[393] Und es will Abend werden.
Ich sitze an einem schönen Herbsttage im Jahre des Heils 1893 vor dem offenen Fenster im westlichen Flügel eines stattlichen langgedehnten Holzbaues. Balsamische Lüfte strömen in mein Zimmer hinein. Das melodische Geläute zurückkehrenden Viehes unterbricht allein die heilige Stille, die in[393] der ganzen Umgebung des Gebäudes herrscht. Die Sonne neigt sich zu Rüste und vergoldet mit ihren flammenden Strahlen die Kronen dunkelgrüner Fichten und Tannen, die hinter dem Hause, vom Rande einer Wiese aus, wie ein Wald über dem Walde bis zu dem Gipfel des »Wurmberges« emporsteigen. Linker Hand thronen über dem Waldgebirge die Felskegel der beiden »Schnarcher«, Goetheschen Angedenkens, während ihnen gegenüber, nach Norden zu, die Bergstraße am Fuße der steinigen Lichtung hinter dem Dorfe Schierke, an der kleinen Kirche vorüber, ihre Schlangenlinie bis zum Brocken hinauf windet.
Das Brockenhaus und der neue Aussichtsturm zeigen sich von hier aus in vollster Klarheit den Blicken des vorüberziehenden Wanderers, während zu seinen Füßen, am Anfang der Thalmulde, das hölzerne Bauwerk im einfachen aber geschmackvollen Stile und in anmutiger Gestalt sich von dem grünen Hintergrunde abhebt. Das ist die Villa Hermann Grusons, die mir ihre Pforten, mit der sinnvollen Überschrift: »Grüß Gott, tritt ein, bring' Glück herein!« auf immer gastlich geöffnet hat.
Mein edler Freund, dessen Namen ich eben erwähnt habe, entbehrt leicht der Ruhmesmeldung aus meiner Feder. In der Heimat wie im Auslande wird der Erfinder des Hartstahlgusses, der zum Schutz und Trutz des deutschen Vaterlandes das starre Eisen seinem Willen unterthan gemacht hat, in verdientem Maße gefeiert. Zurückgezogen von dem lärmenden Treiben der großen Welt und an der Seite einer geliebten Frau, – beide großmütige Wohlthäter der duldenden und leidenden Menschheit da draußen, – sucht Gruson in der idyllischen Waldeinsamkeit die erforderliche Zeit zur stillen Arbeit des Gedankens zu gewinnen. Begeistert für die bunten Kinder der mütterlichen Erde, denen er in Buckau neben der[394] arbeitsamen Stätte des Grusonwerkes eine Reihe stolzer Glashäuser errichtet hat, durchstreift er sein grünes Revier am Fuße des Brockens mit der Lust und Freude des pflanzenkundigen Jägersmannes, das Auge gleichzeitig nach dem Himmel gerichtet, dessen Lichtwunder zu enträtseln schon lange eine Hauptaufgabe seines Daseins geworden ist. Die glühend flüssigen Eisenmassen in den Pfannen seiner Werkstätten hoben ihn wie mit Zaubermacht zur Sonne empor, dem Urquell aller Wärme und alles Lichtes.
Im Februar des Jahres 1892 begegneten wir uns beide auf ägyptischer Erde wieder, als habe das Schicksal es also beschlossen gehabt, nach 53jähriger Trennungszeit. Längst Vergangenes und beinahe schon Vergessenes gewann frische Gestalt und neues Leben. Der Jüngling Gruson – ich habe ihn in den Anfangskapiteln geschildert – sah den Knaben Heinrich wieder vor sich stehen, und wie der Dichter singt, so geschah es in Wirklichkeit:
»In den Armen lagen sich beide
Und weinten vor Lust und vor Freude.«
Hatte auch Neigung und Beruf unsere Lebenswege nach entgegengesetzten Richtungen hin getrennt, unser Streben war auf dasselbe Ziel gerichtet: auf Wahrheit und Klarheit, auf das Gute in seiner vollkommensten Gestalt, trotz Typhon und seiner Gesellen.
Als Zweiundsiebziger voller Jugendkraft und Jugendfeuer hatte Gruson die Reise nach Ägypten unternommen, um die wunderbaren Erscheinungen der Dreiecksform des Tierkreislichtes an dem reinen Himmel über dem Nilthale einer näheren Prüfung zu unterziehen. Nach seiner mehr als nur wahrscheinlichen Auffassung entsteht das merkwürdige Lichtgebilde durch die Spiegelung der ersten Strahlen der Morgensonne im Osten und im Westen durch die letzten Strahlen der Abendsonne[395] auf der irdischen Atmosphäre je nach ihrem von der Anziehung der Sonne und des Mondes abhängigen Höhenstande. Seine Vermutung von dem abbildlichen Vorkommen dieses Lichtdreiecks auf den altägyptischen Denkmälern ward vollinhaltlich durch meine eigenen Untersuchungen bestätigt, nachdem ich denselben das vergangene letzte Jahr meiner Lebenszeit gewidmet hatte. Grusons jüngst erschienenes Werk: »Im Reiche des Lichtes«, in einer klaren, edlen, jedem Laien verständlichen Sprache niedergeschrieben, enthält zugleich meine ersten bescheidenen Beiträge darüber und damit den Dank des einstigen Schülers an seinen großen Meister.
Die Gemeinsamkeit der Untersuchungen über das rätselhafte Lichtgebilde, die Uraltes mit dem Neuesten verknüpften und auf verschiedene Wege zu denselben Ergebnissen führten, wurde zum festen Kitt eines unauflöslichen Bundes.
Ich ward fortan zu einem lieben Mitgliede seines Hauses, über dessen Pforte mein Auge die unsichtbaren Worte liest: »Hier wohnt das Glück!«
Ja, es will Abend werden, aber die dunkelen Wolken im Westen vergoldet das glühende Rot einer Freundschaft, die beim Morgenschimmer der Jugend ihre ersten Wurzeln schlug.
Der Glanz der Abendsonne am Harz versöhnt mich mit allem, was ich Schweres im Leben erduldet habe. Sie giebt mir den verlorenen Mut zurück, die fast gebrochene Kraft aufs neue für Licht und Wahrheit einzusetzen, so lange es eben Gott gefällt.[396]
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