[640] Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel, geb. 21. November 1768 in Breslau als Sohn eines reformierten Geistlichen, auf dem Gymnasium der Brüdergemeinde zu Niesky herangebildet, studierte auch in deren Seminar zu Barby Theologie, trat aber 1787 aus der Gemeinde aus und ging nach Halle, wo er Theologie und Philosophie studierte. 1790-93 war er Hauslehrer im Hause des Grafen Dohna-Schlobitten zu Finkenstein, 1794-96 Hilfsprediger in Landsberg a. d. Warthe, 1796-1802 Prediger an der Charité in Berlin, 1802-04 Hofprediger in Stolpe. 1804 wurde er a. o. Professor in Halle: er ging aber 1807 nach Berlin, wo er 1809 Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und 1810 Professor der Theologie (aber verbunden mit philosophischen Vorlesungen), 1811 Mitglied, 1814 Sekretär der Akademie der Wissenschaften wurde und wo er am 12. Februar 1834 starb.
Als Denker ist Schl. eine allen Extremen abgeneigte, zur Synthese geneigte, tief religiöse Natur, von Plato, Spinoza, Kant, Fichte und Schelling beeinflußt; namentlich an letzteren knüpft er in seinem Systeme des »Ideal-Realismus« an. In den »Vertrauten Briefen über die Lucinde« (1800 anonym erschienen) nimmt sich S. der viel geschmähten Schrift F. v. Schlegels an und betont das Verbundensein von Sinnlichkeit, und Geistigkeit in der Liebe, in welcher die wahre Unendlichkeit liegt.
In seiner Erkenntnis- und Seinslehre, welche er als »Dialektik« bezeichnet, stellt S. eine Synthese von Idealismus und Realismus her. Die Wissenschaften überhaupt gliedert S. in Physik (Naturphilosophie) und Ethik (Geistesphilosophie). Die Physik ist Naturkunde und Naturwissenschaft, die Ethik Geschichtskunde und Sittenlehre. Die Physik stellt das Vernunftwerden der Natur, die Ethik das Naturwerden der Vernunft dar. Die Philosophie ist Dialektik, welche die Prinzipien des Philosophierens enthält. Philosophieren heißt, den »inneren Zusammenhang alles Wissens machen«; Philosophie ist das »höchste Denken mit dem höchsten Bewußtsein«, vollkommene Entwicklung des Bewußtseins. Die Dialektik ist Kunstlehre des Denkens, Organon des Wissens, d.h. der Sitz aller Formeln seiner Konstruktion, die Kunst des Begründens, die Kunst des Symphilosophierens. Alles Wissen ist nämlich ein gemeinschaftliches Denken, nicht bloß Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein, sondern auch der Denkenden untereinander. Das Wissen ist dasjenige Denken, welches in der Identität der denkenden Subjekte gegründet ist und zugleich dem Sein entspricht. Denken und Sein »korrespondieren« miteinander; das Wissen ist ein Denken, »welches die Beziehungen eines bestimmten Seins zur Organisation richtig ausdrückt«.[640]
Mit der Idee des Wissens ist gesetzt »eine Gemeinsamkeit der Erfahrung und eine Gemeinsamkeit der Prinzipien unter allen mittelst der Identität der Vernunft und der Organisation in allen«. Erkenntnis entsteht durch das Zusammenwirken der sinnlichen, »organischen« Funktion und der »intellektuellen« Funktion der Vernunft. Durch erstere wird der Stoff des Wissens gegeben, durch letztere die Form derselben erzeugt. »In allem Denken ist die Vernunfttätigkeit der Quell der Einheit und Vielheit, die organische Tätigkeit aber der Quell der Mannigfaltigkeit.« »Ohne Einheit und Vielheit ist die Mannigfaltigkeit unbestimmt; ohne Mannigfaltigkeit ist die bestimmte Einheit und Vielheit leer.« Durch das Geöffnetsein des geistigen Lebens nach außen (durch die Organisation) kommt das Denken zum Gegenstand oder zu seinem Stoffe, durch seine sich immer gleiche Tätigkeit (Vernunft) kommt es zu seiner Form. Im Erkennen sind Rezeptivität und Spontaneität vereinigt. Ideales und Reales entsprechen einander (Logisch-ontologischer Parallelismus). »Da nun die Vernunfttätigkeit gegründet ist im Idealen, die organische aber als abhängig von den Einwirkungen der Gegenstände im Realen: so ist das Sein auf ideale Weise ebenso gesetzt wie auf reale, und ideales und reales laufen parallel nebeneinander fort als modi des Seins« (vgl. Spinoza, Schelling). Die Anschauungsformen, Raum und Zeit, sind subjektiv und objektiv zugleich. Sie sind »die Art zu sein der Dinge selbst, nicht nur unserer Vorstellungen«. Der Raum ist das »Außereinander des Seins«, die Zeit das »Außereinander des Tuns«. Die Kategorien sind als Anlagen dem Geiste angeboren, entstehen aus der Vernunft, dem »Orte« der Kategorien, sind subjektiv und objektiv zugleich. Das Denken hat die Form des Begriffs und des Urteils, die einander wechselseitig voraussetzen. Der Begriff entspricht dem Fürsichsein der Dinge, den »substantiellen Formen«, das Urteil dem Zusammensein, der Wechselwirkung der Dinge. Dem höheren Begriff entspricht das Sein als Kraft, dem niederen das Sein als Erscheinung (Dialekt. S. 509 f.); Kraft ist sich wirksam beweisendes Sein. Dem Urteil entspricht die »Tatsache«. Jedes Sein ist frei als Kraft, aber der Notwendigkeit unterworfen, sofern es im Zusammenhang mit, anderen betrachtet wird. Freiheit des Willens ist innere, geistige Determination, Entwicklung aus sich selbst. Das Selbstbewußtsein ist der Punkt, in welchem Denken und Sein unmittelbar identisch sind. Die Seele ist die Einheit des Ich in bezug auf den Organismus.
Die absolute Einheit des Idealen und Realen liegt in Gott, dem »transzendentalen Grund« von beiden, den wir nur in der relativen Identität des Denkens und Wollens, im Gefühl haben. Welt und Gott sind Korrelate, aber nicht identisch. Denn Gott ist Einheit ohne Vielheit, die Welt Vielheit ohne Einheit; die Welt ist raum-zeitlich, Gott raum- und zeitlos und die Negation aller Gegensätze. Aber die Welt ist nicht ohne Gott, Gott nicht ohne die Welt zu denken. Gott ist die »volle Einheit« der Welt, ewiges Leben, aber als Absolutes unpersönlich und nicht außerhalb der Welt, die Gesetzmäßigkeit derselben nicht (durch Wunder) durchbrechend.[641]
Die Religion ist nicht intellektualistisch zu fassen, nicht als Inbegriff von Dogmen, sondern als Anschauung und Gefühl, wodurch das Unendliche im Endlichen selbst erfaßt, erlebt wird. Das Wesen der Religion ist das »schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl«, in welchem wir unser Verhältnis zum Unendlichen, Ewigen unmittelbar erfassen. Wir betrachten hier alles Endliche als Darstellung des Unendlichen und handeln hiernach, tun alles mit (nicht aus) Religion. Unser Sein und Leben fühlen wir als ein »Sein und Leben in und durch Gott«. In den »Monologen« betont S., jeder Mensch solle auf seine Weise die Menschheit und deren reines Wesen darstellen. Die Unsterblichkeit der Religion besteht darin, mitten in der Ewigkeit eins zu werden mit dem Unendlichen. Doch lehrt S. in dem Werke »Der christliche Glaube«, der Glaube an die ewige Fortdauer der menschlichen Persönlichkeit sei in dem Glauben an die Unveränderlichkeit der Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christi Persönlichkeit enthalten. Die christliche Kirche beruht auf der Idee der Erlösung durch Christus und auf der Forderung dauernder, innerer Frömmigkeit. Religion und Philosophie sind einander koordiniert, beide sind gleichberechtigt.
Die Ethik S.s ist, bei aller Anerkennung des Wertes der Individualität, universalistisch, sie ist ferner idealistisch-teleologisch und dem Kern nach »Güterlehre«. Die Ethik ist im weiteren Sinne das Erkennen des Wesens der Vernunft, eine »beschauliche« Wissenschaft, nicht eigentlich normativ oder doch nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft; Sollen und Sein sind auf beiden Gebieten Asymptoten. Die Ethik ist der Ausdruck des Handelns der Vernunft auf die Natur, dessen Erzeugnis Einheit von Vernunft und Natur ist, Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft. Sie stellt dar ein »potentiiertes Hineinbilden und ein extensives Verbreiten der Einigung der Vernunft mit der Natur«. Die Sätze der Sittenlehre sind keine Gebote, sondern darstellend. Die Ethik gliedert sich in Güterlehre, Tugendlehre, Pflichtlehre.
Ein Gut ist jedes »Einssein bestimmter Seiten von Vernunft und Natur«. Höchstes Gut ist der »organische Zusammenhang aller Güter, also das ganze sittliche Sein unter dem Begriff des Gutes ausgedrückt«, die »Gesamtheit der Wirkungen der menschlichen Vernunft in aller irdischen Natur«. Die Vernunft ist als Kraft in der Natur überall »organisierende (»bildende«) Tätigkeit«, ferner ist sie »symbolisierend« (»bezeichnend«), die Vernunft selbst erkennen lassend. Jedes »Symbol«, d.h. Ineinander von Vernunft und Natur, ist auch »Organ« der Vernunft. Ferner ist das sittliche Handeln teils ein sich immer und überall gleiches, teils ein individuell verschiedenes. Das Ziel des sittlichen Handelns (der »bildenden« Tätigkeit) ist, »daß die ganze menschliche Natur, und mittelst ihrer die ganze äußere, in den Dienst der Vernunft gebracht werde«. Alles, was in der Vernunft ist, soll sein Organ in der Natur finden. Die Gebiete des sittlichen Handelns sind Verkehr, Eigentum, Denken, Gefühl. Ihnen entsprechen als ethische Verhältnisse Recht, Geselligkeit, Glaube, Offenbarung und die ethischen Güter oder Organismen: Staat, Gesellschaft,. Schule, Kirche. Das Höchste ist der beständige Kulturfortschritt der Menschheit.[642]
Die Tugend ist die »Kraft der Vernunft in der Natur«, die Kraft, aus welcher die sittlichen Handlungen hervorgehen, die Vernunft und Sittlichkeit im einzelnen Menschen. Als »reiner Idealgehalt des Handelns« ist sie »Gesinnung«, als unter die Zeitform gestellte Vernunft »Fertigkeit«. Als ein Insichaufnehmen ist die Tugend »erkennende«, als Aussichhinstellen »darstellende« Tugend, welche Gegensätze sich durchkreuzen. »Die Gesinnung im Erkennen ist Weisheit; die Gesinnung im Darstellen ist Liebe. Das Erkennen unter die Zeitform gestellt, ist Besonnenheit; das Darstellen unter die Zeitform gestellt, ist Beharrlichkeit« (Kardinaltugenden). Die Pflicht ist die Bewegung zum sittlichen Ziele, die Sittlichkeit als in der einzelnen Tat produzierende sich abdrückend. Es gibt Rechts- und Liebespflichten, Berufs- und Gewissenspflichten. Allgemeine Forderung ist: Handle in jedem Augenblick mit der ganzen sittlichen Kraft und die ganze sittliche Aufgabe anstrebend. Hierbei ist die eigene Individualität zur Geltung zu bringen. »Die sittliche Idee muß sich bei verschiedenen Menschen mannigfaltig aussprechen« (Politik, S. 1). Der Staat ist eine Art Organismus; er besteht da, wo er ein Gegensatz von Obrigkeit und Untertan ist. Die Kunst enthält die Momente der Begeisterung und Besinnung, ist freie Produktivität.
Von Schl. beeinflußt sind Brandis, H. Ritter, Braniß (teilweise von Hegel), George, Romang, Rothe, F. Vorländer, A. Helfferich, G. Weißenborn, K. Schwarz, F. Eberty, Ueberweg, Strauß u. a.
SCHRIFTEN: Über die Religion, 1799; 2. A. 1806; 3. A. 1821; 4. A. 1831. – Vertraute Briefe über die Lucinde, 1800. – Monologen, 1800 u. ö., 1902; auch in der Univ.-Bibl. – Predigten 1804-20. – Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1803 – Platons Werke, deutsch 1804-28. – Die Weihnachtsfeier, 1806. – Der christliche Glaube, 1821-22; 2. A. 1830-31. – Entwurf eines Systems der Sittenlehre, 1835. – Grundriß der philos. Ethik, 1841. – Dialektik, 1839; 1903. – Ästhetik, 1842. – Die Lehre vom Staat, 1845. – Erziehungslehre, 1849. – Psychologie, 1864. – Vorlesungen über das Leben Jesu, 1864. – Geschichte der Philosophie, 1839. – Kritiken, philos. Abhandlungen, Reden (3 Bde.), 1835, 1838, 1846, u. a, – Werke, 3 Abteilungen: I. Zur Theologie, II. Predigten, III. Zur Philosophie und vermischte Schriften, 1835-64. – Aas Sch.s Leben in Briefen, 4 Bde., 1858-1863. – Werke, Aaswahl von O. Braun. – Vgl. F. VORLÄNDER, S.s Sittenlehre, 1851. – W. BENDER, S.s philos. Gotteslehre, 1868; S.s Theologie, 1876-78. – DILTHEY, Das Leben S.s I, 1870, – C. HUBER, D. Entwickl. d. Religionsbegr. bei S., 1901. – MULERT, S.-Studien I, 1907. – E. CRAMAUSSEL, La philos. religieuse de F. Schl, 1909.
Buchempfehlung
Der Erzähler findet das Tagebuch seines Urgroßvaters, der sich als Arzt im böhmischen Hinterland niedergelassen hatte und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch begann, dieses Tagebuch zu schreiben. Stifter arbeitete gut zwei Jahrzehnte an dieser Erzählung, die er sein »Lieblingskind« nannte.
156 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro