Riehl, Aloys

[601] Riehl, Aloys, geb. 1844 in Bozen, 1873 Prof. in Graz, 1883 in Freiburg i. Br., dann in Kiel und Halle, jetzt Prof. in Berlin.

R. vertritt einen Kritizismus mit einer Wendung zum Positivismus und mit Betonung des empirisch-objektiven Faktors der Erkenntnis, ferner einen »philosophischen Monismus« (im Gegensatz zum naturalistischen Monismus).

Die Philosophie ist nach R. »allgemeine Wissenschafts- und praktische Weisheitlehre«. Als Wissenschaft ist sie »Wissenschaft und Kritik der Erkenntnis«, deren Gegenstand die Erfahrung als solche ist. Außerdem gibt es eine Philosophie als »Kunst der Geistesführung«, »Teleologie der menschlichen Vernunft«. Eine Metaphysik ist nur als kritische Disziplin, als Theorie der Grenzbegriffe der Erfahrung, als »System der Erkenntnisprinzipien«, also nur im Sinne Kants, berechtigt. Das Transzendente ist nicht Gegenstand der Erkenntnis. Was die Logik und Erkenntnistheorie betrifft, ist R. ein Gegner des Psychologismus. Die Logik ist weder Normwissenschaft noch Kunstlehre, sondern »die Wissenschaft von den einfachsten Verhältnissen der Objekte des Denkens und eine Art Metaphysik der Erkenntnis«. Sie ist »Analysis des Gedachten durch das Prinzip der Identität«.

Die Erkenntnistheorie ist die »Theorie der allgemeinen Erfahrung«. Sie prüft die Quellen unseres Wissens und stellt den Grund seiner Berechtigung fest. Sie hat zu zeigen, »welche reale Bedeutung der Empfindung, den Verhältnissen der Empfindungen und dem Schema ihrer Auffassung in Raum und[601] Zeit zukomme, wie aus denselben unreflektierten Urteilsakten, durch welche gegenständliche Wahrnehmungen erzeugt werden, die allgemeinen apperzipierenden Vorstellungen (Kategorien) entspringen«. Die kritische Methode besteht in der prinzipiellen Scheidung des ideellen Erkenntnisfaktors vom empirischen. Alle Erkenntnis ist durch die apriorische Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins bedingt, beruht auf logischer Verarbeitung des Erfahrungsinhalts und ist dadurch möglich, daß zwischen den Erkenntnisformen und den Grundverhältnissen der Wirklichkeit eine Kongruenz besteht, so aber, daß nur die Grenzen der Dinge, nicht deren An sich erkannt werden. Die Formen der Anschauung und des Denkens sind Bedingungen objektiver Erfahrung und zugleich der Erfahrungsobjekte. In diesen Formen bekundet sich das oberste A priori, die Identität des Selbstbewußtseins, so daß jede Vorstellung ein Produkt der besonderen Erfahrungen in die Gesetze der allgemeinen, der Bewußtseinseinheit ist. Das Identitätsbewußtsein ist die Quelle der apriorischen Begriffe. »Nichts kann erfahren werden, was nicht zu einem Bewußtsein vereinigt gedacht werden kann.« Um das Gleiche als Gleiches zu erkennen, ist erforderlich, daß die Erkenntnistätigkeit selber gleichförmig ist, daß das Bewußtsein sich als dasselbe weiß und erhält. Es ist aber die formale Einheit des reinen Ichs oder Subjekts vom empirischen Ich zu unterscheiden; nur der bloße Gedanke »Ich«, der Begriff des Subjektseins, ist immer und überall derselbe Gedanke, »die nämliche Form des Bewußtseins überhaupt«.

Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) sind »empirische Grenzbegriffe, deren Inhalt, in gleichem Grade für das Bewußtsein, wie für die Wirklichkeit selber gültig ist«. Der Raum hat seine empirische Grundlage in der Koexistenz der Empfindungen, während seine logischen Eigenschaften (Gleichartigkeit und Stetigkeit) aus der Identität des Selbstbewußtseins stammen. Als Fundamentalbegriff ist der Raum einzig in seiner Art. Die Zeitvorstellung entsteht aus der Verbindung der Identität des Selbstbewußtseins mit der Sukzession der Erscheinungen; das Ich hält seine Identität in der Folge der Vorstellungen fest und hat so das Bewußtsein der Dauer. Raum und Zeit enthalten sowohl empirische, als apriorische (ideelle, logische) Elemente. Die Kategorien sind die »allgemeinen apperzipierenden Vorstellungen«, die allgemeinen Formen des Apperzipierens, Begriffe von Synthesen. Sie sind die »durch Reflexion bewußt gewordene Gesetzlichkeit des Denkens«, entspringen aus der formalen Einheit des Bewußtseins, aus dem Prinzip der »Einheit und Erhaltung des Bewußtseins überhaupt«. Sie verwirklichen sich nur am Gegebenen, Anschaulichen. »Kategorien entstehen, indem Gegenstände der Anschauung durch eine oder die andere logische Funktion bestimmt gedacht werden. Kategorien sind logische Funktionen in deren bestimmter Anwendung, in Anwendung auf Anschauung.« So ist die Kausalität die Anwendung des Satzes vom Grunde auf die zeitlichen Veränderungen der Erscheinungen, so aber, daß die Vorstellung des Bewirkens aus dem Bewußtsein der eigenen Willenstätigkeit stammt. Substanz ist das Wirkliche rücksichtlich der Unveränderlichkeit seines Quantums.

Bezüglich der Objekte der Erfahrung gilt der Satz: Cogito, ergo sum et[602] est. »Indem ich mir meines eigenen Daseins bewußt werde, werde ich mir unter einem des Daseins von etwas bewußt, was ich nicht bin.« Der Inhalt der Empfindung ist objektiv, ihre Gefühlsseite subjektiv. »Durch das Gefühl, womit sie das Bewußtsein erregt, gibt sich die Empfindung als etwas kund, das nicht ausschließlich aus uns stammt.« Das ursprüngliche Bewußtsein ist indifferent, kennt weder ein Selbst noch ein Objekt; beide scheiden sich erst aus ihm aus. Wir erfahren durch den Zwang des Empfindens, daß das Bewußtsein durch eine Wirklichkeit begrenzt wird, die es nicht selber ist. Durch die Empfindung von Widerstand werden wir der Existenz anderer Körper inne; zugleich mit dem Gefühle unseres Strebens erlangen wir die Empfindung der Grenzen, welche diesem Streben von außen gesetzt werden. Der Gedanke der stetigen Existenz der Objekte entsteht dann durch Übertragung unseres Ichbewußtseins auf die Dinge. Indem dieser Gedanke seine volle Überzeugung durch den Denkverkehr mit den Mitmenschen erhält, ist die Erkenntnis der Außenwelt in letzter Instanz ein »soziales Produkt«. Für unser Bewußtsein vertritt schließlich ein Begriff die Stelle des Gegenstandes. Die Außendinge sind, ebenso wie die empirischen Ichs, Erscheinungen eines Ding an sich. Die Materie ist räumlich-dynamische Erscheinung, kein Ding an sich, nur ein Denkmittel. Der Begriff des Atoms ist nur ein Erzeugnis der Methode, ein »Rechenpfennig«, nichts Reales, ein Gedankending. Die raumzeitliche, kausalmechanische Auffassungsweise der Natur ist berechtigt, notwendig, muß konsequent sein. Aber sie ist einseitig, abstrakt, gilt nur für die Objekte der äußeren Erfahrung als solche, nur als Symbol für das Wirkliche. Körperlichkeit, Bewegung, Energie – alles ist als solches Erscheinung.

Das Psychische (Bewußtsein) ist etwas Spezifisches, nichts Materielles, auch nicht »Energie«, denn es hat keine Große; es ist das »nichtenergetische Geschehen in der Natur«. Psychisches und Physisches sind Erscheinungen oder Betrachtungsweisen eines Identischen. Und zwar ist der Panpsychismus abzulehnen, im Anorganischen hat das Physische kein Bewußtseinskorrelat; ein solches tritt erst in den Organismen auf, aber nicht als Wirkung des Physischen. Zwischen Psychischem und Physischem besteht ein Parallelismus, wobei aber beide Reihen des Geschehens niemals zugleich der Erfahrung eines und desselben Subjektes angehören. »Die Welt ist nur einmal da; aber sie ist dem objektiven, auf die äußeren Dinge bezogenen Bewußtsein als Zusammenhang quantitativer physischer Vorgänge und Dinge gegeben, während ein Teil derselben Welt einem bestimmten organischen Individuum als seine bewußten Funktionen und deren Zusammenhang gegeben ist. Diese Auffassung des Verhältnisses des Psychischen und des Physischen nenne ich den philosophischen Monismus.« »Dasselbe, was vom Standpunkt des Ich ein Empfindungsprozeß ist, ist von dem des Nicht-Ich ein zerebraler Vorgang.« Wenn wir... sagen, daß den Empfindungen Bewegungen entsprechen, so ist dies so zu verstehen, daß ihnen Vorgänge entsprechen, welche den äußeren Sinnen, Tastsinn und Gesicht, als Bewegungen erscheinen und in der Vorstellungsweise dieser Sinne als Bewegungen gedacht werden müssen. Auch die Bewegung fällt noch in die Erscheinungswelt hinein. Der Wille bewegt die Gliedmaßen[603] nicht als Bewußtseinsvorgang, sondern als Gehirnprozeß, denn die Reihe des Physischen ist geschlossen und kann durch keine physischen Ursachen durchbrochen werden. Eine Freiheit des Willens als gesetzloses Vermögen würde die Naturgesetzlichkeit aufheben. Freiheit ist nur Unabhängigkeit des Willens von der Nötigung durch unmittelbare sinnliche Antriebe.

Die Quintessenz der R.schen Weltanschauung liegt in folgendem: »Es ist dieselbe Wirklichkeit, aus der unsere Sinne stammen und die Dinge, die auf unsere Sinne wirken. Die nämliche schaffende Macht, die schon in den einfachsten Dingen am Werke ist, setzt ihr Werk in uns, durch uns fort. Sie ist die gemeinsame Quelle von Natur und Verstand. Sie hat den Dingen ihre begriffliche Form gegeben und uns das Vermögen, zu begreifen. So stiftete sie zwischen der Natur und Denkgesetzen jene Harmonie, welche im einzelnen zu vernehmen, Ziel und Lohn aller Forschung ist. Aber nur bis zur Voraussetzung dieser Einheit dringt unser Denken. Sie selbst in ihrem Wesen bleibt transzendent. Das Geheimnis des Daseins ist durch das Denken nicht zu ergründen; das Prinzip des Daseins geht dem Denken voran: erst Sein, dann Denken.«

Das Wirkliche wird aber nicht bloß mit dem Verstande erfaßt, es wird auch mit dem Gemüte erlebt, durch das Gefühl geschätzt, vom Willen erstrebt. So entspringen Ideen oder Werte, wobei das Werturteil immer auch praktisch ist, zum Schaffen und Nachschaffen antreibt. »Aus Werten erwächst, auf Werten beruht unser geistiges Leben.« Die Probleme der Lebensanschauung sind Wertprobleme. Werte haben eine objektive Grundlage, sie werden nicht erfunden, sondern entdeckt. Wert und Zweck haben in der Wissenschaft keinen Platz, wohl aber in der Philosophie als Kunst der Geistesführung. Die Ideen sind »Willensaufgaben«, sie gehen auf das Schaffen von Realitäten, die noch nicht sind.

Die Ethik R.s ist jener Kants verwandt. Das Sittengesetz ist das »universelle Gesetz aller vernünftigen Naturen«, es hat »kosmische Tragweite«. Ethisch ist nur die Entscheidung, die mit unserem ganzen Willen übereinstimmt; sie ist zugleich die Entscheidung, die jedes vernünftige Wesen in gleicher Weise treffen würde, das unter den nämlichen Umständen zu handeln hätte.

SCHRIFTEN: Realistische Grundzüge, 1870 (Vermittlung zwischen Herbart und Kant). – Moral und Dogma, 1871. – Über Begriff und Form der Philosophie, 1872. – Kausalität und Identität, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos., 1877. – Der philos. Kritizismus u. seine Bedeutung für die positive Wissensch, 1876-87; Bd. 1. 2. A. 1908 (Hauptwerk). – Über wissenschaftliche u. nicht wissenschaftliche Philosophie, 1883. – Lessing, 1882. – G. Bruno, 2. A. 1900. – Beiträge zur Logik, 1892. – F. Nietzsche, 1897; 5. A. 1909. – R. Haym, 1902. – Zur Einführung in d. Philos. d. Gegenwart, 1903; 3. A. 1908. – I. Kant, 1904. – H. v. Helmholtz u. Kant, 1904. – Plato, 1905. – Logik u. Erkenntnistheorie, Kultur d. Gegenw. I, 6, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 601-604.
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