Strauss, David Friedrich

[727] Strauss, David Friedrich, geb. 27. Januar 1808 in Ludwigsburg, studierte seit 1825 in Tübingen Theologie, war kurze Zeit Pfarrvikar, hörte den Winter 1831-32 in Berlin Schleiermacher, wurde 1832 Repetent am theologischen Seminar in Tübingen, schrieb unter Einfluß Hegels »Das Leben Jesu« (1835), was ihm seine Stelle kostete. Nachdem er kurze Zeit Rektoratsverweser am Lyzeum in Ludwigsburg gewesen, ging er 1836 nach Stuttgart. 1839 wurde er zum Professor in Zürich ernannt, aber wegen der Unruhen, die dies hervorrief, gleich pensioniert. Er lebte von nun an als Schriftsteller, war 1848 Württemberger Landtagsabgeordneter, lebte in München, Stuttgart, Darmstadt und anderen Städten und starb 8. Februar 1874 in Ludwigsburg.

S., der von Hegel und Schleiermacher beeinflußt ist, gehört zur Hegelschen »Linken« und vertritt zuletzt einen naturalistischen Pantheismus auf evolutionistischer Grundlage und einiger Neigung zum Materialismus, jedenfalls aber mit Betonung eines strengen Monismus. – In seinem »Leben Jesu«, welche Schrift viel Aufsehen machte, und in der »christlichen Glaubenslehre« (1840-41) kritisiert er die Evangelien bzw. die Dogmen, die er von allem Mystischen, Supranaturalen und allem Wunderglauben reinigen will, um Christus rein menschlich und das Christentum als Idee der Gottmenschheit aufzufassen. »Die Menschheit selbst ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott.« Gott ist keine Person neben oder über anderen Personen, sondern das Unendliche, die Allpersönlichkeit, die sich in den einzelnen Wesen personifiziert, das unendliche Sein und Leben in allem, die der Welt immanente Vernunft. Die Unsterblichkeit liegt nicht im Jenseits, sondern ist die Kraft des Geistes, sich über das Endliche hinweg zur Idee zu erheben.

Die Quintessenz seiner (auch von Feuerbach beeinflußten) Weltanschauung enthält S.s viel gelesene Schrift »Der alte und der neue Glaube« (1872). Die Frage: Sind wir noch Christen? beantwortet er verneinend. Wir glauben nicht mehr an einen jenseitigen Gott usw., sondern an die Einheit von Gott und Welt, Geist und Körper, an die Entwicklung des Höheren aus dem Niederen, an unsere Zugehörigkeit zu dem All, von dem wir uns abhängig fühlen und in dem alles streng kausalgesetzlich zugeht, so daß auch das Zweckmäßige ohne Zweckursachen u. dgl. entsteht. Das Universum ist eine Einheit in der Vielheit, es ist die Allmacht, die Urquelle alles Vernünftigen und Guten; die Welt ist auf die höchste Vernunft angelegt. Das Universum ist als All-Einheit ewig, ein »unendlicher Inbegriff von Welten in allen Stadien des Werdens[727] und Vergehens, und eben in diesem ewigen Kreislauf und Wechsel es selbst, in ewig gleicher absoluter Lebensfülle sich erhaltend«. Für dieses Universum fordert S. »dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott«. »Unser Gefühl für das All reagiert, wenn es verletzt wird, geradezu religiös.« An Stelle des alten Kultus tritt die Pflege der Kunst. Die Seele ist keine Substanz, sondern ein und dasselbe Wesen ist zugleich ausgedehnt und denkend. Im Gehirn wird Bewegung in Empfindung verwandelt und diese setzt sich in Körperbewegung um. Materialismus und Idealismus gehen ineinander über und bilden den »Monismus«, welcher die »Gesamtheit der Erscheinungen aus einem einzigen Prinzip« zu erklären sucht.

Das Ergebnis des irdischen Geschehens ist »teils die möglichst reiche Lebensentfaltung und Lebensbewegung im Allgemeinen, teils insbesondere die ringende, aufsteigende und mit ihrem Aufsteigen selbst über den einzelnen Niedergang übergreifende Richtung dieser Bewegung«. Der Mensch ist »aus den Tiefen der Natur emporgestiegen«. Seine moralischen Eigenschaften konnten sich nur in der Gesellschaft entwickeln, deren Bedürfnisse den sittlichen Normen zugrunde liegen. Alles sittliche Handeln ist »ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung«. Förderung der Menschlichkeit in sich selbst und bei anderen ist Pflicht. »Vergiß in keinem Augenblick, daß du Mensch und kein bloßes Naturwesen bist; in keinem Augenblick, daß alle anderen gleichfalls Menschen, d.h., bei aller individuellen Verschiedenheit, dasselbe was du, mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen wie du sind – das ist der Inbegriff aller Moral.« Der Mensch soll die Natur außer und in ihm beherrschen.

Schriften: Das Leben Jesu, 1835-36, 1838, 1840 u.ö. (z.B. 1895). – Streitschriften, 1837-38. – Zwei friedliche Blätter, 1839. – Charakteristiken und Kritiken, 1839, 2. A. 1844. – Die christliche Glaubenslehre, 1840-41. – Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren oder Julian der Abtrünnige, 1847. – Chr. Märklin, 1851. – Ulrich von Hutten, 1858-60; 2. A. 1871. – H. S. Reimarus, 1842. – Kleine Schriften, 1862-67. – Neue Bearbeitung des Lebens Jesu, 1864. – Die Halben und. die Ganzen, 1865. – Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, 1865. – Voltaire, 1870. – Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis, 1872; 15. A. 1903; auch in Kröners Verlag. – Ein Nachwort, 1873. – Gesammelte Schriften, 12 Bde., 1876-81. – Werke, 5 Bde., 1895. – Ausgewählte Briefe, hrsg. von E. Zeller, 1895. – Vgl. ZELLER, D. F. S., 1874. – A. HAUSRATH, D. F. S. und die Theologie seiner Zeit, 1876-78 – KOHUT, S. als Denker und Erzieher, 1908. – TH. ZIEGLER, D. F. S., 1908 f. – A. LÉVY, D. F. S., la vie et l'oeuvre, 1909. – H. MAIER, in: Bericht über den III. intern. Kongr. f. Philos., 1909.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 727-728.
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