Philon der Jude

[542] Philon der Jude (Philo Judaeus), geb. um 25 v. Chr. in Alexandrien, aus vornehmer (vielleicht priesterlicher) Familie, war 40 n. Chr. mit seinem Bruder, dem »Alabarchen« der Alexandrinischen Juden, als Gesandter in Rom, um beim Kaiser (Caligula) Schutz für die angegriffenen Alexandrinischen Juden zu erbitten; 42 n. Chr. wurde er mit der Tempelsteuer nach Jerusalem gesandt. Das Jahr seines Todes ist unbekannt.

P. ist der Hauptvertreter derjenigen philosophischen Weltanschauung, welche durch eine Synthese griechischer Philosophie mit dem jüdischen Mosaismus entstand. Am meisten ist er von Plato und der Stoa beeinflußt, aber auch vom Pythagoreismus und anderen philosophischen Richtungen hat er Einwirkungen erfahren. Die Bibel deutet er in allegorischer Weise, ohne aber deshalb dem buchstäblichen Sinn Abbruch zu tun oder die Satzungen der Religion abzulehnen. Er ist mit großer spekulativer Kraft bemüht, dem Monotheismus ein philosophisch-universelles Gepräge zu geben und er sucht die Transzendenz und Persönlichkeit Gottes mit der Immanenz des göttlichen Wirkens in der Welt zu vereinbaren, wobei ihm der Stoische Begriff des »Logos«, der als Kraft gedachten Weltvernunft, als Vermittlung zwischen der Gottheit und der Welt dient.

Bei aller Festhaltung der Persönlichkeit Gottes verwirft P. doch jeglichen Anthropomorphismus, den er höchstens als symbolisch-allegorisch zulässig findet. Gottes ureigenes Wesen ist unerkennbar, kein Name kann dieses Wesen bezeichnen, es ist über alle Prädikate erhaben, ist reines Sein (to on) das Allgemeinste und Höchste, das sogar noch über das Gute (mit dem es Plato identifiziert hatte) erhaben ist. Gott ist scharf von der Welt unterschieden, nichts von allem Weltlichen ist in ihm, seine Reinheit wird durch nichts getrübt. Gott ist das einzige wahrhaft Seiende, Ewige, einheitlich, einfach, einzig (ho theos monos esti kai hen, ou synkrima, physis haplê), rein (eleuthera physis), sich selbst genügend, absolut (to gar on hê on estin, ouchi pros ti), allseiend, mit seinen Kräften das All erfüllend, der Ort aller Dinge, der Allumfasser und Allwissende, er ist leidlos und selig. Gott ist jenseits der Welt, die er mit seiner Kraft durchdringt, über Raum und Zeit erhaben, ungeworden und unwandelbar. Er ist immateriell und frei.

Zwischen Gott und Welt vermittelt der Logos (logos), d.h. die ewig bei Gott wohnende göttliche Vernunftkraft, der »erste Sohn« Gottes (prôtogonos), der »zweite Gott« (deuteros theos), der »Schatten« Gottes (skia theou), der Paraklet, der Mittler zwischen Gott und Mensch. Der Logos ist das Wort (rhêma theou) und der Gedanke (ennoia) Gottes, sein schöpferisches Denken, dessen Kraft die Welt erschaffen hat, sie durchdringt und gesetzmäßig zusammenhält. Der Logos ist der Ort der intelligiblen Welt der Ideen (ho ek tôn ideôn kosmos), der Urbilder der sinnlichen Dinge. Die Ideen sind Gedanken Gottes, göttliche Vernunftkräfte, zugleich relativ selbständige, tätige, geistige Wiesen, die in der Bibel als Engel bezeichnet sind. Mittels dieser immateriellen[542] Kräfte erschuf und gestaltete Gott die Dinge (tais asômatois dynamesin, hôn etymon onoma hai ideai, katechrêsato pros to genos hekaston tên harmottousan labein mormên). Der Logos ist die oberste Idee; er wird von P. bald mit der »Weisheit« (sophia) identifiziert, bald wird diese als »Mutter« des Logos bezeichnet. Nach dem Vorbild der Stoa unterscheidet P. im Menschen wie im All einen inneren (logos endiathetos) und einen zum Ausdruck gebrachten Logos (logos prophorikos).

Vermittelst des Logos hat Gott aus Güte die Welt, den jüngeren Sohn Gottes, geschaffen, und zwar aus der nicht wahrhaft seienden, dunklen, gestalt- und eigenschaftslosen (amorphos), unwirksamen (apoios), toten (nekron), unreinen Materie. Die geschaffenen Dinge, welche durch Gestaltung der Materie seitens der göttlichen Vernunftkraft entstanden sind, sind Abbilder der Ideen, die das Wirksame in ihnen sind. Die Welt ist im Gegensätze zu Gott nicht unendlich. In ihr ist alles zahlenmäßig geordnet und harmonisch-gesetzlich verbunden; in optimistischer Weise gibt P. (ähnlich wie die Stoa) eine Theodizee, welche das Übel nur als Nebenwirkung des Guten oder als Mittel dazu oder als bloßen Schein darstellt.

Die Seele des Menschen ist ein an einen Leib gebundener Geist, dessen vernünftiger Teil (logistikon) unsterblich ist, wobei aber die noch nicht geläuterten Seelen eine Metempsychose durchmachen müssen. Der Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Die Tugend besteht nun darin, dem göttlichen Urbild zu folgen (hepesthai theô), es nachzuahmen (mimeisthai theon), Gott zu dienen (douleuein theô). Das Höchste und der Gipfel der Glückseligkeit ist die Vereinigung mit Gott im unmittelbaren Schauen Gottes, im Zustande mystischer Begeisterung (Ekstase), wo der Mensch sein Ich aufgibt und eine Wohnstätte Gottes wird, dessen Kraft und Liebe ihn befreit und beseligt.

Die philosophische (nicht immer eindeutige) Lehre vom Logos ist für das Christentum von größter Bedeutung geworden, da schon das Evangelium Johannis darauf fußt (»Im Anfang war der Logos und der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.« »Alles ist durch ihn geworden.«) – nur daß es, was von höchster Wichtigkeit ist, von der Fleischwerdung des Logos spricht – und da ferner die orthodoxe Gnosis (Clemens, Origenes) Philonische Lehren voraussetzt.

SCHRIFTEN: Von P.s Schriften sind die meisten erhalten (De mundi opificio; Legis allegor.; De vita Mosis; De Cherubim; De vita Abrahami; De caritate; De somniis u. a.). Opera, 1742, 1828-30, 1851-53; hrsg. von L. Cohn und P. Wendland, 1896 ff. (Editio maior und minor). – Werke, deutsch von L. Cohn, I, 1909. – Philonea, ed. Tischendorf, 1868. – Neu entdeckte Fragmente, hrsg. von P. Wendland, 1891. – Vgl. M. WOLFF, Die Philonische Philosophie, 2. A. 1858. – HEINZE, Die Lehre vom Logos. – J. RÉVILLE, Le logos d'après Philon, 1877. – J. DRUMMOND, Philo Judaeus, 1888. – ARNIM, Quellenstudien zu P., 1888. – G. FALTER, Philon und Plotin, 1906.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 542-543.
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