16. Schemaja und Abtalion.

[711] Der alte Irrtum, daß die beiden Synhedristen Schemaja und Abtalion Proselyten gewesen, beruht sicherlich auf der falschen Auffassung einer Äußerung, deren sich ein Späterer, Akabia b. Mahalalel, in bezug auf dieselben erlaubt hat. Als man seiner Tradition »einer Freigelassenen nicht das Bitterwasser [711] der Eifersucht zu reichen« das Beispiel der beiden Synhedristen entgegenhielt, welche eine Freigelassene wie eine freie behandelt haben, entgegnete Akabia הוקשה אמכוד (so die L.-A. in Jeruschalmi Moed katon p. 81). Die Erklärung des Wortes אמכוד gibt Jeruschalmi durch היתוכד wieder. Die richtige Erklärung gibt aber R. Hai Gaon (bei Aruch םגד), welcher dem griechischen Worte den richtigen griechischen Sinn vindiziert: המכוד = δόκƞμᾳ »zum Schein«: sie haben der Freigelassenen einen Schein des vorgeschriebenen Wassers zum Trinken gereicht, um sie zum Geständnis zu bringen. Die spätern Kommentatoren, welche es durch »ihresgleichen« erklären, fehlen gegen den Wortsinn. Hat also dieser Ausspruch nicht die entehrende Bedeutung, so hat man keinen vollgültigen Beweis von dem Proselytentum des Schemaja und Abtalion. Im Gegenteil, ihre Synhedrialwürde, ein Amt, wozu Proselyten am wenigsten zugelassen worden wären, spricht entschieden dagegen. Viele haben sich bereits daran gestoßen (vergl. Seder ha-Dorot, Artikel היעמש). Daß sie aber Ägypter waren, scheint daraus hervorzugehen, daß sich ihr Jünger Hillel auffallenderweise des Ausdrucks ןיה bedient hat (anstatt drei Kab), weil er die Halacha wörtlich wiedergeben wollte, wie er sie von seinen Lehrern Schemaja und Abtalion vernommen: הוקמה תא ןילסופ םיבואש םימ אלמ ןיה ובר ןושלב רמול םדא בייחש אלא (Edijot I, 3. Vergl. Abraham b. Davids einzig richtige Erklärung; Maimunis dagegen ist höchst gezwungen). Das Auffallende daran, warum Schemaja und Abtalion gerade das Maß ןיה angewendet haben, erledigt sich durch die Erwägung, daß gerade dieses Maß = ἴνιον ägyptisch ist (vergl. Boeckh, metrologische Untersuchungen, S. 244) Daher die LXX das biblische ןיה stets wörtlich durch εἴν, ἴν oder ὕν wiedergibt. Schemaja und sein Genosse scheinen demnach Alexandriner gewesen zu sein, oder mindestens in Alexandrien gelebt zu haben. In Palästina war zu ihrer Zeit das Hin nicht mehr im Gebrauche. Die nur in der Haggada angetroffene Nachricht, da Schemaja und Abtalion Proselyten gewesen seien, beruht demnach auf sehr schwachem Grunde. Auch die Stelle (Joma 71 b), wo sie Heiden (ןיממע ינב) genannt werden, scheint der falschen Annahme zu Liebe entstanden zu sein; ursprünglich mag sie anders gelautet haben. Selbst zugegeben aber, daß sie, weil [obwohl?] von Proselyten abstammend, in das Synhedrion gewählt werden durften, ist es nicht auffallend, daß zu einer und derselben Zeit zwei Abkömmlinge von Proselyten an der Spitze desselben gestanden haben sollten? Man kann die Quellenangaben vielleicht dahin ausgleichen, daß einer von beiden von Heiden abstammte, und zwar ןוילטבא, dessen Name, so wie der dafür von Josephus gegebene Πολλίων doch jedenfalls fremd und griechisch klingt. Weil aber sein Genosse nicht in Palästina geboren war, mag ein König (w.u.) sie als ןיממע ינב, als nicht ebenbürtige Israeliten, verhöhnt haben.

Es bleibt noch übrig das Verhältnis von Schemaja und Abtalion zu den von Josephus namhaft gemachten Pharisäern Σαμαίας und Πολλίων (Altert. XIV, 9, 4; XV, 1, 1 und das. 10, 4) auseinanderzusetzen. So gewiß wie an der letzten Stelle lediglich von Hillel und Schammaï die Rede sein kann, so gewiß ist an den beiden ersteren Stellen Schemaja und Abtalion zu verstehen. Der chronologische Kanon, daß Hillel ein Jahrhundert vor der Tempelzerstörung das Synhedrialpräsidium übernommen hat, also um 30, darf nicht angetastet werden, ebensowenig wie die Reihe seiner drei Nachfolger: Simon I., Gamaliel I. (ןקזה) und Simon II., der in dem Kriege gegen die Römer unter Nero tätig war. Josephus, der seine Schriften in Rom verfaßte, fern von dem Umgange mit den die Tradition bewahrenden Männern, hat die Meister [712] mit den Jüngern vewechselt, aber doch noch eine schwache Erinnerung behalten, daß Samäas, d. h Schammaï, ein Schüler Pollions, d.h. Abtalions, gewesen sei. Der Gleichklang von היעמש und יאמש hat ihn zu dem Irrtum verleitet. Die Identität des Σαμαίας an der ersten und zweiten Stelle des Josephus gibt er selbst an der zweiten an. Also Schemaja und Abtalion sind unter Herodes von der Proskription verschont geblieben, obwohl der erstere sich früher gegen ihn ausgesprochen hatte, weil beide den Jerusalemern geraten hatten, ihm die Tore zu öffnen. Die Nachricht von Herodes' Prozeß wegen willkürlicher Hinrichtung des Ezekia hat der Talmud ebenfalls erhalten (Sanhedrin 19 a); nur muß statt חטש ןב ןיעמש gelesen werden היעמש. Weil Simon b. Schetach unter Jannai lebte und bei diesem Vorfall von Jannai die Rede ist, haben die Tradenten oder Kopisten Schemaja mit Simon verwechselt. Aber unter diesem Jannai ist nicht Alexander, sondern Hyrkan II. zu verstehen. Die Babylonier haben auch die herodianischen Könige Jannai genannt (vergl. Pessachim 57 a), wo keineswegs von den Hasmonäern die Rede sein kann, da diese selbst Hohepriester waren, sondern wohl von Agrippa I. Vergl. das. p. 87.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 711-713.
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