[207] Die Königliche Autorität hatte bei uns unter dem Mangel an Selbstständigkeit und Energie unsrer auswärtigen und namentlich unsrer deutschen Politik gelitten; in demselben Boden wurzelte die Ungerechtigkeit der bürgerlichen Meinung über die Armee und deren Offiziere und die Abneigung gegen militärische Vorlagen und Ausgaben. In den parlamentarischen Fraktionen fand der Ehrgeiz der Führer, Redner und Minister-Candidaten Nahrung und Deckung hinter der nationalen Verstimmung. Klare Ziele hatten unsrer Politik seit dem Tode Friedrichs des Großen entweder gefehlt, oder sie waren ungeschickt gewählt oder betrieben; letzteres von 1786 bis 1806, wo unsre Politik planlos begann und traurig endete. Man entdeckt in ihr bis zum vollen Ausbruch der französischen Revolution keine Andeutung einer national-deutschen Richtung. Die ersten Spuren einer solchen, die sich im Fürstenbunde, in den Ideen von einem preußischen Kaiserthum, in der Demarkationslinie, in der Erwerbung deutscher Landstriche finden, sind Ergebnisse nicht nationaler, sondern pfeußisch-particularistischer Bestrebungen. Im Jahr 1788 lag das stärkere Interesse noch nicht auf deutsch-nationalem Gebiete, sondern in dem Gedanken polnischer territorialer Erwerbungen, und bis in den Krieg von 1792 hinein war das Mißtrauen zwischen Preußen und Oesterreich weniger durch deutsche als durch polnische Rivalität beider Mächte genährt. In den Händeln der Thugut-Lehrbach'schen Periode spielte der Streit um den Besitz polnischer Gebiete, namentlich Krakaus, eine mehr in die Augen fallende Rolle als der in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Vordergrunde stehende Streit um die Hegemonie in Deutschland.
Die Frage der Nationalität stand damals mehr im Hintergrunde; der preußische Staat eignete sich neue polnische Unterthanen mit gleicher, wenn nicht mit größerer Bereitwilligkeit wie deutsche an, wenn es nur Unterthanen waren, und auch Oesterreich trug kein Bedenken, die Erfolge der gemeinsamen Kriegführung gegen Frankreich in Frage zu stellen, sobald es befürchten mußte, daß ihm zur Wahrnehmung seiner polnischen Interessen die nöthigen Streitkräfte Preußen gegenüber fehlen würden, wenn es sie an der französischen Grenze verwenden wollte. Es ist schwer zu sagen, ob[207] die damalige Situation nach Maßgabe der Ansichten und Fähigkeiten der in Oesterreich und Rußland leitenden Persönlichkeiten der preußischen Politik die Möglichkeit bot, nützlichere Wege einzuschlagen als den des Veto gegen die Orientpolitik seiner beiden östlichen Nachbarn, wie in der Convention von Reichenbach, 10. Dezember, geschah. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieses Veto ein Act unfruchtbaren Selbstgefühls nach Art des französischen prestige war, in welchem die von Friedrich dem Großen geerbte Autorität zwecklos verpufft wurde, ohne daß Preußen einen andern Vortheil von dieser Kraftleistung gehabt hätte als den einer befriedigten Eitelkeit über Bethätigung seiner großmächtlichen Stellung den beiden Kaisermächten gegenüber, show of power.
Wenn Oesterreich und Rußland im Orient Beschäftigung fanden, so hätte es, möchte ich glauben, im Interesse ihres damals weniger mächtigen Nachbarn gelegen, sie darin nicht zu stören, sondern beide in der Richtung ihrer orientalischen Bestrebungen eher zu fördern und zu befestigen und ihren Druck auf unsre Grenzen dadurch abzuschwächen. Preußen war nach seinen militärischen Einrichtungen damals schneller schlagfertig als seine Nachbarn und hätte diese Schlagfertigkeit wie bei manchen späteren Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es sich verfrühter Parteinahme enthalten und seiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche entsprechend sich lieber en vedette gestellt hätte, anstatt sich das prestige des Richteramtes zwischen Oesterreich, Rußland und der Pforte beizulegen.
Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der Ziellosigkeit und Unentschlossenheit gelegen, womit an die Benutzung und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürst und Friedrich der Große hatten klare Vorstellungen von der Schädlichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es sich um Parteinahme oder um Androhung derselben handelte. So lange Preußen nicht zu einem der deutschen Nationalität annähernd entsprechenden Staatsgebilde gelangt war, so lange es nicht nach dem Ausdruck, dessen sich der Fürst Metternich mir gegenüber bediente, zu den »saturirten« Staaten gehörte, mußte es seine Politik mit dem angeführten Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat aber eine vedette eine Existenzberechtigung nur mit einer schlagfertigen Truppe hinter sich; ohne eine solche und ohne den Entschluß, sie activ zu verwenden, sei es für, sei es gegen eine der streitenden Parteien, konnte die preußische Politik von dem Einwerfen ihres europäischen Gewichtes bei Gelegenheiten wie die[208] von Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in Deutschland, sondern nur die Verstimmung und das Mißtrauen seiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heute erkennt man in geschichtlichen Urtheilen chauvinistischer Landsleute die Genugthuung, mit welcher die schiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußische Selbstgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianischer Politik, von welchem an der Abstieg und das Sinken durch die Pillnitzer Verhandlungen, den Basler Frieden, bis nach Tilsit erfolgte.
Wenn ich Minister Friedrich Wilhelms II. gewesen wäre, so würde ich eher dazu gerathen haben, den Ehrgeiz Oesterreichs und Rußlands in der Richtung auf den Orient zu unterstützen, aber als Kaufpreis dafür materielle Conzessionen zu verlangen, sei es auch nur auf dem Gebiet der polnischen Frage, an welcher man damals Geschmack fand, und mit Recht, so lange man Danzig und Thorn nicht besaß und an die deutsche Frage noch nicht dachte. An der Spitze von 100000 oder mehr schlagfertigen Soldaten mit der Drohung, dieselben nötigenfalls in Tätigkeit zu setzen und den Krieg gegen Frankreich Oesterreich allein zu überlassen, würde die preußische Politik in der damaligen Situation immer Besseres haben erreichen können als den diplomatischen Triumph von Reichenbach.
Man findet, daß die Geschichte des Hauses Oesterreich seit Karl V. eine Reihe versäumter Gelegenheiten zeigt, für welche man in den meisten Fällen die jedesmaligen Beichtväter der regierenden Herrn verantwortlich machte; aber die Geschichte Preußens, allein innerhalb der letzten 100 Jahre, ist nicht weniger reich an solchen Versäumnissen. Wenn die Gelegenheit zur Zeit der Reichenbacher Convention, richtig benutzt, keinen befriedigenden, aber doch immer einen Fortschritt in der Laufbahn Preußens gebracht haben könnte, so war eine Evolution in größerem Stile schon 1805 möglich, wo die preußische Politik besser militärisch als diplomatisch gegen Frankreich, für Oesterreich und Rußland hätte eingesetzt werden können, aber nicht gratis. Die Bedingungen, unter denen man den Beistand leisten oder geleistet haben sollte, konnte nicht ein Minister wie Haugwitz, sondern nur ein Feldherr an der Spitze von 150000 Mann in Böhmen oder Bayern durchsetzen. Was 1806 post festem geschah, konnte 1805 von entscheidender Wirkung sein. Was in Oesterreich die Beichtväter, das haben in Preußen Cabinetsräthe und ehrliche, aber beschränkte General-Adjutanten an versäumten Gelegenheiten zu Stande gebracht.
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