Vorwort.

[7] Der jüdische Stamm hatte trotz seiner staatlosen Existenz und atomistischen Zerstreuung eine organische Geschlossenheit und Einheit behauptet und in den drei Jahrhunderten von Saadia, dem ersten mittelalterlichen Religionsphilosophen, bis auf Maimuni, den großen Gedankenwecker, eine Höhe geistiger Freiheit sowie wissenschaftlicher und poetischer Fruchtbarkeit erklommen, die vergessen macht, daß diese Erscheinung im Mittelalter auftrat. Auf diese reiche geistige Erntezeit folgt ein eiskalter, schauriger Winter. Innere und äußere Vorgänge bieten einander die Hand, die jüdische Geschichte ihrer bisherigen Großartigkeit zu entkleiden und ihrem Träger, dem jüdischen Volke, eine abschreckende Knechtsgestalt aufzudrücken. Es sank von der himmelanstrebenden Höhe in das tiefste Elend.

Vermag ein Sohn der Gegenwart sich eine volle Vorstellung von den Leiden dieses Volkes zu machen, die es von der Zeit an erduldete, als das Papsttum und seine irregeleitete Herde von Fürsten und Völkern ihm den Schandfleck anhefteten, damit jeder grinsende Mund es anspeien, und jede Faust sich gegen es zum Schlage ballen sollte, bis zur Vertreibung der Juden aus der pyrenäischen Halbinsel und noch darüber hinaus, bis das Morgenrot der Völkerfreiheit auch ihm aufging? Nehmet allen Jammer zusammen, den weltliche und geistliche Despotie mit ihren Henkersknechten einzelnen und Nationen zugefügt haben; messet, wenn ihr's könnt, die Tränenströme, welche Menschen je über verkümmerte Existenz, über zertretenes Glück, über fehlgeschlagene Hoffnung vergossen haben; vergegenwärtigt euch die Martern, welche eine überreizte Phantasie in den tausend und aber tausend Heiligenlegenden zum Seelenschauer [7] der Gläubigen ausgemalt hat, ihr erreicht noch nicht den ganzen Umfang des Elends, welches das Märtyrervolk mehrere Jahrhunderte hindurch still, mit flehentlicher Duldermiene erfahren hat. Als wenn sich alle Mächte der Erde verschworen hätten – und sie hatten sich wirklich dazu verschworen – den jüdischen Stamm aus dem Kreise der Menschen zu vertilgen oder ihn in eine vertierte Horde zu verwandeln, so haben sie ihm zugesetzt. Zu den Wunden, den Faustschlägen, den Fußtritten, den Scheiterhaufen kam noch der Hohn hinzu. Und dieselben, welche Schmach und Tod über Israel verhängten und es in den Straßenkot schleiften, erkannten seinen hohen Ursprung an, verherrlichten seine Vergangenheit, stellten seine Propheten und Gottesmänner neben ihre »Heiligen«, sangen seine Lieder in ihren Gotteshäusern, schöpften aus seiner Lehre Erfrischung und Trost, eigneten sich aber alle diese Herrlichkeiten an, als wenn es ihr Ureigentum wäre. Sie rissen dem jüdischen Volke die Krone vom Haupte, setzten sie sich auf und beerbten den Lebendigen. Diese Jammerszenen darf die Geschichte nicht verschweigen, muß sie vielmehr vorführen und veranschaulichen, nicht um den Enkeln der gehetzten Schlachtopfer einen Stachel in die Brust zu senken und die Rachegeister wachzurufen, sondern um für die Duldergröße dieses Volkes Bewunderung zu erwecken und die Tatsache zu bezeugen, daß es, wie sein Urahn, mit Göttern und Menschen kämpfte und Sieger blieb.

Hand in Hand mit dieser Entwürdigung und Knechtung ging die geistige Verkümmerung. Die prangenden Blätter und Blüten eines herrlichen Geistesaufschwunges fielen nach und nach zu Boden und ließen einen rauhen, rissigen Stumpf zum Vorschein kommen, umsponnen von häßlichen Fäden einer entgeistigten Überfrömmigkeit, einer sinnverwirrenden Geheimlehre und von Auswüchsen aller Art. Die sprudelnde Springquelle weiser Gedanken und tiefempfundener Lieder versiegte allmählich, der lustig hüpfende Herzschlag einer erhöhten Stimmung ermattete; Gedrücktheit und Dumpfheit des Geistes stellten sich ein. Persönlichkeiten von bestimmender und tonangebender Bedeutung und von Gewicht verschwanden, als hätte sich die geschichtliche Zeugungskraft in den Jahrhunderten von Saadia bis Maimuni in Hervorbringung von Größen erschöpft. Statt der Schöpferkraft, die neue originelle Geisteserzeugnisse ins Leben ruft, wird immer mehr der Trieb vorherrschend, das Vorhandene zu erhalten und zu pflegen. Die Gedankenlosigkeit nimmt zu, und die Denker, welche in der nachmaimunischen Zeit hin und [8] wieder auftauchen, schlagen selten einen eigenen Weg ein, sondern klammern sich an das Gegebene an oder geraten in falsche Bahnen. Die Wissenschaft behält zwar noch lange Zeit innerhalb der Judenheit ihre Priester und Pfleger, aber sie sinkt allmählich zum bloßen Handwerk herab. Die Zahl der Übersetzungen und Auslegungen der bereits vorhandenen Literatur übersteigt bei weitem die selbständigen Erzeugnisse. Der Schmach von außen entspricht der Verfall im Inneren.

So eintönig auch der Geschichtsverlauf in der Zeitperiode vom Tode Maimunis bis zur Wiederverjüngung des jüdischen Stammes ist, so ist doch in ihr eine Art Fortschritt zu erkennen. Die äußere Geschichte beginnt mit der systematischen Erniedrigung der Juden, mit der konsequenten Durchführung ihrer Ausschließung von allen Ehrenbahnen und aus der christlichen Gesellschaft. Die Entehrung steigert sich bis zur allgemeinen Judenmetzelei infolge des schwarzen Todes. Zu den alten Lügen wird eine neue hinzugefügt, von der Brunnen- und Luftvergiftung, welche die Juden zum Gegenstande des allgemeinen Abscheues machte. Und das Schlußakt zu diesem Schauerdrama bereitet sich vor die Verbannung der Juden aus der pyrenäischen Halbinsel, ihrem dritten Vaterlande nächst Judäa und Babylonien.

Die innere Verkümmerung nahm ebenfalls einen stufenmäßigen Gang. Sie beginnt mit dem Kampfe der Buchstabengläubigkeit gegen die philosophische Klärung des Judentums, schreitet fort bis zur Ächtung jeder Wissenschaft von seiten der gedankenlosen Rechtgläubigkeit und der kabbalistischen Geheimlehre und spitzt sich in die Ausprägung der alleinseligmachenden Unwissenheit zu. So werden schöpferische Gedanken, die sonst im Judentum ihre Geburtsstätte hatten oder aufmerksame Pflege fanden, aus diesem Kreise gebannt. Freie Denker, wie Gersonides, Narboni, Chasdaï Crescas und Elia del Medigo werden immer seltener und kommen in den Geruch der Ketzerei. Selbst die verflachende Richtung der Albos und Abrabanels, die sich dem Bestehenden in aller seiner Entartung anschließen und ihm das Wort reden, wird nicht gern gesehen. Das Bibelwort verliert seine erfrischende und hebende Kraft, weil es durch die eingewurzelte Verkehrtheit des Geistes nicht die Wahrheit, sondern den Irrtum widerspiegelt und bestätigt. Wäre nicht der Talmud für sämtliche Juden in Ost und West, in Süd und Nord das heilige Banner gewesen, um das sich alle scharten, so wären sie dem Geschicke verfallen, das ihre Feinde ihnen zugedacht hatten; [9] der Talmud schützte sie vor geistiger Stumpfheit und sittlicher Verkommenheit.

Diese Periode der rückläufigen Bewegung zur Unkultur und des allmählichen Verfalls in der jüdischen Geschichte zerfällt in drei Epochen:

Erste Epoche: Von Maimunis Tod bis zum Beginne der systematischen Erniedrigung der Juden in Spanien, 1205-1370.

Zweite Epoche: Von dieser Zeit bis zur Vertreibung der Juden aus der pyrenäischen Halbinsel samt ihren Nachwehen, 1370-1496.

Dritte Epoche: Von dieser Zeit bis Mendelssohn oder bis zum Beginne der Emanzipation und der Wiederverjüngung der Juden, 1496 bis 1750.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1897], Band 7, S. VII7-X10.
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