IV

[213] Die versäumten Gelegenheiten, welche in die beiden Zeiträume von 1786 bis 1806 und von 1842 bis 1862 fallen, sind den Zeitgenossen nur selten verständlich geworden, noch seltener ist die Verantwortlichkeit dafür sofort richtig vertheilt worden. Erst die Ausschüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder und Mitwissender setzten 50 bis 100 Jahre später die öffentliche Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτονψεῦδος, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen. Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und von Glauben an die preußische Politik und Macht. Seine Erben konnten, wie heut der neue Curs von der Erbschaft des alten, zwei Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne sich über die Schwächen und Irrthümer ihrer Epigonenwirthschaft klar zu werden; noch in die Schlacht von Jena hinein trugen sie sich mit der Ueberschätzung des eignen militärischen und politischen Könnens. Erst der Zusammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk zu dem Bewußtsein, daß Ungeschick und Irrthum in der Staatsleitung obgewaltet hatten. Wessen Ungeschick und wessen Irrthum aber, wer persönlich die Verantwortung für diesen gewaltigen und unerwarteten Zusammenbruch trug, darüber kann selbst heut noch gestritten werden.

In einer absoluten Monarchie, und Preußen war damals eine[213] solche, hat an der Verantwortlichkeit für die Politik außer dem Souverän Niemand einen genau nachweislichen Antheil; faßt oder genehmigt derselbe verhängnisvolle Beschlüsse, so kann Niemand beurtheilen, ob dieselben das Ergebniß eignen monarchischen Willens oder des Einflusses sind, welchen die verschiedenartigsten Persönlichkeiten männlichen und weiblichen Geschlechts, Adjutanten, Höflinge und politische Intriguanten, Schmeichler, Schwätzer und Ohrenbläser auf den Monarchen geübt haben. Die Allerhöchste Unterschrift deckt schließlich Alles; wie sie erreicht worden ist, erfährt kein Mensch. Dem jedesmaligen Minister die Verantwortlichkeit für das Geschehene aufzuerlegen, ist für monarchische Auffassungen der nächstliegende Ausweg. Aber selbst wenn die Form des Absolutismus der Form der Verfassung Platz gemacht hat, ist die sogenannte Ministerverantwortlichkeit keine von dem Willen des unverantwortlichen Monarchen unabhängige. Gewiß kann ein Minister abgehen, wenn er die königliche Unterschrift für das, was er für nothwendig hält, nicht erlangen kann; aber er übernimmt durch sein Abtreten die Verantwortlichkeit für die Consequenzen desselben, die vielleicht auf andren Gebieten viel tiefgreifender sind als auf dem gerade streitigen.

Er ist außerdem durch die collegiale Form des Staatsministeriums mit ihren Majoritätsabstimmungen zu Compromissen und zu Nachgiebigkeit seinen Collegen gegenüber nach der preußischen Ministerverfassung täglich genöthigt. Eine wirkliche Verantwortlichkeit in der großen Politik aber kann nur ein einzelner leitender Minister, niemals ein anonymes Collegium mit Majoritätsabstimmung leisten. Die Entscheidung über Wege und Abwege liegt oft in minimalen, aber einschneidenden Wendungen, zuweilen schon in der Tonart und der Wahl der Ausdrücke eines internationalen Actenstückes. Schon bei geringer Abweichung von der richtigen Linie wächst die Entfernung von derselben oft so rapide, daß der verlassene Strang nicht wieder erreicht werden kann und die Umkehr bis zu dem Gabelpunkt, wo er verlassen wurde, unausführbar ist. Das übliche Amtsgeheimniß deckt die Umstände, unter welchen eine Entgleisung stattgefunden hat, Menschenalter hindurch, und das Ergebniß der Unklarheit, in welcher der pragmatische Zusammenhang der Dinge bleibt, erzeugt bei leitenden Ministern, wie das bei manchen meiner Vorgänger der Fall war, Gleichgültigkeit gegen die sachliche Seite der Geschäfte, sobald die formale durch königliche Unterschrift bezw. parlamentarische Vota gedeckt erschien. Bei Andern wieder führt der Kampf zwischen dem[214] eignen Ehrgefühl und der Verstrickung der Competenzverhältnisse zu tödtlichen Nervenfiebern, wie bei dem Grafen Brandenburg, oder zu Symptomen von Geistesstörung, wie in einigen früheren Fällen.

Es ist schwer zu sagen, wie die Verantwortlichkeit für unsre Politik während der Regierung Friedrich Wilhelms IV. mit Gerechtigkeit zu vertheilen sei. Rein menschlich gesprochen, wird sie in der Hauptsache auf dem Könige selbst beruhen bleiben, denn er hat überlegene, ihn und die Geschäfte leitende Rathgeber zu keiner Zeit gehabt. Er behielt sich die Auswahl unter den Rathschlägen nicht nur jedes einzelnen Ministers, sondern auch unter den viel zahlreicheren vor, welche ihm von mehr oder weniger geistreichen Adjutanten, Cabinetsräthen, Gelehrten (und) unehrlichen Strebern und ehrlichen Phantasten und Höflingen vorgetragen wurden. Und diese Auswahl behielt er sich oft lange vor. Es ist oft weniger schädlich, etwas Unrichtiges als nichts zu thun. Ich habe nie den Muth gehabt, die Gelegenheiten, welche mir dieser persönlich so liebenswürdige Herr mehrmals, zuweilen scharf und beinahe zwingend, in den Jahren 1852 bis 1856 geboten hat, sein Minister zu werden, zu benutzen bezw. ihre Verwirklichung zu fördern. Wie er mich betrachtete, hätte ich ihm gegenüber keine Autorität gehabt, und seine reiche Phantasie war flügellahm, sobald sie sich auf dem Gebiete praktischer Entschlüsse geltend machen sollte. Mir fehlte die schmiegsame Gefügigkeit zur Uebernahme und ministeriellen Vertretung von politischen Richtungen, an die ich nicht glaubte, oder für deren Durchführung ich dem Könige den Entschluß und die Consequenz nicht zutraute. Er unterhielt und förderte die Elemente des Zwiespalts zwischen seinen einzelnen Ministern; und die Frictionen zwischen Manteuffel, Bodelschwingh und Heydt, die in triangularem Kampfe mit einander standen, waren dem Könige angenehm und ein politisches Hülfsmittel in kleinen Detail-Gefechten zwischen königlichem und ministeriellem Einfluß. Manteuffel hat mit vollem Bewußtsein die Camarilla-Thätigkeit von Gerlach, Rauch, Niebuhr, Bunsen, Edwin Manteuffel geduldet; er trieb seine Politik mehr defensiv als im Hinblick auf bestimmte Ziele, fortwurstelnd, wie Graf Taaffe sagt, und beruhigt, wenn er durch allerhöchste Unterschrift gedeckt war; doch hat der reine Absolutismus ohne Parlament immer noch das Gute, daß ihm ein Gefühl der Verantwortlichkeit für eigne Thaten bleibt. Gefährlicher ist der durch gefügige Parlamente unterstützte, der keiner andern Rechtfertigung als der Verweisung auf Zustimmung der Majorität bedarf.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 213-215.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen 3 Bände in einem Band.
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen