[688] Spencer, Herbert, geb. 27. April 1820 in Derby, Autodidakt, 1837-45 Eisenbahningenieur in London, dann nur schriftstellerisch tätig, gest. 8. Dezember 1903 in Brighton.
S. verbindet mit einem agnostischen Standpunkt in der Metaphysik (Einfluß von Hamilton u. a.), beeinflußt vom Positivismus Comtes und in manchem mit Schelling verwandt, einen evolutionistischen Monismus, ja er ist geradezu der Begründer der evolutionistischen Philosophie, indem er die Idee der Entwicklung auf das gesamte (physische, psychische, soziale, ethische) Geschehen anwendet, in allem die Momente einer einheitlichen Evolution erblickt, ja die Entwicklung selbst zum Urgesetz alles Werdens macht.
Unsere Erkenntnis (= ein »Klassifizieren«) ist nach S. relativ, hat es nur mit Relativem zu tun und ist symbolischer Art, da die Dinge, mit denen sie sich befaßt, Erscheinungen, Manifestationen des »Unerkennbaren« (»unknowable«), des [688] Absoluten sind. Von diesem (göttlichen, überpersönlichen) Absoluten haben wir nur ein unbestimmtes Bewußtsein seines Seins, ohne daß wir seine Eigenschaften kennen. Das Relative fordert ein Absolutes als Unbedingtes, Konstantes, Unendliches, über den Gegensatz von Natur und Geist Erhabenes. Es ist die (absolute, nicht mit der phänomenalen, psychischen Kraftanstrengung zu verwechselnde) Kraft, welche sich in den raum-zeitlich-dynamischen Relationen der Dinge symbolisch manifestiert (»inscrutable power manifested to us through all phenomena«). »Das Äußerste, was für uns möglich ist, ist eine Interpretation des Weltprozesses, wie er sich unserem beschränkten Bewußtsein darstellt... Die Interpretation aller Phänomene in Ausdrücken von Materie, Bewegung und Kraft ist nur eine Zurückführung unserer verwickeltsten Denksymbole auf die einfachsten Symbole« (Standpunkt des kritischen Realismus, »transfigured Realism«). »Eine Macht, deren Natur uns immer unbegreiflich bleibt, und die wir weder in der Zeit noch im Raum begrenzt denken können, wirkt in uns gewisse Wirkungen. Diese Wirkungen haben gewisse Ähnlichkeiten unter sich, von denen wir die allgemeinsten unter dem Namen Materie, Bewegung und Kraft zusammenfassen, und zwischen diesen Wirkungen bestehen gewisse Ähnlichkeiten der Verknüpfung, von denen wir die beständigsten als Gesetze von höchster Gewißheit zusammenfassen.«
Die Objekte der Außenwelt sind etwas Relatives; das Ding selbst ist der unbekannte permanente Nexus, welcher Erscheinungen zusammenhält (»the unknown permanent nexus, which is never itself a phenomenon, but is that, which holds phenomena together«). Das Außenweltsbewußtsein entsteht auf Grundlage der Sonderung der lebhaften Wahrnehmungsinhalte, welche von uns unabhängig sind, von den blassen, subjektiven Vorstellungen. Das Dasein der Dinge ist Fortdauer (»persistence«) der Zusammenhänge von objektiven Qualitäten im Bewußtsein. Diese Zusammenhänge stellen wir als Kraftzentren dar, indem alle Sinneswahrnehmung schließlich aus Widerstands- oder Kraftempfindungen besteht: Unsere Erfahrungen von den Dingen sind in letzter Instanz in Zeichen von Widerständen auflösbar. Materie und Bewegung sind Kraftäußerungen, Raum und Zeit Formen derselben; das Materielle als solches ist nur das Symbol der an sich unbekannten Kraftbetätigung, empirisch besteht es aus Widerständen im Raum. Die Kraft selbst ist konstant und dauernd. Die Bewegung erfolgt stets in der Richtung des geringsten Widerstandes und ist stets rhythmisch. Die Anschauungs- und Denkformen (Kategorien) sind gattungsmäßig erworben, eingeübt und als Disposition vererbt, so daß sie nun als notwendig gelten. S. erklärt sie »als apriorisch für das Individuum, aber als aposteriorisch für die ganze Reihe von Individuen, in der jenes nur das letzte Glied bildet«. Der Raum ist das Abstraktum von allen Gleichzeitigkeiten und hat nur relative Wirklichkeit. Er ist »eine Form, die, weil sie die konstante Größe in sämtlichen in der Erfahrung präsentierten Eindrücken und daher auch in allen im Denken repräsentierten Eindrücken bildet, unabhängig von jedem besonderen Eindruck erscheint«. Ähnliches gilt von der Zeit.
Die Veränderungen in der Natur beruhen auf der Erhaltung der Kraft[689] und Materie im Wechsel der Energieumsetzungen und der Formen, auf einem beständigen Werden, einer perpetuellen Andersverteilung der Materie und Bewegung, wobei anziehende und abstoßende Kräfte ins Spiel treten (mechanisch-dynamische Naturauffassung). Evolution und Dissolution (Auflösung) sind die Grundformen aller Entwicklung. Diese ist überall Übergang von einem aufgelösten in einen konzentrierten, von diesem dann wieder in einen aufgelösten Zustand. Genauer betrachtet, ist sie Integration (Ansammlung. Vereinigung) von Materie mit Dissipation (Zerstreuung, Ausbreitung) der Bewegung, worauf dann eine Absorption der Bewegung mit Disintegration der Materie folgt. Alle Entwicklung ist ferner Übergang von einem homogenen (gleichartigen) in einen heterogenen (ungleichartigen), von einem unbestimmteren zu einem bestimmteren Zustand und zu Differenzierungen, auf welche immer höhere Integrierungen folgen. Das Ziel jedes Entwicklungsprozesses ist ein Zustand des Gleichgewichtes zwischen den Kräften, denen die Teile eines Aggregats ausgesetzt sind, und den Kräften,. die diese Teile ihm entgegensetzen. Die Evolution geht schließlich in Dissolution über, das Aggregat löst sich infolge der Vermehrung der Bewegung in ihm auf (z.B. eine Planetenmasse). Der Rhythmus von Entwicklung und Auflösung ist ein allgemeiner und ewiger; jede der zwei Phasen des Prozesses herrscht bald in diesem, bald in jenem Teil des Raumes und die Bewegung kommt nie zum Stillstand. Alle diese Entwicklungserscheinungen sind streng notwendig und gesetzlich, nichts kann sich ihnen entziehen.
So waltet die Entwicklung auch im Organischen, aus dem sie S. ja erst auf das Anorganische übertragen hat. Infolge der größeren Labilität des Organischen macht sich hier die Differenzierung (mit Arbeitsteilung) und Integrierung besonders bemerkbar. Irgendwelcher »Lebenskraft« u. dgl. bedarf es. nicht, das organische Leben ist rein physikalisch-chemisch zu erklären; das Organische hat sich aus dem Anorganischen entwickelt, ist nur komplizierter als dieses. Das Leben ist beständige Anpassung innerer an äußere Verhältnisse (»correspondence of inner and outer relations«). Es gibt (wie S. schon vor Darwin lehrte) eine Entwicklung höherer Arten aus niederen, und zwar infolge äußerer (Milieu-Veränderungen) und innerer Faktoren (Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen, funktionelle Übung, welche die Struktur verändert,. die dann so vererbt wird, Vererbung direkt erworbener Eigenschaften), durch direkte (passive und aktive) Anpassung.
Auch die Psychologie S.s ist evolutionistisch, zugleich wird hier das biologische Moment stark berücksichtigt. Objektive (physiologische) und subjektive Psychologie sind zu unterscheiden. Was der Geist metaphysisch (als. Substanz) ist, läßt S. dahingestellt. Empirisch ist die Seele nur der Inbegriff von Bewußtseinsvorgängen eines Individuums. Psychisches und Physisches sind die beiden Seiten eines einheitlichen Vorganges, welcher subjektiv als Empfindung, objektiv als Nervenprozeß erscheint, die einander (ohne Wechselwirkung) parallel gehen (Identitätsstandpunkt). Im Ganzen vertritt S. den Standpunkt der (»atomistischen«) Assoziationspsychologie. Das Bewußtsein (welches nicht ohne Veränderung und Unterschiede auftritt), ist eins[690] mit dem psychischen Erleben und besteht aus absolut einfachen Teilen, aus psychischen Atomen (»units of feelings«), Empfindungselementen, die zu Verbindungen zusammentreten. Durch Differenzierung und Integrierung, Anpassung, Vererbung usw. wird im Laufe der individuellen und der Gattungsentwicklung das Seelenleben immer komplizierter, reicher, intensiver, feiner, leistungsfähiger, immer mehr einheitlich zusammenhängend. Das Assoziationsgesetz lautet: »Wenn irgend zwei psychische Zustände in unmittelbarer Aufeinanderfolge auftreten, so wird eine derartige Wirkung hervorgebracht, daß, sobald später der erste Zustand wiederkehrt, eine bestimmte Tendenz wirksam ist, auch den zweiten darauf folgen zu lassen.« Die Empfindungen (»feelings«) sind die psychischen Elemente, die zueinander in Beziehung stehen. Die allgemeinste Empfindung ist die Muskel- oder Widerstandsempfindung. Die Gefühle (der Lust und Unlust) sind Zeichen von Vorgängen, die für den Organismus nützlich oder schädlich sind. Das Seelenleben ist auf seinen untersten Stufen rein triebhaft, automatisch, reflexmäßig. Die Instinkte sind zusammengesetzte Reflextätigkeiten, teilweise mit rudimentärem Bewußtsein; sie sind Produkte wiederholter Assoziationstendenzen von Generationen, eine Art von »organisiertem Gedächtnis«. Der Wille ist aus dem Reflex hervorgegangen, indem der Übergang von der Vorstellung zur Bewegung durch den Gegensatz anderer Bewegungsvorstellungen gehemmt, verzögert wird. Das Denken und Erkennen geht auf die Ähnlichkeiten der Dinge, so daß die Erkenntnis eine Identifikation und Klassifikation ist. Die Erfahrungen vieler Generationen sind in uns zu psycho-physischen Dispositionen geworden.
Mit den Gesetzen der »überorganischen« Entwicklung hat es die Soziologie zu tun, welche S. auf die Biologie, Psychologie und Völkerkunde basiert. Die Gesellschaft wird hier nach Analogie des biologischen Organismus als eine Art Organismus aufgefaßt, welcher wächst, sich differenziert, einheitlich beeinflußt wird, mit Arbeitsteilung, Vererbung, Anpassung, sozialen Organen und Geweben (soziales Ekto-, Ento-, Mesoderm; Ernährungs-, Verteilungs-, Regulierungssystem; dem Ektoderm entspricht z.B. die Klasse der Krieger und Richter, dem Mesoderm die kommerzielle, dem Entoderm die landwirtschaftlich-industrielle Klasse, dem Nervensystem die regierende Klasse). Aber die Gesellschaft weist dem Einzelorganismus gegenüber auch Verschiedenheiten auf; so hat sie besonders kein eigenes Sensorium und Selbstbewußtsein, sondern das Bewußtsein ist auf die Einzelnen verteilt. Ferner ist die soziale Verbindung nicht physischer Art, sondern sie beruht auf Sprache, Schrift u. dgl. Endlich dient die Gesellschaft der Wohlfahrt der Individuen, diese gehen nicht (wie die Zellen des Einzelorganismus) im Ganzen auf. Im Kampfe ums Dasein hat sich die Gesellschaft als etwas für die Individuen Nützliches bewährt. Aus primitiven, homogenen Horden haben sich, besonders im Kampfe mit anderen Horden, Stämme, aus diesen Völker und Staaten gebildet. Der Fortschritt in der sozialen Entwicklung besteht im Übergang vom kriegerischen zum industriellen Zustand und in der wachsenden Freiheit der Individuen, für die der Staat, der sie nicht bevormunden darf, da ist (Individualismus, Liberalismus ; gegen den Sozialismus aller Art). Recht, Eigentum, Sitte usw. werden[691] von S. in ihrer sozialen Bedingtheit untersucht. Die Religion ist aus Ahnenverehrung, aus der Furcht vor den zu versöhnenden Geistern der Toten, besonders der mächtigen Häuptlinge, entstanden.
Biologisch-soziologisch fundiert ist die Ethik S.s. Die Ethik ist die »Wissenschaft vom guten Handeln« und entscheidet, »wie und warum gewisse Handlungen verderblich und gewisse andere wohltätig sind«. Aus den Gesetzen des Lebens und den Lebensbedingungen ist zu bestimmen, welche Arten des Handelns notwendig Glück oder Unglück zu bewirken streben. Gut (im weitesten Sinne) ist alles, was einem Zwecke angemessen ist, im engeren Sinne das Handeln, welches am meisten das Leben fördert (Ethischer Evolutionismus). Gut ist das Handeln, wenn es die größte Summe des Lebens für die Menschen überhaupt erzeugt, im Sinne der Erhaltung der Einzelnen und der Art wirkt und zugleich mehr Lust als Unlust bewirkt (Rationaler Utilitarismus). Die sittlichen Gefühle sind ererbt, sind das Produkt organisierter Erfahrungen vom Nützlichen, jetzt aber angeboren, ursprünglich. Der Zwang der Pflicht (»Kontrolle«) ist so zu einem spontanen Pflichtgefühl geworden. Der Altruismus ist so ursprünglich wie der Egoismus. Die einzelnen Formen des Sittlichen sind relativ, Entwicklungsprodukte.
Das Ästhetische enthält eine Ablösung von der bewußten Aufgabe, dem Leben unmittelbar zu dienen. Die Kunst entspringt dem Spiele, welches als Selbstzweck unmittelbar befriedigt und einem Überschuß an organischer Energie (»overflow of energy«) entspringt, welche nach funktioneller Betätigung verlangt (vgl. Schiller u. a.).
Der Einfluß S.s auf die moderne Philosophie war ein sehr bedeutender, wenn auch nicht sein System als solches ebensoviel Anhang fand. Immerhin gibt es sehr viele Spencerianer, besonders in England und Amerika.
SCHRIFTEN: The Proper Sphere of Government, 1843. – Social Statics, 1850; 2. ed. 1892. – A System of Synthetic Philosophy, 11 Bde., 1862-1896, auch in neuen Auflagen; deutsch von B. Vetter und V. Carus, 1882 ff. (Enthält: First Principles; Principles of Biology; Principles of Psychology; Principles of Sociology, Principles of Ethics). – Descriptive Sociology, 8 Bde., 1837-87. – The Classification of the Sciences, 1864; 3. ed. 1871. – Education, 1861; 23. ed. 1890; deutsch 1874, 1889, 1911. – Recents discussions, 1871. – The Study of Sociology, 1873; 18. ed. 1878; deutsch 1875; 2. A. 1896. – The Man versus the State, 1884. – The Factors of Organic Evolution, 1887. – Essays, 1858-63; 5. ed. 1891 (3 Bde.). – The Inadequacy of Natural Selection, 1893. – A Rejoinder to Prof. Weismann, 1893. – Weismannism, 1894. – Various Fragments, 1897. – Facts and Comments, 1902. – An Autobiography, 1904; deutsch 1905, u. a. – Vgl. F. H. COLLINS, An Epitome of the Synthetic Philosophy, 1889; 5. ed. 1905, auch deutsch. – MICHELET, S.s System der Philos., 1882. – E. GROSSE. H. S.s Lehre von dem Unerkennbaren, 1890. – GAUPP, Die Erkenntnislehre H. S.s, 1890; H. Spencer, 1897; 3. A. – COLLIN, Philosophy of H. Sp., 1897; französisch 1904. – HÄBERLIN, S.s Grundlagen der Philosophie, 1908. – A. HEIDT, Philos, Beiträge aus S.s Autobiographie, 1908.
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