Mach, Ernst

[437] Mach, Ernst, geb. 1838 in Turas, Prof. der Physik in Prag, dann (seit 1895) Prof. der Philosophie in Wien, seit 1902 pensioniert.

M. will nicht systematischer Philosoph, sondern Erkenntnispsycholog, Methodolog und Kritiker sein. Es ist ihm um einen einheitlichen Forschungsstandpunkt zu tun. In seinen Anschauungen zeigt er Verwandtschaft mit Berkeley, Hume, Mill, Comte, Avenarius, Nietzsche, teilweise auch mit Kant, dessen Apriorismus und »Ding an sich« er aber ablehnt., um einem (zum Teil sensualistisch gefärbten) Empirismus und (idealistischen) Positivismus zu huldigen, der alles »Metaphysische«, ja alle »hypothetischen Zutaten« des Denkens zur reinen Erfahrung ausschalten will. »Die Ansicht, welche sich allmählich Bahn bricht, daß die Wissenschaft sich auf die übersichtliche Darstellung des Tatsächlichen zu beschränken habe, führt folgerichtig zur Ausscheidung aller müßigen, durch die Erfahrung nicht kontrollierbaren Annahmen, vor allem der metaphysischen (im Kantschen Sinne).« Eine »hypothesenfreie« Wissenschaft ist das Ideal.[437]

Die Wissenschaft ist biologisch-praktischen Bedürfnissen entsprungen und dient noch jetzt der Erhaltung des Lebens und der Beherrschung der Natur, und aus dieser Tendenz ist alles Erkennen zu verstehen und zu regeln (Erkenntnistheoretischer Biologismus und Psychologismus). Nicht unbekannte Wesenheiten, sondern das Gegebene, Unmittelbare, Erlebbare will die Wissenschaft erfassen, es in seinen relativ konstanten Zusammenhängen und Abfolgen möglichst exakt beschreiben. Die Wissenschaft entsteht durch einen »Anpassungsprozeß der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet«, sie hat teilweise vorliegende Tatsachen in Gedanken zu ergänzen. »Die Abbildung der Tatsachen in Gedanken, oder die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ermöglicht dem Denken, nur teilweise beobachtete Tatsachen gedanklich zu ergänzen, soweit die Ergänzung durch den beobachteten Teil bestimmt ist.« Die methodische Anpassung modifiziert beständig die Denkgewohnheiten. Die Anpassung der Gedanken aneinander ergibt die Theorie. M. faßt also die Gedanken und Erkenntnisfunktionen als Lebensfunktionen auf. Beherrscht werden dieselben durch das biologisch-psychologische Prinzip der Denkökonomie (vgl. Avenarius), der sparsameren, ökonomischen Verwertung der geistigen Kräfte. »Die Methoden, durch welche das Wissen beschafft wird. sind ökonomischer Natur.« Das Ziel der Naturwissenschaft bei der Zusammenfassung und Darstellung ihrer Ergebnisse ist der sparsamste, einfachste begriffliche Ausdruck. Es ist die Aufgabe der Physik, die gleichartigen Elemente der Naturvorgänge aufzusuchen, wodurch die »sparsamste, kürzeste Beschreibung und Mitteilung« ermöglicht wird. Die Wissenschaft kann so »als eine Minimumaufgabe angesehen werden, welche darin besteht, möglichst vollständig die Tatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand darzustellen«. Durch die Denkökonomie als Ideal erfolgt ein Ordnen, Harmonisieren, Organisieren der Gedanken, ein Herausheben des Wesentlichen im Begriff und Urteil. So kommt es auf die aktive Geistesarbeit an und hier unterscheidet sich M.s Lehre scharf von allem passivistischen Sensualismus.

Im Übrigen betont M. aber, alle Erkenntnis bestehe in der bloßen Beschreibung der Tatsachen, d.h. der Erlebnisse und deren funktionalen Abhängigkeiten und Zusammenhänge selbst, ohne Zugrundelegung nicht erlebbarer Faktoren, die »an sich« existieren (vgl. Comte, Kirchhoff u. a.). Die hypothetischen »Denkzutaten« sind möglichst zu »eliminieren«, höchstens können sie als praktische Abbreviaturen für empirische Komplexe und Zusammenhänge selbst dienen, ohne daß ihnen (Kausalität, Substanz, Kraft u. dgl.) etwas außer diesen Zusammenhängen und Relationen entspricht. Der Begriff der Ursache hat. nach M. »einen starken Zug von Fetischismus«, er stammt von »animistischen Vorstellungen« ist anthropomorph. Er muß wissenschaftlich durch den Funktionsbegriff ersetzt werden, d.h. durch den Begriff der funktionalen »Abhängigkeit« der Erscheinungen und ihrer Merkmale voneinander. Die Wissenschaft hat diese Abhängigkeiten, die regelmäßigen Zusammenhänge der Erlebnisse zu beschreiben und denkökonomisch zu formulieren, in Gleichungen, welche der Physik das Rekurrieren auf hypothetisch-mechanische (atomistische) Vorgänge unnötig machen (Begriffliche, unanschauliche »phänomenologische«[438] Physik, ohne mechanische Modelle). Isolierte Ursachen und Wirkungen gibt es in der Natur nicht. Das Gleiche wiederholt sich nur in der Abstraktion, die Natur selbst ist nur einmal da. Eine absolute Beständigkeit gibt es nicht und so ist der rohe Substanzbegriff zu eliminieren. Die »Materie« ist nur ein »Gedankensymbol« für gesetzmäßige Zusammenhänge von Elementen, in denen nur das »Verbindungsgesetz« das Beständige ist. Einen »Träger« der Erscheinungen gibt es nicht. »Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Färben, Töne usw., außer den sogenannten Merkmalen.«

Das »Ding an sich« ist nach M. eine Fiktion, eine Illusion. Dinge überhaupt sind nichts als Namen für denkökonomische Zusammenfassungen zusammengehöriger Erlebnisse, für relativ konstante Gruppen von »Elementen« des Erlebens (Farben, Töne, Drücke usw.). Die vermeintlichen festen Einheiten »Körper« und »Ich« sind nur »Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke«, »provisorische Fiktionen«. Körper sind »Bündel gesetzmäßig zusammenhängender Reaktionen«, »Elementenkomplexe«, Summen von Tast- und Lichtempfindungen, die an dieselben Raum- und Zeitempfindungen geknüpft sind. Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Empfindungskomplexe bilden die Körper. Die »Elemente« sind die Bestandteile, aus denen sowohl die Objekte als auch die Subjekte bestehen, die aber nirgends isoliert existieren, sondern (vielleicht weiter zerlegbar) einem kontinuierlichen Strom des Werdens angehören (Monismus des Geschehens). »Empfindungen« sind die Elemente, sofern sie von einem Organismus abhängig sind; an sich sind sie weder bewußt noch unbewußt, weder psychisch noch physisch. Ein absoluter Gegensatz zwischen Vorstellung und Objekt besteht nicht; die Wahrnehmungsinhalte selbst sind die Dinge. Die natürliche, naiv-realistische Auffassung hat Anspruch auf höchste Wertschätzung (vgl. Bergson).

Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht nur in dessen Kontinuität und langsamen Änderung. Zwischen Ich und Welt herrscht kein absoluter Gegensatz, die Grenze zwischen beiden ist unbestimmt und verschiebbar. Das Ich ist nur eine denkökonomische, praktische Einheit, eine »stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit anderen Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt«. Es ist zuhöchst die »Gesamtheit der miteinander zusammenhängenden Vorstellungen« und umfaßt schließlich die Welt, da es ein isoliertes Ich nicht gibt. »Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element ,Grün' in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt.« »Aus den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert.« Da das substantielle Ich rettungslos wegfällt, gibt es keine andere Unsterblichkeit als die der »Elemente« der Welt und die des Weiterlebens in den Nachkommen.

Eine Wesensverschiedenheit zwischen dem Psychischen und Physischen besteht nicht, beide bauen sich aus gemeinsamen Elementen auf, sind nur verschiedene Arten der Verbindung dieser. »Psychisch« sind Elemente (Farben,[439] Töne, Lust usw.) in ihrer Abhängigkeit von organischen Elementenkomplexen (Sinneswerkzeuge, Gehirn). In der sinnlichen Sphäre des Bewußtseins ist jedes Objekt zugleich physisch und psychisch. Im engeren Sinne ist psychisch das »nur einem unmittelbar Gegebene, allen anderen aber nur durch Analogie Erschließbare«. Die Psychologie beruht auf Physiologie und Biologie, sie hat es mit der Abhängigkeit der Erlebnisse vom erlebenden Individuum zu tun (vgl. Avenarius, Külpe u. a.). Auf Empfindungen sind nicht bloß die Vorstellungen, sondern auch die Gefühle zurückzuführen. Der Wille ist nichts anderes als »die Gesamtheit der teilweise bewußten und mit Voraussicht des Erfolges verbundenen Bedingungen einer Bewegung« oder eine besondere Form des Eingreifens der temporär erworbenen Assoziationen in den voraus gebildeten festen Mechanismus des Leibes. Einen Ausblick in eine voluntaristische Metaphysik könnte die Bemerkung M.s bedeuten, »daß unser Hunger nicht sehr wesentlich verschieden ist von dem Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage ist, als es gegenwärtig den Anschein hat«.

Betreffs der Raumvorstellung vertritt M. den Nativismus. Der Wille, Blickbewegungen auszuführen, ist die Raumempfindung selbst. Der (einem biologischen Bedürfnis entsprungenen, der richtigen Leitung der erhaltungsgemäßen Bedingungen dienenden) Raumwahrnehmung entspricht ein bestimmter Nervenprozeß. Jeder Empfindung kommt durch das gereizte Nervenelement ein Ort zu; der physiologische Raum ist angeboren. Er ist ein »System von abgestuften Organempfindungen« als ein »bleibendes Register« zur Einordnung der Sinnesempfindungen. Als fertiges Gebilde aber ist der Raum empirisch erworben. Die geometrischen Begriffe entwickeln sich durch Idealisierung physikalischer Raumerfahrungen. Auch die Zeitvorstellung enthält etwas Ursprüngliches, da es eine spezifische »Zeitempfindung« gibt. Wahrscheinlich hängt sie mit der notwendig an das Bewußtsein geknüpften organischen Konsumtion zusammen, so daß wir die »Arbeit der Aufmerksamkeit« als Zeit empfinden. Die Bewegungsempfindungen haben wichtige Funktionen; alle Bewegung ist relativ. Die Rechnungsoperationen haben den Zweck, das direkte Zählen zu ersparen. Jede Zahl besteht in der Ausführung einer Operation; Zahlen sind »Begriffe, durch welche wir Gruppen von gleichen Gliedern in bezug auf ihren Gehalt bestimmen und von einander unterscheiden«. Die mathematischen Sätze drücken immer »Äquivalenzen von Ordnungstätigkeiten« aus. Die Geometrie beschäftigt sich mit Idealen, welche durch Schematisierung von Erfahrungsobjekten entstanden sind. Die metageometrischen Begriffe sind. Gedankenexperimente.

SCHRIFTEN: Einleitung in die Helmholtzsche Musiktheorie, 1866. – D. Gesch. u. die Wurzel des Satzes von der Erhalt. der Arbeit, 1872; 2. A. 1909. – Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, 1875. – Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken, 1883. – Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 6. A. 1908. – Die Prinzipien der Wärmelehre, 1896; 2. A. 1900. – Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik, 1894. – Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 1896; 4. A. 1910. – Beiträge zur Analyse der Empfindungen, 1886; 5. A[440] 1906. – Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotive der Forschung, Annalen d. Naturphilos. I, 1902. – Erkenntnis und Irrtum, 2. A. 1906. – Sinnl. Elemente u. naturwiss. Begriffe, Arch. f. Physiol., 1911, u. a. – Vgl. E. LUCKA. Kantstudien VIII, 1903. – TH. BEER, Die Weltanschauung eines modernen Naturforschers, 1903. – R. HÖNIGSWALD, Zur Kritik der Machschen Philosophie, 1903. – B. HELL. M.s. Philos., 1907. – F. REINHOLD, M.s. Erkenntnistheorie, 1908.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 437-441.
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