Pythagoras von Samos

[576] Pythagoras von Samos, geb. um 570 v. Chr. als Sohn des Kaufmannes Mnesarchos. Über sein Leben sind viele Legenden, aber wenig sichere Angaben vorhanden. Ob er in Ägypten gewesen, ist unsicher, jedenfalls aber hat er von Ägyptischer Wissenschaft (Mathematik) profitiert. Er soll Schüler des Pherekydes und des Anaximander gewesen sein, auch soll er in die delphischen Mysterien eingeweiht worden sein. Um 530 v. Chr. wanderte P. nach Kroton in Unteritalien aus, wo er der Partei der Aristokraten beitrat und einen Bund gründete, der mit wissenschaftlichen und religiösen auch ethische und politische Zwecke verfolgte. Die Mitglieder dieses Bundes mußten ein streng geordnetes Leben führen, mäßig sein, unbedingt sich der Autorität des Meisters unterwerfen (autos epha). Schweigen (besonders nach außen) üben; unbedingte Treue gegeneinander bewähren (geheime Erkennungszeichen usw.). Sie lebten zusammen (gemeinsame Mahlzeiten usw.) und bildeten eine feste Organisation, welche auch eine Macht im Staate bedeutete. Die Reaktion blieb in Kroton nicht aus; ein Aufstand der demokratischen Partei (unter Kylon) brach aus und Pythagoras mußte nach Metapont auswandern, wo er bald darauf gestorben sein soll. Auch die in anderen Städten lebenden Pythagoreer erlitten Verfolgungen; in Kroton wurden sie später überfallen und kamen fast alle in ihrem, von den Angreifern angezündeten Versammlungshause um. Des P., Persönlichkeit wirkte in solchem Maße, daß er geradezu als göttliches Wesen angestaunt wurde. Auch durch sein Wissen war er berühmt. Zugeschrieben wird ihm der »Pythagoreische Lehrsatz«, die Kenntnis der regelmäßigen Vierecke, der regelmäßigen Körper, des »goldenen Schnittes«, der Begriff der Primzahlen, die Kenntnis der akustisch-musikalischen Schwingungsverhältnisse. Geschrieben hat P. nichts, auch ist es ganz unsicher, wieviel von den theoretischen Lehren des »Pythagoreismus«, die er begründet hat, ihm selbst zuzuschreiben sind. Ja, vieles, was als pythagoreisch ausgegeben wurde, stammt nicht einmal von Schülern des Pythagoras. Dieser soll sich zuerst einen philosophos genannt und die Welt zuerst als Kosmos (Kosmos) bezeichnet haben.[576]

Der Pythagoreismus bestimmt als Prinzip der Dinge nicht einen Stoff oder eine Kraft, sondern etwas Formales. Er arbeitet der neueren quantitativen Naturauffassung dadurch vor, daß er, allerdings in metaphysischer Weise, die Zahl zum Wesen der Dinge macht, wobei unter »Zahl« etwas Objektives zu denken ist, eine wohl geometrisch vorgestellte bestimmte Verbindung der Einheit. Nach Aristoteles kamen die Pythagoreer zu einer solchen Anschauung durch ihre Vertrautheit mit der Mathematik, deren Ordnungsverhältnisse sie in den Dingen realisiert fanden, welche ihnen als Abbilder oder Nachahmungen der Zahlen und deren Elemente erschienen. Sie nahmen an, die Elemente der Zahlen seien zugleich die Elemente der Dinge, und die Welt selbst sei Harmonie und Zahl (tas toutôn archas tôn ontôn archas ôêthêsan einai pantôn; epei de toutôn hoi arithmoi physei prôtoi, en de tois arithmois edokoun theôrein homoiômata polla tois ousi kai gignomenois, mallon ê en pyri kai gê kai hydati. – eti de tôn harmoniôn en arithmois horôntes ta pathê kai tous logous; hoi d' arithmoi pasês tês physeôs prôtoi, ta tôn arithmôn stoicheia tôn ontôn stoicheia pantôn hypelabon einai, kai ton holon ouranon harmonian einai kai arithmon, Aristot. Met. I, 5). Die Prinzipien oder Elemente der Zahlen (und damit der Dinge) sind das Gerade und Ungerade (artion kai peritton) oder das Unbegrenzte (das Gerade als unendlich teilbar) und Begrenzte (apeiron, peperasmenon); aus ihnen bestehen alle Dinge. Die Zahl ist die Substanz der Dinge. Die Urzahl, aus der alle anderen hervorgehen, ist die Einheit (monas). Die Vier ist der Körper, auch hat sie besondere Bedeutung, ebenso die Zehnzahl (Tetraktys). Die Sechs ist die Zahl der Beseeltheit, die Neun die Zahl der Gerechtigkeit, wie überhaupt die Tugenden auf Zahlen zurückgeführt werden. Manche Pythagoreer geben eine Liste von zehn Gegensätzen: Grenze und Unbegrenztes; Ungerades und Gerades; Eins und Vieles; Rechtes und Linkes; Männliches und Weibliches; Ruhendes und Bewegendes; Gerades und Krummes; Licht und Finsternis; Gutes und Böses; Quadrat und Rechteck (Aristot. Met. I, 5).

Gemäß der pythagoreischen Kosmologie befindet sich in der Mitte des Universums das Weltfeuer, der »Herd« des Alls (dieHestia). Um dieses Zentralfeuer bewegen sich die zehn Himmelskörper, darunter die Erde mit der Gegenerde (antichthôn), wie dies Hiketas (s. d.), Ekphantos u. a. lehrten. Bekannt ist ferner die pythagoreische Lehre von der Sphärenharmonie, d.h. von den Klängen der bewegten Himmelskörper in bestimmten Intervallen, welche Harmonie aber wegen der fortgesetzten Einwirkung auf unser Ohr von uns nicht vernommen wird (Aristot. De caelo II, 9). Die Zahl der Körperelemente beträgt fünf: Feuer (Tetraëder), Erde (Kubus), Luft (Oktaëder), Wasser (Ikosaëder), Äther (Dodekaëder; Stob. Eclog. I, 26). Die Seele soll von den Pythagoreern als »Harmonie« bestimmt worden sein (harmonian gar tina autên legousi, Arist. De anim. I, 4). Von anderen sei die Seele mit den Sonnenstäubchen oder auch mit dem, was diese bewegt, identifiziert worden (ephasan gar tines autôn psychên einai ta en aeri xysmata, hoi de to tauta kinoun, l. c. I, 2). Der Leib ist ein Kerker der Seele. Zu ihrer Läuterung machen die Seelen eine Seelenwanderung durch (ekriphtheisai d' autên epi[577]

gês plazesthai en aeri homoian sômati, Diog. L. VIII, 31). Auch eine Wiederkunft des Gleichen sollen die Pythagoreer (wie Heraklit und später die Stoiker; vgl. Nietzsche) gelehrt haben; alle Dinge und alle Individuen kehren immer wieder (vgl. Diels, Fragm. d. Vorsokratiker I, 238). Die Ethik der Pythagoreer betont die Beherrschung der Begierden, die Reinheit von Leib und Seele, die Frömmigkeit des Lebenswandels.

Als Pythagoreer sind zu nennen: Alkmaion, Eurytos, Hippodamos aus Milet, Epicharmos u. a., besonders Philolaos (s. d.).

Vgl. DIELS, Fragmente der Vorsokrat. I, dazu die Biographien des P. von PORPHYRIOS und JAMBLICHOS (1910; beide zusammen in der Ausgabe des Diog. Laërtius von Cobet, 1850; viel Legendäres). – A. ROTHENBÜCHER, Das System der Pythagoreer, 1867. – CHAIGNET, Pythagore et la philosophie Pythagoricienne, 1875. – W. BAUER, Der ältere Pythagoreismus, 1897. – W. SCHULTZ, Archiv für Gesch. der Philos. Bd. 21, 1908. – GOMPERZ, Griech. Denker I.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 576-578.
Lizenz: