Ribot, Théodule

[594] Ribot, Théodule, geb. 1839 in Guingamp, Prof. in Paris, Herausgeber der »Revue philosophique« (1876 ff.).[594]

R., wohl der bedeutendste französische Psycholog des 19. Jahrhunderts betrachtet die Psychologie als eine von der Philosophie unabhängige, empirische Wissenschaft, welche zu Methoden die innere, subjektive und die objektiv-vergleichende Beobachtung hat. Die Psychologie hat zum Gegenstand nicht unbekannte Seelenkräfte, sondern die psychischen Erscheinungen selbst sowie deren unmittelbaren Ursachen und Gesetze. Hierbei berücksichtigt R vielfach die physiologische und biologische Seite des Seelenlebens und zieht auch das Pathologische stark heran. Die Bewußtseinsvorgänge bestimmt R. als abhängig von den physiologischen, als Begleiterscheinungen von Nervenprozessen. Das Bewußtsein ist zu dem eigentlich wirksamen Geschehen nur hinzugefügt (»surajouté«), es ist ein Epiphänomen. Der Nervenvorgang ist die aktive Grundlage des Bewußtseins, dieses letztere ergänzt ihn, ohne ihn zu konstituieren (»L'activité nerveuse est beaucoup plus étendue que l'activité psychique: la conscience est donc quelque chose de surajouté«, Malad. de la personnal., 4. éd., p. 6). Es gibt ferner kein absolutes Bewußtsein, sondern nur eine Reihe von Bewußtseinszuständen. In seinen letzten Arbeiten betrachtet B. mehr die aktive Seite des Bewußtseins selbst. Unbewußte psychische Vorgänge gibt es nicht, unbewußt können nur die »Zerebrationen« bleiben. Der Reflexvorgang ist der Typus des Nervenprozesses und die Basis aller psychischen Tätigkeit. Psychisches und Physisches sind nur die beiden Seiten eines Geschehens und gehen einander parallel.

In einer Reihe von Monographien hat R. Analysen von psychischen Grundtatsachen gegeben. Die Assoziationen, die allen Formen der geistigen Verbindungen zugrunde liegen, beruhen auf Berührung oder Ähnlichkeit. Das Gedächtnis ist ein allgemeines biologisches, organisches Phänomen (»fait biologique«). Es ist ein Inbegriff »dynamischer« Assoziationen von größerer oder geringerer Stabilität als Produkt der Übung (»ensemble d'association dynamiques«) und ist physiologisch bedingt. Die Erinnerung ist eine »Lokalisierung in der Zeit«. Das Gesetz des Vergessens, das »Regressionsgesetz« (»loi de regression ou de réversion«) besagt: das Vergessen geht vom Neueren zum Älteren, mehr Eingewurzelten, daher erst später aus der Erinnerung Schwindenden; ferner werden erst Vorstellungen, dann Gefühle, endlich Handlungen vergessen. Es gibt temporäre und periodische, progressive und angeborene Amnesien. Das Vergessen ist eine Bedingung der Erinnerung; zwischen den psychischen Zuständen besteht ein Kampf um die Herrschaft (vgl. Herbart). Die Erblichkeit ist eine Art Gattungsgedächtnis; eine Vererbung erworbener psychischer Eigenschaften besteht. Es gibt auch ein »affektives« Gedächtnis (für Gefühle u. dgl.).

Die Aufmerksamkeit enthält etwas Motorisches, eine Hemmung (»arrêt«) der Muskel. Sie ist ein auf das Motorische übertragener Affektzustand, der in Gefühlen und Strebungen wurzelt, eine einseitige Konzentration, ein »Monoideismus« (»monoidéisme intellectuel avec adaptation spontanée ou artificielle de l'individu«). Die willkürliche Aufmerksamkeit ist von einem Anstrengungsgefühl begleitet. Das Gefühl (»sentiment«) ist eine organische Tendenz, ein Zeichen für gewisse Strebungen, die befriedigt oder unbefriedigt[595] sind, physiologisch ein Zeichen für eine Förderung oder Störung in den Organen. Die Lust ist die Begleiterscheinung der »dynamogenen« Wirkung der Empfindung, der Erhöhung der Vitalität. Die Gefühle haben ihre eigene Logik. Die Affekte faßt R. ähnlich wie James (s. d.) und Lange auf. Die Leidenschaft (»passion«) ist ein fest gewordener Affekt (»émotion devenue fixe«). Allen psychischen Vorgängen liegen Strebungen zugrunde (Wendung zum Voluntarismus). Jeder Bewußtseinszustand intellektueller Art hat eine »ideomotorische« Tendenz, enthält ein mit der Vorstellung verbundenes Bewegungsstreben. Der Wille (im engeren Sinne) aber ist keine Ursache, nichts Aktives, sondern nur der Ausdruck einer Aktivität, die der Wille bejaht oder verneint: »Das wahre Geheimnis des Handelns liegt in dein natürlichen Streben der Gefühle und Vorstellungen, sich in Bewegungen umzusetzen.« Der Wille ist ein »abschließender« Zustand, welcher aus der Koordination von Zuständen hervorgeht, deren Zusammenwirken eine Handlung oder eine Hemmung herbeiführt. Jeder Willensvorgang enthält zweierlei: erstens das wirkungslose Bewußtsein »ich will«, zweitens einen psychophysischen Mechanismus, der allein wirksam ist. Die Krankheiten des Willens (»Abulie« usw.) analysiert R. genau. Das Denken ist schon der Beginn eines motorischen Prozesses. Im Denken betätigt sich schon die schöpferische Einbildungskraft, welche hier die Analogie verwertet. Die allgemeinen Vorstellungen entstehen aus einer Verschmelzung von Bildern. Die Phantasie beruht auf der Tendenz der Vorstellungen nach Objektivierung, sowie auf der Vereinigung von Assoziation und Dissoziation. Das Gefühl ist in ihr wirksam, ebenso das Bedürfnis; beide wirken schöpferisch, inspirierend. Das Ästhetische ist eine Form des Spiels und beruht (wie nach Spencer) auf einem Überschuß an Energie (»superflu de vie«), auf Funktionslust.

Das Ich, die Persönlichkeit ist ein Komplex psychischer Elemente, eine Resultante aus der Leibesbeschaffenheit und den Strebungen und Gefühlen, die mit dieser verbunden sind, wozu noch die Erinnerung kommt. Die Identität des Ich hat ihre organische Grundlage, ebenso die Zersetzung der Persönlichkeit (Doppel-Ich, Alteration der Persönlichkeit).

SCHRIFTEN: La psychologie anglaise contemporaine, 1879; La psychol. allemande contempor., 1879; 5. éd. 1900; deutsch 1881. – L'hérédité psychologique, 1873; 5. éd. 1898; deutsch 1876. – Les maladies de la mémoire, 1881; 16. éd. 1904. – Les maladies de la volonté, 1883; 25. éd. 1909. – Les maladies de la personnalité, 1885; 14. éd. 1908. – Psychologie de l'attention, 1888; 11. éd. 1908; deutsch 1908. – La psychol. des sentiments, 1896; 7. éd. 1908; deutsch 1903. – L'évolution des idées générales, 1897; 2. éd. 1903. – Essai sur l'imagination créatrice, 1900; 2. éd. 1905; deutsch 1902. – La logique des sentiments, 1905; 3. éd. 1908. – Essai sur les passions, 1908. – Problèmes de psychol. affective, 1909. – Abhandlungen in der »Revue philos.« (1892: Über die Charaktere; 1894: Affektives Gedächtnis; 1896: Allgemeine Vorstellungen, u. a.). – Vgl. S. KRAUSS, Th. R.'s Psychologie, 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 594-596.
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