[530] Paulsen, Friedrich, geb. 1846 in Langenhorn, Prof. in Berlin, gest. 1908.
P. ist von Kant, Schopenhauer, Wundt u. a. und besonders von Fechner beeinflußt, in dessen Geiste er einen idealistischen Monismus (objektiven Idealismus) lehrt, welcher die materielle Seite der Wirklichkeit als Erscheinung des psychischen Innenseins derselben betrachtet und den geschlossenen Kausalzusammenhang des mechanischen Geschehens als Ausdruck und Mittel eines an sich teleologischen Zusammenhanges deutet, wodurch auch den Ansprüchen des Gemütes Rechnung getragen wird, wie P. überhaupt Wissen und Glauben zu versöhnen sucht. – Die Philosophie definiert P. als »Inbegriff aller wissenschaftlichen Erkenntnis«, die Einheit dieser ihrer Form und ihrem Inhalte nach. In erkenntnistheoretischer Beziehung modifiziert P. den Kantschen Kritizismus nach der psychologisch-genetischen Richtung hin, ohne die Apriorität der Anschauungsformen zu bestreiten; die Kategorien sind ebenfalls apriorisch, aber zugleich Entwicklungsprodukte. Daß Kant ernsthafter Metaphysiker war, betont P. gegenüber anderen Auffassungen. Jedenfalls ist nach P. eine Metaphysik möglich und notwendig; sie hat die äußere und besonders die innere Erfahrung zur Grundlage und ist »idealistisch-monistisch«. Sie ist zugleich[530] panpsychistisch, denn für den objektiven Idealismus hat das Geistige die Bedeutung eines »universellen und kosmischen Wirklichkeitsprinzips« und so sind alle Dinge beseelt.
Gemäß dem Prinzip des universalen Parallelismus hat das Wirkliche zwei Seiten: von außen, mit den Sinnen gesehen, ist es Körper; von innen, im Selbstbewußtsein ist es seelisch. »Das Körperliche ist Erscheinung und Symbol des seelisch-geistigen Lebens, dieses ist das eigentlich oder an sich Wirkliche.« Jedes körperliche System ist Träger oder Leib eines Innenlebens, das Weltsystem selbst ist Leib oder Erscheinung Gottes. Die Wirklichkeit ist uns gegeben »in Gestalt von psychophysischen Systemen, die sich in koordinierten physischen und psychischen, sinnlich wahrnehmbaren und durch das interpretierende Denken hinzugedachten Vorgängen betätigen oder verwirklichen, und die zuletzt im Universum zu einem einheitlichen psychophysischen System zusammengeschlossen sind«. Die materielle Welt ist »Erscheinung eines geistigen All-Lebens, das als Verwirklichung eines einheitlichen Sinnes, als Betätigung eines Ideen verwirklichenden Willens zu deuten ist«. Der Kern des Seelischen ist der (konkrete, bestimmt gerichtete) Wille (Voluntarismus). Alle Kraft ist Tendenz, unbewußter Wille. Das Psychische im Anorganischen ist unbewußt und mechanisiert.
Eine substantielle Seele als beharrendes Wesen, als starres »Seelenatom« gibt es nicht. In aktualistischer Weise ist die Seele vielmehr als »die im Bewußtsein zur Einheit zusammengefaßte Vielheit seelischer Erlebnisse« zu bestimmen. Soll ein »Träger« für das Seelenleben gefunden werden, so muß man ihn »nicht in einem isolierten, starren Wirklichkeitsklötzchen suchen, das man absolut setzt, sondern in dem umfassenden Ganzen, aus dem, an dem und in dem es ist«. Das physische Äquivalent des Seelenlebens ist das ganze leibliche Leben. Zwischen Psychischem und Physischem besteht keine Wechselwirkung, sondern Parallelismus (bzw. Identität). Unsterblich ist die Seele im Sinne Fechners (s. d.).
Die niederen Bewußtseinseinheiten sind in höheren, alle schließlich im göttlichen Allgeist beschlossen. Die Einzeldinge haben nicht absolute Selbständigkeit, sie haben »Dasein und Wesen in dem All-Einen, dessen mehr oder minder selbständige Glieder sie sind«. Die Kausalzusammenhänge sind Symbole von Willensvorgängen und damit von Zweckzusammenhängen. Die Naturgesetze sind die »allgemeinen Erscheinungsformen des göttlichen Willens«, der Naturlauf ist die »Darstellung des inneren, teleologischen Zusammenhanges aller Momente in der göttlichen Wesensentwicklung für unsere sinnliche Erkenntnis«. In Natur und Geschichte offenbart sich das Wesen des All-Einen. Die Wirklichkeit ist Erscheinung eines »Reiches der Zwecke« (vgl. Kant). »Die universelle Wechselwirkung in der Körperwelt ist die Erscheinung der inneren, ästhetisch-teleologischen Notwendigkeit, mit der das All-Eine seinen Wesensgehalt in einer Vielheit von zusammenstimmenden Modifikationen, in einem Kosmos konkreter Ideen (Monaden, Entelechien) entfaltet. Diese innere Notwendigkeit ist zugleich absolute Freiheit oder Selbstverwirklichung.« In der absoluten Wirklichkeit kommen alle Werte zur Geltung.[531]
Die Ethik P.s ist »teleologisch« und »energetisch« (perfektionistisch). Die Ethik ist eine auf Anthropologie, Psychologie und Soziologie basierende »Theorie der Lebenskunst«. Sie hat Anleitung zu geben, die Aufgaben des Lebens so zu lösen, daß dasselbe die reichste, schönste, vollkommenste Entfaltung erreicht. Sie ist die »Wissenschaft von den Gütern, die dem Leben absoluten Wert geben, und von den Normen und Kräften des Wollens und Handelns, worauf deren Verwirklichung beruht« (Kultur d. Gegenwart I 6, S. 283). Die Ethik gewinnt, ihre Normen aus dem objektiven Sittengesetz des sozialen Ganzen, sie ist »sozialteleologisch«. Dem »Energismus« gemäß ist das höchste Gut nicht in subjektive Gefühlserregungen, sondern in einen objektiven Lebensinhalt oder, da Leben Betätigung ist, in eine bestimmte Art der Lebensbetätigung zu setzen. Zum guten Handeln gehört sowohl gewissenhaftes als richtiges Handeln. Ethisches Endziel ist »persönliche Wesensvollendung und vollendete Lebensbetätigung des Einzelnen und der Gesamtheit«. Höchstes Gut ist »ein vollkommenes Menschenleben, d.h. ein Leben, das zur vollen Entfaltung und Betätigung aller menschlichen Anlagen und Kräfte führt, zumeist der höchsten, der geistig-sittlichen Kräfte der vernünftigen Persönlichkeit«. Die Tugenden sind »habituelle Willensrichtungen und Verhaltungsweisen, welche die Wohlfahrt des Eigenlebens und des Gesamtlebens zu fördern tendieren«. Die Pflicht ist das »Gefühl der Verbindlichkeit, immer und überall so zu handeln, wie es durch die objektive Sittlichkeit gefordert wird«.
SCHRIFTEN: Über das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. I, 1877. – Über den Begriff der Substantialität, l. c. I, 1877. – Was uns Kant sein kann? l. c. 1881. – Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten, 1885; 2. A. 1895. – System der Ethik, 1899; 6. A. 1903; 7. u. 8. A. 1906. – Einleitung in die Philosophie, 1892; 21. A. 1909 (neben der Ethik das Hauptwerk P.s). – I. Kant, 1898; 4. A. 1904 (Frommans Klassiker der Philos.). – Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles. Drei Aufsätze zur Naturgeschichte des Pessimismus, 1900; 2. A. 1911. – Kants Verhältnis zur Metaphysik, Kantstudien IV, 1900. – Philosophia militans, 2. A. 1901. – Noch ein Wort zur Theorie des Parallelismus, Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, 115. Bd. – Parallelismus und Wechselwirkung, l. c. 123. Bd. – Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, Kultur der Gegenwart I, 6. – Zur Ethik und Politik, 1905. – Aus meinem Leben, 1909, u. a.