Thomasius, Christian

[756] Thomasius, Christian, geb. 1655 in Leipzig als Sohn des Jakob Th., studierte Jurisprudenz und Philosophie, seit 1681 Dozent in Leipzig, 1690 (bzw. 1694) Prof. in Halle, gest. 1728 daselbst.

T., der, wegen des Freimuts, mit dem er gegen den Aberglauben (Hexenwesen) und für die Freiheit der Wissenschaft und des Glaubens eintrat, viele Anfeindungen erlitt, und der zuerst Vorlesungen in deutscher Sprache hielt, wie er zum Teil auch deutsch schrieb (er gab die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache heraus), gehört zu den Vorläufern der Aufklärung. Er trennt die Philosophie scharf von der Theologie und bekämpft die aristotelisch-scholastische Methode. Während die Theologie auf der Offenbarung beruht und der ewigen Seligkeit dient, hat die Philosophie ihren Ursprung im Lichte der Vernunft und dient der irdischen Wohlfahrt des Menschengeschlechts (»philosophia intellectualis instrumentalis ex lumine rationis Deum, creaturas et actiones hominum naturales et morales considerans et in earum causas inquirens, in utilitatem generis humani«). Die Logik bedarf einer Reform. Das Denken ist eine innere Rede, eine Art Selbstgespräch; als Tätigkeit ist es ein Unterscheiden und Ordnen der Empfindungen. Die gesunde Vernunft (»sensus communis«) ist das Kriterium der Wahrheit. Alle Erkenntnis beruht auf der Wahrnehmung. Wir erkennen unmittelbar nur die Wirkungen der Substanzen, nicht diese selbst. Es gibt aber außer den körperlichen auch geistige Substanzen (Seelen, Naturgeister), an deren Spitze Gott steht. Die Materie besteht nicht ohne Kräfte, ist uns nur in diesen gegeben. Der Wille ist ein verstandesmäßiges Streben und ist psychologisch determiniert.

In seiner praktischen Philosophie ist Th. von Grotius, Pufendorf u.a. beeinflußt. Die Jurisprudenz ist von der Theologie unabhängig zu gestalten, auch Recht und Moral sind unterschieden. Das Endziel des menschlichen Handelns ist die Glückseligkeit, der auch die Ethik dient. Das Prinzip der Sittlichkeit (des »honestum«) besteht in der Forderung: Tue dir selbst das, wovon du wünscht, daß andere es sich selbst tun, weil du es an ihnen löblich findest. Dazu[756] kommen das Prinzip der Gerechtigkeit (des »iustum«) und das der Anständigkeit (des »decorum«) als Postulate des Naturrechts und der Politik. Das Recht ist teils Naturrecht, teils positives Recht. Ersteres entspringt (nach der früheren Anschauung des Th.) aus Gottes Willen (»legum omnium fons est voluntas divina«); es ist unveränderlich, wie der Geselligkeitstrieb des Menschen, dem es dient. Das Recht ist eine Bedingung des sozialen Lebens und der Glückseligkeit des Menschen. Das Naturrecht hat Gott dem Menschen ins Herz geschrieben; es ist bedürfnisgemäß und es ist durch die Vernunft zu finden. Der Staat hat bloß Recht und Frieden zu wahren, nicht aber das Gewissen zu bevormunden.

Schriften: Institutiones iurisprudentiae, 1688. – Introductio ad philosophiam aulicam, 1688, 1702. – Einleit. zur Vernunftlehre, 1691. – Einleit. in die Sittenlehre, 1692. – Historie der Weisheit und Torheit, 1693. – Ausübung der Sittenlehre, 1696. – Versuch vom Wesen des menschlichen Geistes, 1699. – Introductio in philos. rationalem, 1701. – Ausübung der Vernunftlehre, 1710. – Fundamenta iuris naturae et gentium ex sensu communi deducta, 1705. – Kleine deutsche Schriften, 1894. – Vgl. FÜLLEBORN, Beiträge zur Gesch. d. Philos., 1791-99, IV. – LUDEN, Chr. Th., 1805. – NICOLADONI, Chr. Th., 1888. – R. KAYSER, Chr. Th. u. der Pietismus, 1900.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 756-757.
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