I

[483] Um die Mitte der siebziger Jahre begann die geistige Empfänglichkeit des Kaisers im Auffassen andrer und Entwickeln eigner Vorträge schwerfälliger zu functioniren; er verlor zuweilen den Faden im Zuhören und Sprechen. Merkwürdigerweise trat darin nach dem Nobiling'schen Attentate eine günstige Veränderung ein. Momente wie die beschriebenen kamen nicht mehr vor, der Kaiser war freier, lebendiger, auch weicher. Der Ausdruck meiner Freude über sein Wohlbefinden veranlaßte ihn zu dem Scherze: »Nobiling hat besser gewußt was mir fehlte als die Aerzte: ein tüchtiger Aderlaß«. Die letzte Krankheit war kurz, begann am 4. März. Am 8. Mittags hatte ich die letzte Unterredung mit dem Kaiser, in der er noch bei Bewußtsein war, und erlangte von ihm die Ermächtigung zur Veröffentlichung der schon am 17. November 1887 vollzogenen[483] Ordre, welche den Prinzen Wilhelm mit der Stellvertretung beauftragte in Fällen, wo Se. Majestät einer solchen zu bedürfen glauben würde. Der Kaiser sagte, er erwarte von mir, daß ich in meiner Stellung verbleiben und seinen Nachfolgern zur Seite stehen würde, wobei ihm zunächst die Besorgniß vorzuschweben schien, daß ich mich mit dem Kaiser Friedrich nicht würde stellen können. Ich sprach mich beruhigend darüber aus, so weit es überhaupt angebracht schien, einem Sterbenden gegenüber von dem zu sprechen, was seine Nachfolger und ich selbst nach seinem Tode thun würden. Dann, an die Krankheit seines Sohnes denkend, verlangte er von mir das Versprechen, meine Erfahrung seinem Enkel zu Gute kommen zu lassen und ihm zur Seite zu bleiben, wenn er, wie es schiene, bald zur Regierung gelangen sollte. Ich gab meiner Bereitwilligkeit Ausdruck, seinen Nachfolgern mit demselben Eifer zu dienen wie ihm selbst. Seine einzige Antwort darauf war ein etwas fühlbarerer Druck seiner Hand; dann aber traten Fieberphantasien ein, in denen die Beschäftigung mit dem Enkel so im Vordergrund stand, daß er glaubte, der Prinz, der im September 1886 dem Zaren in Brest-Litowsk einen Besuch gemacht hatte, säße an meiner Stelle neben dem Bette, und mich plötzlich mit Du anredend sagte: »Mit dem russischen Kaiser mußt du immer Fühlung halten, da ist kein Streit nothwendig«. Nach einer langen Pause des Schweigens war die Sinnestäuschung verschwunden; er entließ mich mit den Worten: »Ich sehe Sie noch.« Gesehen hat er mich noch, als ich mich am Nachmittage und dann wieder in der Nacht um 4 Uhr einfand, aber schwerlich unter den vielen Anwesenden erkannt; noch in später Abendstunde fand eine Rückkehr der vollen Klarheit des Bewußtseins und der Fähigkeit statt, sich den sein Sterbebett in dem engen Schlafzimmer Umstehenden gegenüber klar und zusammenhängend auszusprechen. Es war das letzte Aufleuchten dieses starken und tapfern Geistes. Um 8 Uhr 30 Minuten that er den letzten Athemzug.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 483-484.
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