als »Ausdeutung eines Selbstgefühls«, indem das Bild unseres Ichs immer klarer und reicher wird. Die Tätigkeit der Phantasie ist es, das Wirkliche aus seiner eigenen Schönheit wie aus einer wirkenden Kraft nachzuschaffen. Dieser Tätigkeit entsprechen die Versuche der Vernunft, aus der Welt der Werte die Welt der Formen zu deuten, wobei die Ideale verschiedener Zeiten verschieden. ausfallen.
Die praktische Philosophie gründet sich als Ethik auf sittliche Ideen und Ideale, welche zwar im Einzelnen relativ sind, einer Entwicklung unterliegen, überall aber unabhängig von der Erfahrung gelten und unbedingt verpflichten. Was auch irgendwo und irgendwann der Inhalt der sittlichen Ideale war, stets empfand man es als Pflicht, diesen Inhalt durch Taten zu verwirklichen und stets wurden die sittlichen Grundsätze als Aussprüche eines »wertempfindenden Gefühls« gebilligt. Die »wertempfindende Vernunft« weist das. Denkbare ab, solange es nicht durch die innere Würde seines Inhalts zugleich die Anerkennung seiner Gültigkeit in der Welt erringt. Von der raumzeitlichen Existenz ist das zeitlose Gelten der (theoretischen, logischen und praktischen) Werte scharf zu unterscheiden. Werte an sich, d.h. ohne Beziehung aufs Gefühl, gibt es nicht, aber doch objektive, von aller Willkür unabhängige Werte, welche, soweit sie sittlicher Art sind, vom Gewissen gebilligt werden. Gut sind die Formen des Willens und Handelns, die das Gewissen billigt und gebietet. Angeboren ist nur der Keim zum Guten, nicht der Inhalt des Gewissens. Gemäß der idealistischen Ethik Lotzes (die einen sozialen. Eudämonismus einschließt) besteht die »unvertilgbare Idee eines verbindlichen Sollens, die unsere Tätigkeit und unsere Gefühle begleitet«. Inhaltlich ist das Gute ein Zweckvolles, Förderliches, zum Glücke der Individuen und der Gesamtheit Beitragendes. Das Pflichtmäßige entspricht nicht bloß unserer Natur, wie sie ist, sondern auch unserer Bestimmung, am Weltzweck mitzuarbeiten, das höchste Gut verwirklichen zu helfen. Der Mensch, das höchste Geschöpf, ist ein Mikrokosmos, der in immer weitergehender Vervollkommnung und in Gemeinschaft mit seinesgleichen durch seine aktive Kulturtätigkeit und Sittlichkeit an der Schaffung einer Idealwelt, in welcher alles Wertvolle erhalten bleibt, arbeitet. Dies ist das Ziel der Geschichte, des Reiches der Persönlichkeit und der Freiheit, des Wirkens der Individualität (ohne Existenz eines »Gesamtgeistes«).
Das Gute ist der Grund des Seins. Das höchste Gut als Grund des Wirklichen wie des Reiches der Werte und der Ideen und des Reiches der ewigen Wahrheiten ist das Absolute, Gott. Gott ist der Weltgrund und die Weltsubstanz, aber er ist nicht bloß der gemeinsame Grundquell der Seelen und der Außenwelt, er ist bewußte Persönlichkeit, ist ein lebendiger Gott, Liebe, der alles Sein entquillt, das um des Guten, des Seinsollenden da ist (vgl. Plato, Fichte). Gott ist »lebendige, sich selbst besitzende und genießende Ichheit«, in gewissem Sinne aber überpersönlich. Die Geister und die Außendinge haben in diesem, den Weltmechanisinus und die Geschichte[431] als Mittel zur Realisierung des Weltplanes sich entfalten lassenden lebendigen Gott ihre Einheit. Gott existiert notwendig. »Wäre das Größte nicht, so wäre das Größte nicht, und es ist ja unmöglich, daß das Größte von allem Denkbaren nicht wäre.«
Die Anschauungen L.s über das Schöne sind im Sinne einer idealistischen Gehaltsästhetik gehalten, welche auch die Lust an formalen Verhältnissen und an bestimmten Eindrücken (Farben usw.) berücksichtigt und auch das Phänomen der ästhetischen »Einfühlung« beachtet. Schönheit besteht da, »wo eine Übereinstimmung, die nicht allgemein stattzufinden braucht, in einzelnen begünstigten Erscheinungen zwischen dem, was sie der Idee nach sein sollen, und dem stattfindet, wozu die Notwendigkeit des Mechanismus sie macht«. Das Ästhetische ist objektiv gegründet. Die Kraft der Phantasie besteht darin, »die Welt der Werte in die Welt der Formen zu kleide oder aus der Verhüllung der Form das in ihr enthaltene Glück herauszufühlen«.
Von Lotze sind viele Denker mehr oder weniger beeinflußt, besonders H. Sommer, W. Hollenberg, Teichmüller, Class, E. Pfleiderer, L, Busse, H. Langenbeck, F. Erhardt, Wentscher, M. Wartenberg, R. v. Wichert. R. Falckenberg, C. Stumpf u. a., zum Teil auch E. Tiele, J. Baumann, G. Glogau, H. Siebeck, James, F. C. S. Schiller, Ladd u. a.
SCHRIFTEN: Metaphysik. 1841. – Logik, 1843. – Der Begriff der Schönheit, 1845. – Allgemeine Physiologie, 1851. – Medizinische Psychologie, 1852, 2. A. 1896, – Artikel »Lebenskraft« in Wagners Handwörterbuch der Physiologie. – Streitschriften, 1857. – Mikrokosmus, Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, 1856-64; 5. A. 1896 ff. (Hauptwerk); Auswahl von O. Richter, 1909. – Geschichte der Ästhetik in Deutschland, 1868. – System der Philosophie: I. Logik, 1874; 2. A. 1881; II. Metaphysik, 1879. – Diktate ans Lotzes Vorlesungen, hrsg. von Rehnisch, 8 Bde.: Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, Psychologie, praktische Philosophie, Religionsphilosophie, Ästhetik, Geschichte der Philosophie seit Kant (1881 ff.). – Kleine Schriften, 1885-91. – Vgl. E. PFLEIDERER, L.s philos. Weltanschauung, 1882; 2. A. 1884. – O. CASPARI, H. L., 1883; 2. A. 1894. – E. von HARTMANN, L.s Philosophie, 1888. – R. FALCKENBERG, H. L., I, 1901 (Frommans Klassiker der Philosophie).
Buchempfehlung
Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
140 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro