Mill, John Stuart

[472] Mill, John Stuart, als Sohn von James M. geb. 20. Mai 1806 in London, erhielt schon als kleines Kind von seinem Vater eine humanistische Bildung. Einen großen Eindruck machte auf den Jüngling die Lektüre von Benthams Schrift über die Gesetzgebung; er begründete eine »utilitarische Gesellschaft«, in welcher alle vierzehn Tage Vorträge über Utilitarismus gehalten wurden. 1823 wurde M. Sekretär im »India House«, wo er später eine hohe Stellung einnahm. Daneben war er schriftstellerisch tätig. Nachdem er eine Zeitlang in Avignon gelebt hatte, war er (1866-68) Parlamentsmitglied, worauf er wieder in Avignon lebte, wo er am 3. Mai 1873 starb.

M. ist der Hauptvertreter des modernen Empirismus, Psychologismus und idealistischen (vom Comteschen verschiedenen) Positivismus. Seine Lehren sind eine Weiterbildung der Ansichten Bacons, Berkeleys, Humes, James Mills u. a.; auch von der Scholastik ist M., im formalen Teile seiner[472] Logik, beeinflußt. Die Assoziationspsychologie wird von M. akzeptiert; wie sein Vater, James Mill, betrachtet er die psychischen Vorgänge als Synthesen einfacher Elemente (durch eine Art »psychischer Chemie«) und die Assoziation. gilt ihm als ein Grundgesetz analog der Gravitation.

Die Logik ist nach M. eine Technik des Denkens und Forschens, vorzugsweise ist sie Methodenlehre. Sie ist des Näheren »die Wissenschaft von den Verstandesoperationen, welche zur Schätzung der Evidenz dienen«. Sie hat es nicht mit den Wahrnehmungen, sondern mit Folgerungen, mit Urteilen und Schlüssen zu tun und will diese auf eine sichere Grundlage stellen. Erfahrung und Induktion sind nun nach Mill die Grundlage aller unserer Folgerungen. Alles Erkennen geht von einzelnen Tatsachen aus und besteht zunächst in einem Folgern von Einzelnem auf anderes Einzelnes, in einer Induktion »per enumerationem simplicem«. Diese Induktion folgert auf Grundlage der Erfahrung und Assoziation, was für eine Reihe von Fällen gilt, werde auch für neue, ähnliche Fälle gelten. Es besteht eine »natürliche Neigung des Geistes, seine Erfahrungen zu generalisieren«, und die Induktion beruht schließlich auf der Voraussetzung der Gleichförmigkeit der Natur (»uniformity of nature«). Diese Voraussetzung wird, als Annahme der Unabänderlichkeit der Sukzession zweier Vorgänge, zum Kausalgesetz, welches selbst die allgemeinste, sicherste Induktion ist und erst den übrigen Induktionen die möglichste Sicherheit (Wahrscheinlichkeit) gewährt. Jede Induktion läßt sich in der Form eines Syllogismus darstellen, dessen Obersatz die Voraussetzung der Gleichförmigkeit der Natur ist. Jede vollbegründete induktive Generalisation ist ein Naturgesetz, d.h. ein regelmäßiger Zusammenhang von Tatsachen, der empirisch begründet ist und größte Wahrscheinlichkeit haben kann, ohne aber absolut denknotwendig zu sein, so daß das Ausbleiben eines solchen Zusammenhanges wenn auch höchst unwahrscheinlich, immerhin nicht unmöglich ist. Die »Ursachen«, die wir erkennen, sind nur die Summen der positiven und. negativen Bedingungen von Vorgängen.

Das deduktive Verfahren besteht aus drei Operationen: der Induktion,. dem Syllogismus, welcher aus Gesetzen Einzelfälle ableitet, und der Verifikation. Da im Syllogismus der Obersatz das zu Erweisende (die Konklusion) vorwegnimmt, ist er, im üblichen Sinne aufgefaßt, eine »petitio principii«. In. Wahrheit ist er aber ein Schluß vom Besonderen aufs Besondere. Der allgemeine Obersatz ist ein Register der vollzogenen Folgerungen vom Besonderen. aufs Besondere, eine abgekürzte Formel zu weiteren Folgerungen. Betreffs des Urteils vertritt M. die Identitätstheorie des Inhalts. Für jedes Urteil ist der »Glaube« (belief) an einen Zusammenhang von Vorstellungen wesentlich; der Satz drückt den Glauben aus, daß das Prädikat ein Name desselben Dinges ist. wovon das Subjekt ein Name ist.

Die von M. formulierten exakten Forschungsmethoden sind: 1. Methode der Übereinstimmung (»Method of agreement«): »Wenn alle beobachteten Fälle einer zu erforschenden Naturerscheinung nur einen einzigen Umstand gemein haben, so ist dieser Umstand, in welchem allein alle Fälle übereinstimmen, der betreffenden Erscheinung wesentlich, entweder Ursache[473] oder Wirkung derselben.« – 2. Methode der Unterscheidung (Differenzmethode, »Method of difference«): »Wenn ein Fall, in welchem die zu erforschende Naturerscheinung eintritt, und ein Fall, in welchem sie nicht eintritt, alle Umstände gemein haben mit Ausnahme eines einzigen, der nur im ersten Falle vorkommt, so ist dieser Umstand, wodurch allein die beiden Fälle sich unterscheiden, der betreffenden Naturerscheinung wesentlich.« – 3. Methode der Reste (Rückstände, »Method of residues«): »Wenn man von einem Teile einer Erscheinung durch schon gemachte Induktion weiß, daß er Wirkung eines bestimmten Umstandes ist, so schließt man, daß der übrige Teil (Rückstand oder Rest) der Erscheinung durch die restierenden Umstände bedingt ist.« – 4. Methode der sich begleitenden Veränderungen (»Method of concomitant variations«): »Wenn eine Erscheinung sich verändert, so oft eine andere in einer eigentümlichen Weise sich verändert, so ist sie entweder Ursache oder Wirkung der anderen oder ist durch irgend einen Kausalnexus damit verknüpft.«

Seinem strengen Empirismus getreu negiert M. die Existenz irgendwelcher apriorischer Erkenntnisse. Alle Erkenntnis stammt aus der äußeren oder inneren Erfahrung, entsteht durch Wahrnehmung, Induktion, Abstraktion und Assoziation. Die Axiome der Mathematik: sind gleichfalls empirische, induktiv gewonnene Wahrheiten, Generalisationen aus der Erfahrung; ihre Gewißheit beruht auf ihrer Einfachheit, auf der Möglichkeit, sie jederzeit in der Erfahrung verifizieren zu können, und auf der Festigkeit der Assoziation. Die mathematischen Gebilde werden durch Abstraktion gewonnen, in der Wirklichkeit selbst gibt es keine genauen Gegenstücke zu ihnen. Die Zahl entsteht durch Abstraktion von Gruppen gleichartiger Objekte. In der »Examination« leitet M. den Glauben an die Existenz dauernder Objekte aus Erwartung und Assoziation ab. Die Vorstellung eines außer uns Existierenden schließt außer der aktuellen Wahrnehmung eine Summe von »Wahrnehmungsmöglichkeiten« (»possibilities of sensation«) ein, die sich durch größere Konstanz auszeichnen, allgemein zugänglich sind, beharren, auch wenn wir die Dinge nicht aktuell wahrnehmen. Vermittelst des Kausalbegriffes beziehen wir die einzelnen Empfindungen auf solche permanente Gruppen von Wahrnehmungsmöglichkeiten als Ursachen der Empfindungen, die sich aber nur in Empfindungskomplexen darstellen. Indem wir diese Wahrnehmungsgrundlage der Dinge vergessen, halten wir sie für außerhalb alles Bewußtseins existierende Substanzen, was sie aber nicht sind (Phänomenalismus). Ebenso ist das Ich nicht eine Substanz außerhalb alles Bewußtseins, sondern nur die Summe aufeinanderfolgender Erlebnisse, eine (relativ) konstante Möglichkeit von Gefühlen (»permanent possibility of feeling«). Freilich ist es schwer zu begreifen, wie eine Reihe von Gefühlen sich ihrer selbst bewußt werden könne.

Die Wissenschaften gliedern sich nach M. in Natur- und Geisteswissenschaften. In den letzteren sind dieselben Methoden anwendbar wie in den Naturwissenschaften, es gibt hier ebenfalls empirische Gesetze. Die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit von Willenshandlungen bedeutet aber nicht Zwang u. dgl., sondern nur die Erwartung konstanter Sukzession, wobei der[474] Charakter des Wollenden selbst ein Faktor des Geschehens ist. Die drei fundamentalen Geisteswissenschaften, welche M. unterscheidet, sind: Psychologie, Ethologie und Soziologie. Unter »Ethologie« versteht M. die Lehre von der Charakterbildung.

Die Ethik M.s ist ein (altruistischer) Utilitarismus. Höchstes Strebensziel ist die Glückseligkeit, alles Begehren geht auf das Lustvolle, alles Unlustvolle wird verabscheut. Die Triebfeder alles Handelns ist also eudämonistischer Art. Aber es kommt nicht bloß auf die Menge, sondern auch auf die Qualität des Glückes, der Lust an, es gibt niedere und höhere Werte; letztere knüpfen sich an geistige Güter. Außerdem ist zu beachten, daß durch Assoziation Güter, die ursprünglich nur Mittel waren, zu Zwecken, zu Eigenwerten werden; dies gilt namentlich von der Sittlichkeit, der Tugend, die übrigens auch auf ursprünglichen sozialen Gefühlen beruht. So sucht M. den Egoismus abzuwehren. In seiner Nationalökonomie betont M. den sozialen Gesichtspunkt.

Das Wesen der Religion ist nach M. die »starke und konzentrierte Richtung unserer inneren Regungen und Wünsche auf einen idealen Gegenstand von anerkannt höchster Vortrefflichkeit, und welcher mit Recht über allen Gegenständen unserer selbstsüchtigen Wünsche steht«. Auch eine von sozialen und sittlichen Gefühlen beseelte Menschheitsreligion kann ihren Zweck erfüllen. Der Theismus ist eine mögliche Weltanschauung, aber Gott kann nicht als allmächtig gedacht werden, die Unvollkommenheit der Welt steht dem entgegen.

SCHRIFTEN: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, 1843, 9. ed. 1875; deutsch von J. Schiel, 1849, 4. A. 1874; von Gomperz 1882 (Hauptwerk). – Essays on some Unsettled Questions of Political Economy, 1844, 2. ed. 1874. – Principles of Political Economy, 1848. – On Liberty, 1859 (deutsch in der Universalbibl.). – Dissertations and Discussions, 4 Bde., 1859, 1867. 1874. – Utilitarianism, 1863; deutsch 1869. – Examination of Sir William Hamiltons Philosophy, 1865; deutsch 1908 (ein Hauptwerk). – Auguste Comte and Positivism, 1865; deutsch 1874. – The Subjection of Women, 1869 (deutsch: Die Hörigkeit der Frau). – Autobiography, 1873; deutsch 1874. – Three Essays on Religion; Nature, the Utility of Religion and Theism, 1874 (auch deutsch). – Werke, deutsch von Th. u. E. Gomperz, 1869 ff. – Vgl. COURTNEY, Metaphysics of J. St. Mill, 1879; Life of J. St. Mill, 1889. CH. DOUGLAS, J. St. Mill, 1895; deutsch 1897. – LÉVY-BRUHL, Lettres inédites de J. St. Mill à A. Comte, 1899. – S. SAENGER, J. St Mill, 1901 (Frommanns Klassiker der Philosophie). – THIEME, M.s Sozialethik, 1910.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 472-475.
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