[559] In der Ministersitzung vom 26. Januar entwickelte ich noch einmal die Gefährlichkeit der beabsichtigten Kaiserlichen Erlasse, begegnete aber bei Boetticher und Verdy dem Einwande, ein ablehnendes Votum würde dem Kaiser mißfallen. Meine Collegen hatten ein sacrificium intellectus dem Kaiser, mein Stellvertreter und Adlatus hatte mir gegenüber eine Unehrlichkeit begangen. Vergebens ging ich so weit, es als einen Uebergang zum Landesverrath, zu bezeichnen, wenn verantwortliche Minister den Souverän auf Wegen fänden, die sie für staatsgefährlich hielten, und das nicht offen sagten, sondern das verfassungsmäßige Verhältniß umkehrten in ein vom Kaiser berathenes Staatsministerium. Diese meine Ausführung wurde von Herrn von Boetticher unter Zustimmung des Kriegsministers mit einfacher Wiederholung des Satzes bekämpft, wir müßten doch dem Kaiser etwas nach seinem Wunsche zurecht machen. Da die übrigen Collegen sich enthielten, an der Discussion zwischen Boetticher und mir Theil zu nehmen, so mußte ich die Hoffnung aufgeben, den nach meiner Ueberzeugung staatsgefährlichen Anregungen Sr. M. ein einstimmiges Votum entgegenzusetzen. Ich hatte darauf gerechnet, daß das Staatsministerium sich ebenso verhalten würde, wie es geschehen war, wenn der Großvater des Kaisers durch weibliche, maurerische oder andere Einflüsse[559] auf schädliche Wege gebracht war. In solchen Fällen mußte darauf ausgegangen werden, Einstimmigkeit der Minister herzustellen, wenn auch vorher starke Meinungsverschiedenheiten unter ihnen bestanden hatten, und der alte Herr gab nach, wenn er keine Stimmen für sich gewinnen konnte. Ich erinnere mich nur einer Ausnahme. Nachdem der Frankfurter Friedensvertrag am 18. Mai 1871 von der französischen Nationalversammlung genehmigt war, konnten unsere Truppen bis auf einen zur Besetzung der pfandweise occupirten Departements ausreichenden Theil zurückgerufen werden. Die Minister waren darüber einig, dies sofort zu thun, alle Mannschaften, die nicht bei der Fahne zu bleiben hatten, zu entlassen und den Einzug der in Berlin garnisonirenden Regimenter auf den nächsten möglichen Termin, jedenfalls noch im Mai, anzuberaumen. Damit stießen wir aber bei Sr. M. auf einen hartnäckigen Widerstand. Die Kaiserin Augusta wollte, wie ich erfahren hatte, dem Einzuge beiwohnen, aber vorher ihre Kur in Baden-Baden abmachen; der Kaiser wollte den Wunsch seiner Gemahlin erfüllen, aber auch die Regimenter in voller Kriegsstärke einziehen sehen. Vergebens machten wir in mehrtägigen Berathungen, welche im Erdgeschoß des Palais abgehalten wurden, den Kostenaufwand geltend, die Rücksicht auf die so lange von ihren Familien und Geschäften getrennten Leute, das dringende Bedürfniß, der Landwirtschaft so viele Arme zurück zu geben. Der Kaiser, der den eigentlichen Grund seines Widerstandes dem Ministerrathe nicht eingestehen mochte, hatte es schwer, gegen unsere Argumente anzukämpfen, blieb aber fest dabei, der Einzug solle in der Mitte des Juni und in voller Kriegsstärke vor sich gehen. Während der Berathungen kam es vor, daß in den Räumen über dem Berathungszimmer jemand mit so starken Schritten hin und her ging, daß der Kronleuchter in eine klirrende Bewegung gerieth. Nach der letzten resultatlosen Berathung suchte Lauer, der Leibarzt des Kaisers, mich auf, um mir zu sagen, daß er die gefährlichsten Folgen für die Gesundheit Sr. M., vielleicht einen Schlagfluß befürchten müsse, wenn nicht der Hausfriede hergestellt werde. Auf diese Mittheilung gab das Staatsministerium nach; der Einzug erfolgte erst am 16. Juni, unter den Augen Ihrer Majestät.
Für den nun eingetretenen Fall, daß das Staatsministerium versagte, hatte ich erwogen, durch welche andern Faktoren sich vielleicht auf den Kaiser wirken lassen würde. Als solche erschienen der Staatsrath, der Volkswirtschaftsrath, denen ich ein Verständniß für die Rückwirkung auf die unmittelbar bevorstehenden Reichstagswahlen[560] zutrauen durfte, und die Regierungen des Auslandes, welche von dem parteinehmenden Eingreifen des Kaisers in die Arbeiterverhältnisse analoge Schäden erwarten konnten, wie ich sie bei uns befürchtete. Mein Vorschlag, den ich in derselben Sitzung des 26. machte, den Staatsrath und eine internationale Conferenz zu berufen, um in der Erörterung sachverständiger Männer ein Gegengewicht gegen unverantwortliche und unwissende Dilettanten zu schaffen, fand Zustimmung.
Die Redaction der entsprechenden Erlasse nahm ich selbst in die Hand. Die genannte Kamarilla war der Meinung gewesen, daß eine Kundgebung, wie der Kaiser sie wollte, einen günstigen Einfluß auf die Reichstagswahlen haben werde. Ich war von dem Gegentheil überzeugt, allerdings ohne vorherzusehen, in wie großem Maße mir der Ausfall der Wahlen am 20. Februar Recht geben würde. Ich hatte auf Grund der Erfahrung das taktische Bedenken, daß es in einer Situation, wie sie durch die Streiks des Vorjahres vorbereitet war, eine gefährliche Sache ist, Maßregeln von unbestimmter und unberechneter Tragweite in promissorischer Form anzuregen; ich war überzeugt, daß die Verlogenheit und Entstellungskraft der Wahlreden niemals eine wirkliche Absicht der Regierung, sondern immer nur Vorwand und Mißdeutung behufs aufregender Kritik des Bestehenden in den Vordergrund stellen würden. Kundgebungen von einschneidender Natur vor den Wahlen können auf diese günstig einwirken, wenn sie von unzweideutigen Thatsachen ausgehen, die für Entstellung keinen Anhalt geben, zum Beispiel von auswärtigen Angriffen oder Bedrohungen, oder von Attentaten wie das Nobiling'sche. Für eine Kundgebung wie die beabsichtigte fürchtete ich nicht gerade die unmittelbare und directe Kritik, wenn sie sachlich richtig verstanden wurde, wohl aber die geschickte Ausnutzung durch die staatsfeindlichen Agitatoren. Ich war deshalb nicht ohne Sorge in Betreff der Wirkung der vom Kaiser gewollten Erlasse, legte aber mehr Gewicht auf die persönliche Belehrung des Kaisers. In der Ueberzeugung, die mich seit 40 Jahren in der preußischen und deutschen Politik geleitet hat, sah ich meine Aufgabe mehr darin, den Kaiser vor Eindrücken und Schritten zu bewahren, welche zu einer rückläufigen Bewegung der von mir seit 1862 mit Erfolg betriebenen Stärkung der Königlichen Gewalt und Befestigung des Reiches führen mußten, als darin, augenblickliche Wahlergebnisse zu gewinnen.
Volksvertretungen hatte ich seit 40 Jahren viele kommen und gehen sehen und hielt sie für weniger schädlich für unsre Gesammtentwicklung,[561] als monarchische Irrthümer es werden konnten, wie sie nicht vorgekommen waren, seit im Jahre 1858 der Prinz Regent die Wege der Neuen Aera eingeschlagen hatte. Auch damals war es das ehrliche Bedürfniß des Regierenden, seinen Unterthanen Wohlthaten zu erweisen, welche man ihnen seiner Meinung nach lediglich aus mißverständlichem Eifer und ungerechter Herrschsucht vorenthalten hatte. Auch damals lag der Fall vor, daß eine Coterie von ehrgeizigen Strebern, die in der Aera Manteuffel nichts erreicht hatten, die Partei Bethmann-Hollweg, sich an den Thronerben gemacht und bei demselben das Mißverständniß zwischen edlen Intentionen und mangelhafter Kenntniß des praktischen Lebens ausgebeutet hatte, um ihn gegen die Regierung seines Bruders zu verstimmen und ihm Opposition gegen dieselbe als Vertretung der Menschenrechte erscheinen zu lassen.
Um die Ungeduld des Kaisers einigermaßen zu befriedigen, gab ich den betreffenden beiden Entwürfen, an den Reichskanzler und an den Handelsminister, eine seinem Charakter und seinem Verlangen nach schwunghaftem Ausdruck entsprechende Fassung. Bei Vorlegung derselben erklärte ich, daß ich sie lediglich aus Gehorsam gegen seinen Befehl gemacht und dringend bäte, von Veröffentlichungen der Art Abstand zu nehmen, den Zeitpunkt abzuwarten, wann dem Reichstage formulierte, präcisirte Vorlagen gemacht werden könnten, jedenfalls die Wahlen vorüber gehen zu lassen, ehe die Arbeiterfrage von ihm öffentlich berührt werde. Die Unbestimmtheit und Allgemeinheit der Kaiserlichen Anregung werde Erwartungen hervor rufen, deren Befriedigung außerhalb der Möglichkeit läge, deren Nichterfüllung die Schwierigkeit der Situation steigern werde. Ich hätte das Bedürfnis, wenn S.M. nach Monaten oder Wochen selbst zur Erkenntniß der Schäden und Gefahren, die ich befürchtete, gelangt sein würde, daran erinnern zu können, daß ich den ganzen Schritt auf das bestimmteste widerrathen und die Ausarbeitung nur aus pflichtmäßigem Gehorsam eines noch im Dienste befindlichen Beamten geliefert hätte. Ich schloß mit der Bitte, die vorgelesenen Entwürfe in das gerade brennende Kaminfeuer werfen zu dürfen. Der Kaiser antwortete: »Nein nein, geben Sie her!« und unterzeichnete mit einiger Hast die beiden Erlasse, die unter dem 4. Januar ohne Gegenzeichnung im »Reichs- und Staats-Anzeiger« veröffentlicht sind:
»Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten,[562] welche Meiner Fürsorge durch die Nothwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkte concurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimischen Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch ihre Arbeiter brodlos machen. Die in der internationalen Concurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes betheiligten Länder, wenn nicht überwinden, doch abschwächen. In der Ueberzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen, will Ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch Meine dortigen Vertreter amtlich angefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind, mit uns in Unterhandlungen zu treten behufs einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegen zu kommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zu Tage getreten sind. Sobald die Zustimmung zu Meiner Anregung im Prinzip gewonnen sein wird, beauftrage Ich Sie, die Kabinette aller Regierungen, welche an der Arbeiterfrage den gleichen Antheil nehmen, zu einer Konferenz behufs Berathung über die einschlägigen Fragen einzuladen.
Wilhelm I.R.«
An
den Reichskanzler.
»Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Entschluß kund gegeben, die fernere Entwicklung Unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater Sich der Fürsorge für den wirthschaftlich schwächeren Theil des Volkes im Geiste christlicher Sittenlehre angenommen hat. So werthvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bisher getroffenen Maßnahmen sind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze Mir gestellte Aufgabe. Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter[563] einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiet laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden. Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Aufgaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirthschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten betheiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und den Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den Letzteren Fühlung zu behalten. Die staatlichen Bergwerke wünsche Ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privat-Bergbau erstrebe Ich die Herstellung eines organischen Verhältnisses Meiner Bergbeamten zu den Betrieben behufs einer der Stellung der Fabrikinspectionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat. Zur Vorbereitung dieser Fragen will Ich, daß der Staatsrath unter Meinem Vorsitze und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche Ich dazu berufen werde. Die Auswahl der Letzteren behalte Ich Meiner Bestimmung vor. Unter den Schwierigkeiten, welche der Ordnung der Arbeiterverhältnisse in dem von Mir beabsichtigten Sinne entgegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Nothwendigkeit der Schonung der einheimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Auslande sich ergeben, eine hervorragende Stelle ein. Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unsrigen den Weltmarkt beherrscht, den Zusammentritt einer Konferenz anzuregen, um die Herbeiführung gleichmäßiger internationaler Regelung der Grenzen für die Anforderungen anzustreben, welche an die Thätigkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird Ihnen Abschrift Meines an ihn gerichteten Erlasses mittheilen.
Wilhelm R.«
[564]
An
die Minister der öffentlichen Arbeiten
und für Handel und Gewerbe.
Wenn ich, wie ich einsah, das persönliche Vorhaben des hohen Herrn nicht an der Wurzel abschneiden konnte, so war ich schon zufrieden, gewissermaßen subrepticie seine Zustimmung zur Heranziehung des Staatsraths und der Nachbar-Regierungen erlangt zu haben. Aber in der Rechnung auf diese Faktoren hatte ich mich getäuscht.
Indem ich an die zwingende Kraft der materiellen Interessen im Staatsrath und in der internationalen Konferenz geglaubt, hatte ich Selbständigkeit und Ueberzeugungstreue der Leute überschätzt. Im Staatsrath war das servile Element verstärkt durch Berufung einer Anzahl bisher unbekannter Persönlichkeiten, die theils aus dem Arbeiterstande, theils den Berliner Industriellen entnommen waren und Reden hielten, die sie wohl schon oft gehalten hatten. Auch ein agitirender Kaplan war anwesend. Alle Beamte schwiegen abwartend. Baare, Hüttenbesitzer aus Bochum, und Jencke, Vertrauensmann von Krupp in Essen, die einzigen, die es wagten, die Intentionen des Kaisers vorsichtig zu kritisiren, waren eingeschüchtert durch die Erinnerung an theils wirklich gesprochene, theils erfundene Kaiserliche Worte, Drohungen gegen die Unternehmer, und durch die Furcht, sich den Kaiser noch mehr zu entfremden und weitere Bedrohungen der Besitzenden und Arbeitgeber herbei zu führen. Die höfliche Schüchternheit der Vertreter der Besonnenheit im Vergleich mit der Unverfrorenheit gewohnheitsmäßiger Volksredner, die der Kaiser zugezogen hatte, ließ erkennen, daß von den Staatsrathssitzungen ein unbefangenes Wirken auf S.M. nicht zu erwarten war. Der Kaiser hatte bestimmt, daß die Sitzungen in den Diensträumen des Herrn von Boetticher Statt finden sollten, dem auch die Auswahl und Berufung der Personen aus dem Arbeiterstande zufiel. Als Vizepräsident des Staatsraths wohnte ich aus eigenem Entschluß der ersten, vierstündigen Sitzung bei, ohne in der Discussion das Wort zu ergreifen. Als der Kaiser zur Abstimmung schreiten wollte über die muthmaßlich von Boetticher formulirten Fragen, sah ich mich unter 40 oder 50 Personen allein mit Jencke und Baare. Da ich mich in meiner ministeriellen Stellung nicht in manifeste Opposition mit dem Kaiser setzen wollte, erklärte ich zur Motivirung meiner Enthaltung, daß active Staatsminister überhaupt nicht in der Lage wären, im[565] Staatsrathe abzustimmen und dadurch ihrem Votum im Staatsministerium zu präjudiciren. Der Kaiser befahl, diese meine Aeußerung zu Protokoll zu nehmen.
Von den folgenden Staatsrathssitzungen hielt ich mich fern, nachdem ich im Zwiegespräch mit dem Kaiser constatirt hatte, daß ich damit seinen Wunsch erfüllte.
Auch die am 15. März eröffnete internationale Konferenz, mit deren Erwähnung ich nur ein Weniges in der Zeit vorgreife, entsprach nicht meiner Erwartung. Ich hatte die Berufung vorgeschlagen, weil ich annahm, der Glaube Sr. M. an die Nützlichkeit, Gerechtigkeit und Popularität seiner Bestrebungen sei durch die vier intellectuellen Urheber derselben so befestigt worden, daß seine Bereitwilligkeit, überhaupt noch andere Sachkundige zu hören, nur zu erlangen sei, wenn die Berathungen im Glanze einer von ihm berufenen europäischen Konferenz und einer öffentlichen Diskussion im Staatsrathe vor sich gingen.
Ich hatte dabei auf eine ehrlichere Prüfung der deutschen Vorschläge, wenigstens von Seiten der Engländer und Franzosen gerechnet, indem ich die bei unsern westlichen Concurrenten als wirksam vorauszusetzenden Tendenzen nicht richtig gegen einander abwog. Ich setzte bei ihnen mehr Ehrlichkeit und mehr Humanität voraus, als vorhanden war; ich nahm an, daß sie entweder den utopischen Theil der Kaiserlichen Anregungen vom praktischen Standpunkte ablehnen oder auf die Forderung gleichartiger Einrichtungen in den betheiligten Ländern eingehen würden, sodaß die Arbeiter gleichmäßig besser zu behandeln und die Productionskosten gleichmäßig zu vertheuern wären; die erstere Alternative war mir wegen der Schwierigkeit der Ausführung und der Kontrolle der zweiten die wahrscheinliche. Aber ich hatte nicht darauf gerechnet, daß unsere Vertreter dem Banne der Jules Simon'schen Phrasen so vollständig verfallen würden, daß nicht einmal ein für den Kaiser brauchbares Argument gewonnen wurde, sondern nur die Gewißheit, daß die Nachbarn uns unsere Illusionen gönnten, sie pflegten und sich hüteten, die deutsche Gesetzgebung zu hindern, wenn sie auf dem Wege war, ihrer einheimischen Industrie und ihren Arbeitern Unbequemlichkeiten zu bereiten. Sie regelten ihr Verhalten nach demselben Grundsatze, welchen alle die von mir Jahrzehnte lang als Reichsfeinde bekämpften Elemente heute befolgen: es sei nicht ihre Sache, die Kaiserliche Regierung auf dem Wege zur Selbstbeschädigung aufzuhalten.
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken und Erinnerungen
|
Buchempfehlung
Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.
50 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro