[484] Münsterberg, Hugo, geb. 1863 in Danzig, Prof. an der Harvard-University in Cambridge (Vereinigte Staaten), 1911 Direktor des Amerikainstituts in Berlin.
M., der früher Anhänger der Assoziationspsychologie war und dem »psychophysischen Materialismus« insofern nahe stand, als er die Abhängigkeit der psychischen Vorgänge von den Gehirnprozessen betonte und die Existenz einer psychologischen Kausalität, selbständiger Kausalverbindungen im Psychischen bestritt, nennt jetzt seinen psychologischen Standpunkt »Aktionstheorie« und verbindet mit der – nur als abstrakte Betrachtungsweise gültigen – psychophysiologischen Auffassung einen an Fichte orientierten, voluntaristischen Idealismus. – Vom psychophysischen Standpunkt ist der Wille nach M. keine eigene Bewußtseinstätigkeit, sondern ein Empfindungskomplex, wie überhaupt alle psychischen Gebilde aus Empfindungen als ihren letzten Elementen aufzubauen sind. Der Wille ist nichts als die von assoziierten Kopfmuskel-Spannungsempfindungen häufig begleitete Wahrnehmung eines durch eigene Körperbewegung erreichten Effektes mit vorhergehender Vorstellung desselben. Psychophysisch ist die Willenshandlung, der äußerlich eine Bewegung parallel geht (als ihre Außenseite), determiniert. Der Parallelismus zwischen dem Physiologischen und Psychischen ist ein universaler,[484] es gibt kein seelisches Geschehen, das nicht sein physiologisches Gegenstück hat.
Die Aktionstheorie soll von der Assoziationstheorie die Konsequenz des psychophysischen Parallelismus, von der (abzulehnenden) Apperzeptionstheorie (Wundts) die Berücksichtigung der aktiven Seite des geistigen Lebens, der Aufmerksamkeits- und Hemmungserscheinungen herübernehmen. Sie betrachtet die Bewegungsantriebe selbst als Bestandteile des psychophysischen Prozesses. Die Aktionstheorie verlangt, »daß jeder Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sensorischen, sondern sensorisch-motorischen Vorgangs ist und somit von den vorhandenen Dispositionen zur Handlung ebensosehr abhängt wie von peripheren und assoziativen Zuführungen«. Sie besagt allgemein, »daß jede Empfindung und somit jedes Element des Bewußtseinsinhaltes dem Übergang von Erregung zu Entladung im Rindengebiet zugeordnet ist, und zwar derart, daß die Qualität der Empfindung von der räumlichen Lage der Entladungsbahn und die Lebhaftigkeit der Empfindung von der Stärke der Entladung abhängt«. Die Psychologie muß darnach streben, jedes psychische Gebilde als Verbindung von Empfindungen aufzufassen, weil die Empfindung derjenige einfachste Bestandteil der Vorstellung ist, der noch in eindeutigem Verhältnis zu Bestandteilen des Wahrnehmungsobjektes besteht. Die psychischen Zusammenhänge sind Abhängige von physiologischen Zusammenhängen.
Das Psychische überhaupt ist das, was nur einem Subjekt erfahrbar ist. Es ist, als Gegenstand der Psychologie, nichts absolut Wirkliches, nicht das konkrete, wirkende, zielstrebige Geistige, sondern ein abstraktes, künstliches, unwirksames (inkausales) Gebilde, dasjenige, was. von der Gesamtheit des Gegebenen übrig bleibt, nachdem alles Wirkliche herausgelöst ist, das nicht Objektivierbare am Gegebenen. Der Gegenstand der Psychologie ist ein Abstraktionsprodukt wie der der Naturwissenschaft, etwas vom »stellungnehmenden« Subjekt Losgelöstes, so daß die Psychologie nicht zu den »subjektivierenden« Geisteswissenschaften, sondern zu den »objektivierenden« Wissenschaften gehört. Die psychischen Objekte sind »lediglich für den Begriff und niemals für das wirkliche Erlebnis gegeben«. Die Einheit des geistigen Lebens ist nicht der Zusammenhang psychologischer Objekte, der aus der kausal-physiologischen Koexistenz und Sukzession der Nervenerregungen zu erklären ist. Das Geistige als Realität ist im konkret-lebendigen Wollen, Werten und Wirken, als Tätigkeit »stellungnehmender« Subjekte gegeben. Während das psychophysische Subjekt das objektivierte Ich in der Zeit ist, ist das aktuelle, wertende Subjekt zeitlos, es ist nicht in der Zeit, sondern ist zeitsetzend und unsterblich, ewig. Der Geist ist Wille, das Geistesleben ein System von Wollungen. Die Seele ist das System individueller Wollungen, das in der gesamten Reihe wirklicher Wollungen sich auslebt und doch in jedem neuen Akt sich mit dem gesamten System identisch setzt. Die aktuelle Seele ist beharrend, einheitlich, selbstbewußt, unsterblich, frei.
Mit den Akten und Beziehungen der stellungnehmenden Subjekte haben es die Geisteswissenschaften zu tun. Hier gibt es keine kausale Erklärung,[485] sondern nur Deutung und Wertbeurteilung. Es ist die Aufgabe der Geschichte, die Wesen so aufzufassen, daß »ein geschlossener Zusammenhang aller Wesen durch Willensidentitäten« möglich wird. Die Welt der Geschichte ist nur teleologisch zu erfassen, als eine Welt der wollenden Wesen unter dem Gesichtspunkte der Identität.
Der Wille zur objektiven Erkenntnis fordert für die Naturwissenschaft die Objektivierung durch Loslösung der Erlebnisinhalte vom Subjekt, die Gestaltung dieser zu quantitativen Relationen, zu einer streng kausal-gesetzlich determinierten Welt, in der auch der Wille nicht mehr eine freie Potenz, sondern ein determinierter Vorgang ist. »Es muß uns logisch wertvoll sein, die Welt als wertfrei zu denken, und unser freier Wille entscheidet, daß wir die ursprünglich als Willensmotiv erlebte Wirklichkeit in ein Universum verwandeln, in dem wir selbst nur ein winziger unfreier Teil und unser Wille ein notwendig ablaufender Vorgang ist.« Während wir in unmittelbarer Wirklichkeit stellungnehmende Subjekte, Willenseinheiten, und die Dinge Inhalte, Zielpunkte, Zwecke und Mittel des Willens sind, werden sie für den Standpunkt naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu wertfreien, abstrakten, kausal zusammenhängenden Objekten. »Nicht vorgefundene Tatsachen und daraus abgeleitete Kausalgesetze sind die Wirklichkeit, sondern Zielsetzungen und Postulate stehen am Anfang.« »Die wirklichen Objekte sind gültig und wertvoll, die abgelösten Objekte, die physischen und die psychischen, existieren.«
Die Voraussetzung einer objektiven Welt ist der wertende Wille, der »Wille zur Welt«, welcher absolut unabhängig von aller Subjektivität gilt, den Grundwert bildet, aus dem sich alle anderen Werte ergeben. Die Bewertung geht dem Sein voran. Der Wert, der die Existenz setzt, ist ein »Daseinswert«. Soll das Erlebnis mehr als ein Traum sein, so muß gefordert werden, »daß jedes Einzelne über das gegenwärtige Erleben hinaus sich erhält und somit in einer anderen Erfahrung wiederkehrt«. – Alles Bewerten setzt einen Willen voraus, der Stellung nimmt und Befriedigung findet. Aber diese Befriedigung ist nicht mit dem Lustgefühl zu verwechseln, und es gibt ferner unbedingte, absolute Werte, die zwar nicht außerhalb jedes Bewußtseins liegen, aber von allem Wollen der Menschen unabhängig sind, weil sie für jedes Geisteswesen gültig sind, das mit uns unsere Welt teilt. Absolut wertvoll ist schließlich das, was dem Willen des »Über-Ich« gemäß ist. – Aus dem Grundwert nun, der sich aus der Existenz einer Welt ergibt, ergeben sich die übrigen absoluten Werte, die ein geschlossenes System bilden. Es gibt: Werte der Erhaltung, der Übereinstimmung, der Betätigung, der Vollendung. Weiter sind zu unterscheiden: Daseins-, Einheits-, Entwicklungs-, Gotteswerte; Werte des Zusammenhangs, der Schönheit, der Leistung, der Weltanschauung. Alle Arten der Werte hängen logisch-teleologisch miteinander zusammen und treten in verschiedener Form der Bewußtheit auf (Lebens-, Kulturwerte).
Der Wille zur Welt ist »Wille zur identischen Verwirklichung unserer Erlebnisse«, als die Tathandlung, die eine von den einzelnen Subjekten unabhängige, allgemeingültige, beharrende Welt setzt. Sich selbst behauptende Einheit ist der Kern des Seins. Das Absolute ist ein Streben, das sich selbst[486] Inhalt ist und das seinen Inhalt festzuhalten strebt. Sobald das »Grund-Ich« oder »Über-Ich« (vgl. Fichte) in sich ein begrenztes, persönliches Ich setzt, muß sein ungeschiedener Inhalt sich in Ich, Mit-Ich, Nicht-Ich sondern. Das Über-Ich ist »Wille zum festhaltenden Ineinssetzen«, es ist kein Ding, ändern Tat, Wirksamkeit, Leben (Aktualismus). Die ganze Fülle der Erfahrungswerte geht aus der Besonderung des Urstrebens zu einem begrenzten Ich hervor. »Durch seine eigene Tat verwirklicht so das Urstreben sich stetig in den reinen Werten des logischen, ästhetischen, ethischen und religiösen Lebens. Das Über-Ich trägt also die Erfahrungswelt und betätigt sich in ihr.« Alles ist Willenstat, ein Sichselbstentfalten des Wollens. »Das an sich zeitlose Streben sondert sich in eine unendliche Reihe von Strebungseinheiten.« Die raumzeitliche Natur hat als solche nur für die Individuen Wirklichkeit. Die Natur ist als Gegenstand der Daseins- und Zusammenhangserkenntnis ein »erstarrtes Wollen«, ein Wollen, das nicht über sich hinaus will. Das Ich erweitert sich durch eigene Tat zum Über-Ich. In der verschmelzenden Allheit der Werte finden wir in uns selbst das göttliche Über-Ich, in welchem aller Gegensatz aufgehoben wird und alles sich zur Einheit verknüpft. – Sittliche Lebensaufgabe ist es, schlechthin gültig reine Werte durch unsere Tat zu verwirklichen. Selbsttreue ist das einzige sittliche Gebot.
SCHRIFTEN: Die Lehre von der natürlichen Anpassung in ihrer Entwicklung, 1885. – Die Willenshandlung, 1888. – Der Ursprung der Sittlichkeit, 1889. – Beiträge zur experimentellen Psychologie, 1889-92. – Aufgaben und Methoden der Psychologie, 1891. – Grundzüge der Psychologie, I: Die Prinzipien der Psychologie, 1900. – Philosophie der Werte, 1908. – Psychology and Life, 1899. – The Eternal Values, 1909. – Psychol. and Crime, 1909. – Science and Idealism, 1906. – Eternal Life, 1905. – Harvard Psychol. Studies, 1903-06. – Essays in Psychology, 1908, u. a.
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