Rickert, Heinrich

[599] Rickert, Heinrich, geb. 1863 in Danzig, Prof. in Freiburg i. Br.

R., der besonders von Fichte, direkt von Windelband beeinflußt ist, vertritt einen Idealismus, der aber nicht psychologisch-subjektivistisch sein will, sondern überindividuelle, von den psychologischen Subjekten unabhängige theoretische und praktische, absolute Werte anerkennt. Kritisch ist »das Verfahren, welches zwischen wertvollen und wertlosen Zielen der Erkenntnis scheidet und mit Rücksicht auf sie die Geltung der zu ihrer Erreichung notwendigen Erkenntnismittel begründet«. Das Wert- und Willensmoment spielt schon im Erkennen eine fundamentale Rolle. Dieses ist ein Urteil und ist durch das Gefühl bestimmt, daß das Urteil wertvoll ist, gefällt werden soll. Erkennen ist Bejahen oder Verneinen, Stellungnahme seitens des Subjektes. Im Urteil steckt »ein praktisches Verhalten, das in der Bejahung etwas billigt oder anerkennt«. Es enthält die Stellungnahme zu einem Werte, Zustimmung oder Abweisung. Die praktische Vernunft hat auch im Erkennen den Primat. Der Erkenntnis liegt der »Wille zur Wahrheit« zugrunde. Die Wahrheit selbst ist ein Wert, der in einer absolut gültigen Urteilsnotwendigkeit gegeben ist, in der Anerkennung des Sollens sich bekundet. Dem Wahrheitswillen, der etwas Logisches ist, geht noch etwas Überlogisches voran, der sittliche Wille (Primat der praktischen Vernunft).

Das Subjekt der Erkenntnis ist nicht das psychophysische oder psychologische Individuum, sondern das Bewußtsein überhaupt als abstraktes, begriffliches »erkenntnistheoretisches« Subjekt. Dieses ist ein »namenloses, allgemeines, unpersönliches Bewußtsein..., das einzige, das niemals Objekt, Bewußtseinsinhalt werden kann«. Es ist die transzendentale Voraussetzung des objektiven Erkennens, das Korrelat zu den Objekten, zu denen sowohl die Dinge der Außenwelt als die psychophysischen Subjekte gehören; sie alle sind Inhalt des »Bewußtseins überhaupt«. Der Gegenstand der Erkenntnis ist nicht ein transzendentes Sein, wohl aber ein »transzendentes wollen«, nach welchem sich das Erkennen zu richten hat. Das Transzendente ist nicht vorstellbar, nur denkbar, es kommt für uns nur als »Norm des Bejahens und Verneinens« in Frage. Das transzendente Sollen normiert die richtige, dem Erkenntniszwecke gemäße, objektive Ordnung des Bewußtseinsinhalts, welche nicht gegeben, sondern »aufgegeben« ist. »Das angeblich transzendent seiende Ding ist eine transzendente Norm oder Regel der Vorstellungsverknüpfung, die Anerkennung fordert.« Der letzte Grund alles immanenten Seins (als Bewußtseinsinhalt, zu dem das Physische wie das Psychische gehört) liegt in einem »transzendenten Ideal, das das erkennende Subjekt zu verwirklichen hat« (vgl. Fichte).[599]

Die Einseitigkeiten des Objektivismus wie des Subjektivismus sind zu vermeiden. Die wirklichen Subjekte sind ebenso wirklich wie die Objekte, nämlich als immanente Realitäten, also weder als Dinge an sich noch als Erscheinungen. Auch der Voluntarismus und Aktivismus darf nicht einseitig werden, er muß die Werte des Willens und die Güter, welche die Tat hervorbringt, kennen. Die Geltung des Wertes bleibt das Primäre, Wille und Tat kommen später, setzen das »Reich der Wertgeltungen« voraus. Außer den zu erkennenden Wirklichkeiten gibt es Werte, deren Geltung wir (philosophisch) verstehen wollen. Werte sind für uns immer mit Wertungen verbunden, aber nicht identisch mit ihnen; sie können gelten, ohne daß ein Akt der Wertung vorhanden ist, also absolut (auch theoretische Werte, Wahrheiten). Die Werte selbst sind »weder im Gebiet der Objekte noch in dem der Subjekte zu finden, sondern sie bilden ein Reich für sich, das jenseits von Subjekt, und Objekt liegt«. Der Wirklichkeit gegenüber und der objektivierenden Behandlung der Wertungen tritt die Philosophie als Wertwissenschaft gegenüber, welche als »reine Wertlehre« zu einem System der Werte gelangen will und schließlich nach einem dritten Reich, der »Einheit von Wert und Wirklichkeit« sucht. Der Sinn der Wertung ist »die dem wertenden Akte innewohnende Bedeutung für den Wert« und insofern die Verbindung und Einheit der beiden Reiche, so daß das dritte Reich das des Sinnes ist, welcher gedeutet wird. Dieser (immanente) Sinn kann nur vom Werte aus gedeutet werden und ist nicht objektivierbar, auch nicht als psychisches Sein. Die Sinndeutung ist das »Erfassen eines Subjektaktes mit Rücksicht auf seine Bedeutung für den Wert«. Die Welt ist aus den Reichen der Wirklichkeit, der Werte und des Sinnes zusammengesetzt.

In Weiterführung einer Auffassung Windelbands gliedert R. die Wissenschaften in Natur- und Geschichtswissenschaften (bzw. historische »Kulturwissenschaften«). Die Naturwissenschaft, zu welcher auch die Psychologie. Soziologie u. dgl. gehört, will die Unendlichkeit der unmittelbaren, anschaulichen Wirklichkeit durch allgemeine Begriffe und Gesetze, mit Abstraktion vom Individuellen, überwinden. »Naturwissenschaftlich« sind im weitesten Sinne Begriffe, für deren Bildung nur das an allen Individuen einer bestimmten Gruppe sich Findende in Betracht kommt. Das Endziel der Naturwissenschaft ist die Auflösung der Wirklichkeit in eine Summe abstrakter, möglichst quantitativ bestimmbarer Gesetzlichkeiten. Das Allgemeine, Gesetzliche ist hier Endziel, während es in den historischen Wissenschaften nur Mittel ist. Es kann jedes Wirkliche sowohl naturgesetzlich als auch historisch untersucht werden, es gibt also eine historische Betrachtungsweise von Naturvorgängen (Entwicklungsgeschichte) und eine naturwissenschaftliche Untersuchung geistiger Prozesse, kultureller Objekte. Natur bedeutet eben zweierlei: einmal »die Wirklichkeit mit Rücksicht auf ihren gesetzmäßigen Zusammenhang«, dann, sachlich, »die Wirklichkeit abgesehen von allen Wertbeziehungen im Gegensatz zur Kultur«. Die historischen Wissenschaften bilden Begriffe mit individuellem Inhalt, haben zum Objekt das konkret Wirkliche als Einmaliges, Individuelles, als einmaligen Zusammenhang von Vorgängen (»historische[600] Kausalität«); die Generalisation ist hier nur ein Durchgangsstadium, das Ziel der historischen Darstellung ist nie das Allgemeine, Gesetzliche, und das eigentlich Historische läßt sich nicht naturgesetzlich (auch nicht soziologisch) erfassen. Die historische, »teleologische« Begriffsbildung bezieht die Individuen, das Individuelle der Geschichte auf »Kulturwerte« (Religion, Kunst usw.), welche als Auswahlprinzipien dienen (»Wertbeziehung«). Der subjektiven Wertung hat sich der Historiker zu enthalten. Die Geschichtsphilosophie erst bezieht die Geschichte auf einen überhistorischen, überzeitlichen Wert und findet in der Geschichte etwa eine Entwicklung zur Freiheit. Die Geisteswissenschaften sind wesentlich »Kulturwissenschaften«, insbesondere »historische Kulturwissenschaften« (z.B. die historische Psychologie, während die gewöhnliche Psychologie eine Naturwissenschaft ist).

Von R. beeinflußt sind B. Christiansen, S. Hessen, G. Mehlis, J. Cohn u. a.

SCHRIFTEN: Zur Lehre von der Definition, 1888. – Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892; 2. A. 1904. – Die Grenze der naturwissensch. Begriffsbildung, 1896-1902. – Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899; 2. A. 1910. – Fichtes Atheismusstreit und die Kantsche Philosophie, 1899. – Psychophys. Kausalität und psychophys. Parallelismus, 1900 (Sigwart-Festschrift). – Zur Theorie der naturwissenschaftl. Begriffsbildung, Vierteljahrsschr. für wissensch. Philos. Bd. 18. Die Philos. im Beginne des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Windelband, II. – Zwei Wege zur Erkenntnistheorie, Kantstudien, Bd. XIV, 1909, – Vom Begriff der Philosophie, in: Logos, hrsg. von Mehlis, Bd. I, 1910.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 599-601.
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