Preußens Erhaltung nach der Niederlage von Kunersdorf.

[415] Man sieht den Siebenjährigen Krieg immer fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Taten und der Strategie König Friedrichs an. Man kann aber gerade umgekehrt sagen: das eigentliche Grundproblem des Krieges sei: wie war es möglich, daß Friedrich die Niederlage von Kunersdorf überstand? Mit der Antwort, daß es die Unfähigkeit und Uneinigkeit die »divine ânerie« seiner Gegner gewesen sei, die ihn gerettet habe, ist die Frage nicht erledigt. So absolut unfähig waren Soltikoff und Daun doch keineswegs, daß sie für ihr Verhalten nicht Gründe gehabt hätten, und diese Gründe gilt es zu verstehn.

König Friedrich erwartete, und nach modernen Begriffen erscheint es selbstverständlich, daß die vereinigten Gegner ihn nach ihrem Siege verfolgten, angriffen, sein Heer vernichteten, Berlin nahmen und so dem Kriege ein Ende machten. So verlangte es auch der Wiener Hofkriegsrat. Dann wurde geschrieben, er solle die geschlagene Armee nicht mehr aus den Augen und Händen lassen, sondern mit aller Vigueur auf selbe losgehen und sie gänzlich vernichten.

Trotz der schweren Niederlage, die die Preußen erlitten hatten, war aber die Erfüllung dieser Aufgabe keineswegs so leicht und so selbstverständlich. Friedrichs eigenes Zeugnis ist dafür noch nicht maßgebend. Ist es auch richtig, daß er glaubte, alles sei verloren, abdanken wollte und den Oberbefehl an den General Finck übergab, so war er eben eine viel impressionablere Natur als etwa Napoleon, und die subjektiven Eindrücke des von dem furchtbaren Schlage Betäubten dürfen nicht als objektive Maßstäbe für die Beurteilung der Lage und der Maßregeln der Gegner behandelt werden.

Das preußische Heer auf dem Schlachtfelde von Kunersdorf war gegen 50000 Mann stark gewesen, und wenn der König auch am Abend der Schlacht nur 10000 Mann um sich hatte, so war doch schließlich die größere Hälfte gerettet und der Verlust beschränkte[415] sich hart genug, auf 19000 Mann und die Artillerie. Außer diesen Truppen hatte der König noch zwei Armeen unter Prinz Heinrich und Fouqué und kleinere Detachements im Felde, im ganzen gegen 70000 Mann. Trotz der furchtbaren Niederlage und des schweren Verlustes waren also immer noch sehr starke, manövrier- und kampffähige Truppen auf den Beinen. Eine unmittelbare Verfolgung nach der Schlacht hatte nicht stattgefunden, so daß die Versprengten sich in den nächsten Tagen sechs Meilen vom Schlachtfelde, bei Fürstenwalde wieder zusammenfanden. Das ist nichts Unnatürliches, da, wie wir wissen, Verfolgungen zu allen Zeiten etwas sehr schweres gewesen sind, damals auch bei den Preußen nur unbedeutend waren und die Russen und Österreicher bei Kunersdorf selber sehr herbe Verluste gehabt hatten451 (17000 Mann).

Nahm man nun nach Ablauf einer gewissen Frist die Operationen wieder auf, so mußte man den König in seiner Stellung hinter der Spree angreifen und hatte dabei die Armee des Prinzen Heinrich in der Lausitz hinter sich. Unzweifelhaft war das bei der großen Überlegenheit der vereinigten russisch-österreichischen Heere ausführbar, aber nur wenn die beiden Feldherren einmütig und entschlossen zusammenwirkten. Ein solches Zusammenwirken ist bei Bundesgenossen erfahrungsmäßig sehr schwierig; nicht nur haben die Generale verschiedene Ansichten, sondern hinter diesen verschiedenen Ansichten stehen auch große verschiedene Interessen. Für die Russen war der Krieg gegen den König von Preußen ein reiner Kabinettskrieg, in dem sie keine innere Anteilnahme vorwärtstrieb, unbegrenzte Gefahren und Verluste auf sich zu nehmen. Sie wollten sich nicht für die Österreicher aufopfern. Eine Angriffsschlacht gegen König Friedrich blieb immer ein Wagnis.

Soltikoff tat den merkwürdigen Ausspruch, er wolle nichts mehr aufs Spiel setzen (Generalstabswerk XI, 82), oder gar, er[416] wolle nichts mehr mit dem Feinde zu tun haben (Generalstabswerk X, 305). Die Russen waren von ihren beiden Siegen bei Kay und Kunersdorf so verbraucht, daß ihre moralische Spannkraft zu großen Aktionen nicht mehr hinreichte, und wenn sie nicht mitmachten, so waren die Österreicher allein zwar immer noch in der Übermacht, aber doch nicht stark genug, um fortgesetzte Offensiv-Operationen nicht recht gefährlich erscheinen zu lassen. Dann blieb also nur seinem Charakter und seinen Grundsätzen getreu, wenn er von der Idee, dem Kriege nunmehr mit schnellen, schweren Schlägen ein Ende zu machen, von vornherein absah. Zwar ist der Gedanke, den König oder den Prinzen Heinrich anzugreifen, oder auf Berlin vorzugehen, mehrfach erwogen wor den, aber man sah endlich von allen solchen Verwegenheiten wieder ab. Auch die Einnahme von Berlin würde keinen wirklichen Gewinn bedeuten, erklärte der österreichische Feldherr, da man in der ausgesogenen Mark keine Winterquartiere beziehen könne. Die beiden Feldherren einigten sich also dahin, zunächst abzuwarten, daß die Reichsarmee das von den Preußen verlassene Sachsen besetze und Dresden erobere (was auch gelang), und dann die Frucht des großen Sieges darin zu suchen, daß man in Schlesien Winterquartier nehme.

Die Idee, den Sieg von Kunersdorf bis zur völligen Niederwerfung Preußens auszunutzen, muß angesehen werden als ein Parallelismus zu jener anderen Vorstellung, daß König Friedrich auch die Armee des Prinzen Heinrich zu dem Angriff auf die Russen hätte heranziehen sollen. Das eine wie das andere liegt nicht in dem Rahmen der Verhältnisse und der Gedanken der Epoche. Wer das eine nicht von Friedrich verlangt, darf auch das andere nicht von Daun verlangen. Beide taten nichts Unbegreifliches, sondern handelten gemäß ihren, uns auch sonst bekannten Grundsätzen. Bei Kundersdorf war nicht das preußische Heer, sondern nur die Hälfte des preußischen Heeres geschlagen worden. Wenn es nunmehr gelang, diesen Sieg dahin auszunutzen, daß Sachsen und Schlesien in der Hand der Verbündeten blieben, so hatten sie etwas sehr Großes erreicht und konnten annehmen, daß der nächste Feldzug Preußen in die Knie zwingen würde.

Der Plan konnte nicht zur Ausführung gebracht werden, weil die Verbündeten unter sich nicht einig waren und König Friedrich[417] die Kräfte, die ihm geblieben waren, so kühn und tatkräftig in Anwendung brachte, daß die Gegner endlich, mit Ausnahme von Dresden, daß sie festhielten, in dieselben Winterquartiere zurückgingen, die sie das Jahr vorher inne gehabt hatten. Die modernen Theoretiker, ohne Verständnis für das Wesen der doppelpoligen Strategie, pflegen mit Geringschätzung von den Manövern zu sprechen. Man studiere, wie Preußen nach der Niederlage von Hochkirch, wie nach der Niederlage von Kunersdorf durch Manöver gerettet worden ist. Als drei Wochen nach der Schlacht es wirklich so weit war, daß die Österreicher und Russen sich gegen die Rest-Armee des Königs und gegen Berlin wenden wollten, da griff Prinz Heinrich sie nicht etwa von Süden her im Rücken an, sondern marschierte im Gegenteil noch weiter vom Feinde weg nach Süden, um sich auf seine Verbindungen zu werfen und seine Magazine zu nehmen. Sofort kehrte Daun um, gab den Plan auf Berlin auf, und Russen und Österreicher waren wieder weit voneinander getrennt.

Als nun der Plan mit Schlesien ins Werk gesetzt werden sollte, war die österreichische Hauptarmee in Sachsen. Um in Schlesien bleiben zu können, hätten die Russen zum wenigsten Glogau nehmen müssen, aber ehe sie vor der Festung erschienen, war ihnen der König mit Gewaltmärschen zuvorgekommen und stand so, daß sie ihn erst hätten angreifen und fortschlagen müssen, um an die Belagerung gehen zu können. Trotz ihrer großen Überlegenheit (Loudon war noch immer bei ihnen) hatten sie zu einer Offensivschlacht keine Neigung, um so weniger, als der ganze Plan, Schlesien einzunehmen, von Anfang an nur widerwillig von ihnen aufgenommen war. Schlesien war ihnen von ihrer Basis an der unteren Weichsel und in Ostpreußen zu weit entfernt. Die Österreicher suchten sie hierherzuziehen, nicht sowohl, weil sie grade diese Provinz im Frieden zu erwerben wünschten, als wie sie ihnen für ihre Operationen am nächsten lag, am bequemsten war und ungefährdete Verbindungen bot. Die Russen aber fanden es als eine ungehörige Zumutung, daß sie eine Bewegung machen sollten, die nicht nur sehr weit war, sondern auch dem Flankenangriff von der Mark und von Pommern aus ausgesetzt war; selbst Ostpreußen könne ihnen verloren gehn, meinten sie, wenn sie sich so weit entfernten452. So[418] hat Soltikoff den Vorschlag der Österreicher, Glogau zu belagern, von vorn herein nicht ernsthaft aufgenommen, und wenn König Friedrich schließlich nicht noch die Unvorsichtigkeit mit der Entsendung Fincks in den Rücken der Österreicher begangen hätte, was mit dessen Kapitulation bei Maxen endete, so wäre die Niederlage von Kunersdorf so gut wie spurlos ausgetilgt worden453.

In ernster Selbstprüfung ging der König im Herbst 1759 mit sich zu Rate, ob er mit seiner Neigung zu Schlachtentscheidungen auf dem rechten Wege sei. Er reflektierte über das Schicksal des Schwedenkönigs Karl XII. und schrieb jene schon angezogenen Betrachtungen über ihn nieder, worin er sagt, der König habe bei mancher Gelegenheit sparsamer mit Menschenblut sein können. »Es gibt allerdings Lagen, wo man sich schlagen muß; man soll sich aber nur dann darauf einlassen, wenn der Feind, sei es beim Lagern, sei es beim Marsche, nachlässig ist oder wenn man ihn durch einen entscheidenden Schlag zwingen kann, den Frieden anzunehmen. Es steht übrigens fest, daß die meisten Generale, welche sich leicht auf eine Schlacht einlassen, nur deshalb zu diesen Auskunftsmittel greifen, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Weit davon entfernt, dieses ihnen als Verdienst anzurechnen, sieht man es vielmehr als ein Zeichen von Mangel an Genie an.« Tapferkeit sei nichts ohne Klugheit und auf die Dauer trage ein berechnender Geist über verwegene Kühnheit den Sieg davon.

So hat Friedrich von jetzt an davon abgesehen, sich mit den Russen zu schlagen, auch wenn ihm eine sehr günstige Gelegenheit geboten werde. Er vertiefte sich darauf, bei den Österreichern nach einer Blöße zu spüren, hat ihnen aber, wenn man genau zusieht, nach Leuthen in den weiteren fünf Kriegsjahren nur noch eine wirkliche Hauptschlacht geliefert, Torgau. Vorher bei Liegnitz ging die Initiative nicht von ihm, sondern von den Gegnern aus.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 4, S. 415-419.
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